Einundzwanzig
Erica war kaum eine Stunde wieder zu Hause, als sie in Opals Tür trat und sagte: »Komm in mein Zimmer.«
Mein Zimmer. Wie mühelos sie sich ihr Territorium zurückerobern konnte, ohne auch nur einen Finger zu rühren: Das Bett war frisch bezogen, die Schubladen in der Kommode warteten förmlich darauf, mit Kleidung befüllt zu werden. Alles war in Schuss gehalten worden – sie musste nur auftauchen, schon hatte sie es zurück. Obwohl Erica die Wohnung vermutlich hasste, machte sie es sich darin bereits wieder gemütlich und lief barfuß über den dicken, beigen Teppichboden.
Während Opal ihr folgte, dachte sie daran, wie aufregend solche Einladungen früher gewesen waren. Jetzt war ihr mulmig zumute, als ihre Schwester die Zimmertür aufstieß. Im Bett nahmen sie ihre alten Plätze ein, die eine am Kopf-, die andere am Fußende, und plötzlich kam ihr der Gedanke, dass sie nur eine Gemeinsamkeit hatten, nämlich dass ihre Mutter sterben würde.
Sie lehnte die Schultern an das vertraute geschwungene Holz. Gleich würden sie die Einzelheiten erörtern. Gleich würde besprochen werden, wie niederschmetternd das alles war, wie unerwartet es Dottie getroffen hatte, und vielleicht würde sie zu weinen beginnen. Dann würde Erica peinlich berührt zu ihr hinüberrutschen und sie mit kleinen Klapsen ihrer dicken Bärentatze zu trösten versuchen.
Stattdessen sagte Erica: »Wir müssen etwas unternehmen.«
»Und was?« Opal sah sie teilnahmslos an.
»Wir müssen ihr Gründe liefern.«
Ericas Augen unter der wilden Mähne waren schmal vor Entschlossenheit. Dass ihre Schwester die Regie übernahm, war Opal neu. Das hatte es seit vielen Jahren nicht gegeben; zuletzt vielleicht, als Erica mit der Taschenlampe durchs Zimmer geleuchtet und sie dagesessen und staunend zugesehen hatte.
»Ich weiß aber keine«, sagte Opal. »Man denkt doch nie darüber nach, ob man leben will. Man wacht einfach jeden Tag auf und lebt. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es ist, sich bewusst dafür entscheiden zu müssen.«
»Aber ich.«
Opal betrachtete ihre Schwester, die mit ungelenk über der Brust verschränkten Armen am anderen Bettende saß. »Ist es so schlimm? Geht es dir wirklich so dreckig?«
Erica nickte. »Früher schon, jetzt nicht mehr. Aber ich weiß, für dich bin ich wie eine Figur aus Panik im Needle Park. Du glaubst, ich würde vor mich hin vegetieren.«
Opal wollte widersprechen, doch sie verstummte sofort. Nur der Zufall hatte darüber entschieden, was aus jeder von ihnen geworden war, wen das Schicksal härter getroffen hatte. Das galt für nahezu alle Familien. Immer gab es das schwarze Schaf, über das nicht gesprochen wurde. Der ältere Bruder, die ältere Schwester auf der Förderschule weit weg von New York oder das Kind, das zum Abendessen im Zimmer blieb oder dessen Adresse aus einem Postfach im tiefsten Mittleren Westen bestand. Fast jedem kamen im Lauf der Zeit Menschen abhanden.
»Entschuldige«, sagte sie, denn sie schämte sich plötzlich.
»Ich will jetzt kein Riesenfass aufmachen, wir haben schon genug an der Backe«, erwiderte Erica ruhig. »Aber bitte bring mich auf den neuesten Stand. Ich war so lange weg, ich weiß gar nichts.«
»Auf den neusten Stand? Worüber?«
»Über Sy beispielsweise.«
Opal nickte. »Sie kennen sich schon seit einiger Zeit. Er ist ihr vom Typ her sehr ähnlich. Sie gehen ständig essen und trinken viel.« Sie schüttelte den Kopf. »Er macht sich zwar auch große Sorgen, aber ich glaube nicht, dass er irgendwas tun kann. Keiner kann etwas tun.« Sie sah Dottie im Krankenhaus liegen wie ein an der Küste gestrandeter, harpunierter Wal, und die Verzweiflung übermannte sie. Sie schlug die Hand vor die Augen.
»Opal«, sagte Erica. »Hey.«
Als Opal in das breite, platte Gesicht ihrer Schwester blickte, glaubte sie einen Moment lang, Dottie säße ihr gegenüber. Dottie in unbeschwerteren Zeiten, Dottie Breitburg, das Mädchen aus Brooklyn, das die Verwandtschaft zum Lachen brachte. »Bei uns war ständig etwas los«, hatte Dottie ihren Töchtern früher erzählt. »Das hat mich für mein Einzelkindschicksal entschädigt. Ich fand es toll, dass wir immer so viele Besucher hatten.«
Besucher. Opal überlegte, ob es ihrer Mutter helfen würde, wenn sie in der Klinik auch Besuch von anderen bekäme. In etwa zwei Wochen wäre sie so weit, hatte Dr. Hammer gesagt, doch Dottie selbst wollte niemanden sehen. Opal stellte sich einen steten Strom von Besuchern vor, die das Krankenzimmer betraten. Nach und nach würde Dottie im Bett den Blick heben und ins Leben zurückfinden. Die Schar der Besucher würde sie nicht nur an ihre reich bevölkerte Kindheit erinnern, sondern auch an die Jahre, in denen sie nach ihren Auftritten Freunde und Fans in der Garderobe empfangen hatte.
»Was hältst du davon, wenn wir ein paar Leute bitten, Sie zu besuchen?«, fragte Opal.
»Kommt darauf an, wen.«
»Freunde. Leute, mit denen sie zusammengearbeitet hat. Das würde ihr Auftrieb geben. Sie hatte immer viele Menschen um sich, und genau das vermisst sie die ganze Zeit schon.«
Erica dachte kurz nach. »Es wäre ein erster Schritt. Immerhin etwas. Klar, das könnten wir versuchen.«
Sie schwiegen. »Kann ich dich etwas fragen?«, sagte Opal schließlich, und Erica nickte. »Bitte versteh mich nicht falsch, aber ich wüsste gern, warum du dich plötzlich auf einmal so engagierst und unbedingt helfen willst. Ich finde das gut, aber es kommt so plötzlich.«
Obwohl Erica überrascht wirkte, antwortete sie sofort. »In manchen Situationen beginnt man eben zu handeln. Immerhin ist sie todkrank. Und warum hast du mich eigentlich angerufen?«
Opal sah sich wieder draußen vor der Notaufnahme stehen und Ericas Nummer in dem abgegriffenen Telefonbuch suchen, das an einem Draht unter dem Apparat hing. Zunächst hatte sie angerufen, weil sie fand, Erica habe das Recht, davon zu erfahren. Das Bedürfnis nach einem Wiedersehen hatte sie jedenfalls nicht angetrieben. Doch als Erica zwanzig Minuten später im Warteraum aufgetaucht war, hatte Opal immense Erleichterung verspürt. Da stand ein Mensch, dachte sie, der dieses übergroße Leid halbieren konnte. Aber so funktionierte Leid nicht. Wenn es schlimm kam, wurde es doppelt so groß, damit nur ja genug für alle da war; erst dann teilte es sich in zwei Hälften wie eine Zelle bei der Mitose.
»Ich weiß nicht, warum ich dich angerufen habe«, sagte sie. »Ich habe es einfach getan.«
»Eben.«
In diesem Moment war es, als wären sie wieder Kinder, dachte Opal. Kinder, die in der wunderbaren Stille eines frühen Abends zusammensaßen, während am Ende des Gangs wie üblich der Fernseher vor sich hin brabbelte und sich irgendwo in der Nähe ein Babysitter herumtrieb.
»Sie hat ein Herz wie ein Hinterschinken, hat er gesagt«, entfuhr es Opal. »Ziemlich komischer Vergleich. Wie aus einem Song.« Sie begann zu singen. »Some say the heart is just like a ham …«
Erica strich sich die Haare aus dem Gesicht, und Opal sah sie lächeln. Und ihr fiel wieder auf, wie wenig sie einander ähnelten. Nichts wies darauf hin, dass sie Schwestern waren, nur die gemeinsame Geschichte, die hin und wieder zum Vorschein trat: dieselben Eltern, das Protoplasma, in dem alles schwamm. Sie hatten einen Vater mit Wohnsitz im Coconut Grove und eine Mutter, deren Herzschlag so dramatisch über den Monitor zuckte, als wäre der eine Zaubertafel. Lauter Zacken, keine einzige sanfte Kurve. Feinheiten gab es da nicht, nur den Rhythmus des Lebens, das selbst etwas Grobes hatte. Man war tot, oder man war am Leben, eine dritte Möglichkeit existierte nicht. Und niemand konnte ewig dazwischen schweben. Irgendwann musste man landen.
Am nächsten Tag packte Sy in der Klinik geschäftig seine Mitbringsel aus Hongkong aus. »Ich dachte, das gefällt dir bestimmt, und die Farbe müsste dir stehen«, sagte er zu Dottie, während er einen hellroten Seidenkimono in die Höhe hielt, in dessen Rückenteil schwarze Schriftzeichen eingestickt waren. »Nachdem ich ihn gekauft hatte, bat ich einen Bekannten, mir die Schriftzeichen zu übersetzen. Stell dir vor – sie bedeuten ›Fresst die amerikanischen Kapitalisten!‹«
»Ich bin nicht besonders gut drauf, Sy. Mir tut alles weh. Ich will eigentlich nur meine Ruhe.«
Er legte den Kimono weg. »Gut, sollst du haben. Dann gehe ich jetzt runter und hole mir ein Roggenbrötchen mit Leichengift.« Schon war er verschwunden. Die Mitbringsel blieben auf dem ganzen Bett verteilt liegen.
»Was hat er denn?«, fragte Dottie.
Opal sah sie an. »Wir sind alle sauer auf dich, nicht nur er.«
»Das tut mir leid«, erwiderte Dottie. »Nichts liegt mir ferner, als euch das Leben zu vermiesen. Geh wieder arbeiten, Opal. Du musst nicht täglich hier hocken, so spannend ist das auch wieder nicht. Du hast bestimmt Besseres zu tun.«
»Das ist völlig in Ordnung. Ich komme so lange, bis es dir einigermaßen gut geht. Bis du nicht mehr so deprimiert bist und endlich vom Gesundwerden sprichst.«
»Darauf kannst du lange warten«, erwiderte Dottie mit bitterem Lächeln. »Hammer hat mir eine Frau vom Sozialdienst ans Bett geschickt. Die hat mir von einer Adipositasklinik in Kalifornien erzählt. In der Lexington Clinic wohnt man, um abzunehmen. Sie hat mir richtig zugesetzt, aber ich habe selbstverständlich abgewunken.«
»Warum?«, fragte Opal.
»Weil ich an so etwas nicht interessiert bin. Also bitte!« Sie schloss die Augen und rutschte in ihrem Bett hin und her. »Wann kommt Mrs. Ramsey endlich zurück? Sie wollte zu diesem Wollladen, Masche um Masche heißt er, und seitdem ist sie verschwunden. Dabei hat sie versprochen, bald wieder da zu sein und mich zu waschen. Ich habe schon das Gefühl, auf Sand zu schlafen.«
»Soll ich dich waschen?«, fragte Opal und bekam sofort Angst, ihre Mutter könnte auf das Angebot eingehen.
»Das wäre unheimlich lieb«, antwortete Dottie. Auf einmal klang sie dankbar und sanft. »Sehr, sehr gern.«
Unvermittelt fand sich Opal in einer Situation wieder, in der sie einen Waschlappen in eine Plastikwanne mit Seifenwasser tauchen und ihrer Mutter damit über Gesicht, Hals und Arme wischen musste. Durch die Wärme blühte Dotties Haut auf. Alles Weiße färbte sich rosa.
»Ah, ist das schön!«, sagte sie und schloss die Augen. »Einfach herrlich!«
Sorgsam umkurvte Opal die an Dotties Brust befestigten Schläuche und Kabel und hob das Nachthemd vorsichtig an. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie den Körper ihrer Mutter zum letzten Mal gesehen hatte. Dass unter den Kleidern noch etwas war, hatte sie fast vergessen. Als sie den dünnen Stoff an den Oberschenkeln nach oben schob, stockte ihr kurz der Atem. Sie musste in Bewegung bleiben, musste den Waschlappen unermüdlich eintauchen und auswringen, bis es vorbei war. Während ihre Hand über die breite Hautfläche strich, fragte sie sich, wie es wohl wäre, diesen Körper zu haben, und stellte sich vor, plötzlich von dem grotesken Panzer aus Fett umgeben zu sein.
Dottie schnurrte genüsslich, während der warme Lappen quer über den Bauch fuhr, und Opal schämte sich ihres Ekels. Sie machte ihre Mutter für kurze Zeit glücklich, bereitete ihr eine Freude. Das und nichts anderes, stellte sie bestürzt fest, war immer ihr Ziel gewesen.
»Danke, mein Schatz«, sagte Dottie, als es erledigt war. Opal setzte sich wieder aufs Fensterbrett und sah ihrer Mutter beim Einschlafen zu. Es war eine friedliche und zugleich quälende Szene. Sie lässt sich fallen, dachte Opal. Wahrscheinlich träumte sie davon, in ein Kaninchenloch zu stürzen und langsam durch einen dunklen Schacht zu gleiten, bis sie endlich unten ankam oder etwas in der Art. Opal war in letzter Zeit meist froh, wenn Dottie schlief, weil sie ihre Mutter in wachem Zustand kaum noch ertrug. Immer wieder entschuldigte sie sich dann, lief zum Notausgang hinten im Korridor und zündete sich eine Zigarette an, die sie aggressiv und schuldbewusst rauchte. Sie inhalierte so tief, dass es ihr fast die Kehle versengte.
So ging das tagelang. Jeden Nachmittag besuchten Opal und Erica abwechselnd ihre Mutter. Sy, der abends nach der Arbeit kam, wirkte zunehmend niedergeschlagen.
»Sie beleidigt mich ständig«, erzählte er Opal. »Sie sagt, ich soll mich den Tatsachen stellen und mich nach einer neuen Freundin umsehen.« Er griff sich an seine schöne pflaumenblaue Krawatte. »Ach, ich weiß auch nicht. Ich mache mir solche Sorgen. Es geht ihr von Tag zu Tag schlechter, und sie wird immer anstrengender. Das nimmt mich richtig mit.«
Es nahm sie alle mit. Keiner wollte lange bei Dottie bleiben, jeder wünschte die Ablösung sehnlich herbei. Sobald Erica ins Zimmer trat, zog Opal rasch ihren Mantel an, flüsterte hastig: »Viel Glück«, und eilte hinaus.
Unten in der Drehtür wurde sie jedes Mal von dem Gefühl überrascht, wie es war, wieder draußen zu sein. Nach einem ganzen Tag in der Klinik erschien die Außenwelt wie ein Traum aus einem früheren Leben. Es gab natürliches Licht in Hülle und Fülle, und die Luft wehte einem tatsächlich ins Gesicht und durchs Haar. Welch ein Unterschied zum heißen Linoleumglanz im Krankenhaus!
Zu Hause begann Opal zu telefonieren. Erica und sie hatten sich Leute notiert, die als Besucher infrage kamen. Nun rief sie einen nach dem anderen an, um sie für Mittwochabend einzuladen. Dottie behauptete zwar nach wie vor, sie sei noch nicht so weit und wolle niemanden sehen, doch Dr. Hammer hatte erklärt, Besuch könne sich positiv auswirken. Niemand wusste so recht, wie es mit Dottie weitergehen sollte. Sie konnte nicht ewig im Krankenhaus bleiben, doch die Entlassung nach ihrer bald zu erwartenden Genesung bedeutete Dr. Hammer zufolge, dass sie zu Hause sterben würde.
»Soll mir recht sein. Besser dort als hier«, erwiderte Dottie, woraufhin Dr. Hammer etwas in ihre Patientenakte kritzelte und umgehend das Weite suchte.
Jetzt war das Telefonat mit Tante Harriet an der Reihe. In einem kurzen, emotionalen Gespräch legte Opal ihrer gebrechlichen Großtante die Situation dar. Tante Harriet sagte, sie verlasse zwar kaum noch das Haus, sei aber bereit, für ihre geliebte Dottie eine Ausnahme zu machen. Überhaupt sprachen alle Gesprächspartner ganz unbekümmert von Liebe. »Ich liebe deine Mom«, beteuerte Ross Needler. »Ich liebe Dottie«, versicherte Mia Jablon. Dabei klangen sie so düster und ernst, dass Opal es kaum noch aushielt. Wie immer hatte ihre Mutter alles in den Hintergrund gedrängt. Das College erschien ihr weit weg. Nur noch vage erinnerte sie sich an ihr Zimmer in Silliman, an das schmale Bett, das Metallregal und die wieder und wieder überstrichenen Wände, in denen die Reißzwecken ganzer Studentengenerationen steckten. Aus diesem Strom von Studenten, dem auch sie einmal angehört hatte, war sie inzwischen ausgestiegen. Jetzt spielte sich ihr Leben in einem Krankenhauszimmer ab, bei einer sterbenden Frau, die auf niemanden hören wollte.
Wenigstens gab es Erica. Sie fand es komisch, dass sie das dachte, doch es ließ sich nicht leugnen: Ericas Anwesenheit war das Beste, was ihr in diesem Winter passiert war. Abends kamen sie in der Küche zusammen und kochten. Sie würden wahrscheinlich nie wieder einkaufen müssen, dachte Opal, denn Dotties Küche war mit Vorräten vollgestopft wie ein Luftschutzbunker. Zum Essen setzten sie sich an den großen Tisch. Manchmal rollten sie den Fernseher dicht heran und guckten Nachrichten oder eine alte Sitcom. Manchmal redeten sie auch nur – zuerst ein bisschen befangen, dann immer lebhafter.
Erica erzählte von Jordan und warum sie ihn schließlich verlassen hatte. »Es gibt da jemanden«, sagte sie verlegen in ihrem Essen stochernd.
»Und wen?«, fragte Opal verblüfft. Die unattraktive Erica hatte zwei Freunde, zwei Männer. Sie lebte ihre Sexualität ganz anders aus als Opal. Bestand das Geheimnis im Dicksein? War Dottie deshalb nicht bereit, ihr Gewicht aufzugeben? Vielleicht empfanden dicke Frauen Berührungen anders – vielleicht packte es sie im Innersten, wenn ihnen ein Mann seine heiße Hand auf die Brust legte.
Während Erica von Mitchell sprach, veränderte sich ihre Stimme, bis sie fast flüsterte. »Ich weiß noch nicht, was ich machen soll. Ich bin noch nicht fertig mit ihm.«
Mit unabgeschlossenen Dingen, mit dem Gefühl, dass noch etwas zu erledigen war, kannte sich Opal aus. Manchmal wusste man nicht mal selbst, worum es einem eigentlich ging, und quälte sich so lange damit herum, bis man es endlich begriff.
Gedanken, die eines Tages verschwunden waren, trudelten Jahre später als Trümmer zurück, wie das Skylab. Opal dachte an die Leute, die am Mittwochabend Dotties Bett im Krankenhaus umringen würden, und überlegte, ob sie jemanden vergessen hatte. Sie sah Erica an, die ihr gegenüber am Küchentisch saß und die Gabel gedankenverloren auf einer Zinke balancierte.
Es sei höchste Zeit, hatte Dr. Hammer gesagt. Die Klinik könne genesende Herzpatienten nicht unbegrenzt therapieren. Just an diesem Vormittag war er mit einer Horde Medizinstudenten aufgetaucht, die ihm, die Hände an den Pagern, beflissen über die Schulter spähten. Sie waren kaum älter als Opal gewesen. Die Männer mit frisch gesprossenen Bärten und Drahtgestellbrillen, die Frauen mit intelligenten, besorgten Mienen und Spangenfrisuren. Alle hatten blendend weiße Kittel getragen, und während der Untersuchung hatten ein paar von ihnen leise mit der Zunge geschnalzt und den Kopf geschüttelt.
Man konnte nicht viel machen. Es gab nur noch Erica, Opal und Sy und den organisierten Besucheransturm. Opal stellte sich den Einzug der Mittwochsprozession in Dotties Zimmer so gravitätisch vor wie der Marsch der siamesischen Kinder in Der König und ich. In der Mitte lag Dottie gewaschen und gepudert in ihrem Bett und wartete darauf, von den Gästen wach gerüttelt und zum Leben überredet zu werden. Plötzlich kam ihr eine Idee. Bestimmt eine schlechte Idee, dachte sie, während sich der Gedanke nach und nach formte, eine fürchterliche Idee sogar, doch sie hielt daran fest. Sie sah keine andere Möglichkeit.
»Bin gleich wieder da«, sagte sie, stand auf und schob ihren Stuhl zurück.
Erica hob nur leicht überrascht den Blick und sagte: »Okay.«
Opal ging ins Schlafzimmer ihrer Mutter, setzte sich aufs Bett, hob den Telefonhörer ab und wählte die Auskunft von Miami. Eine Computerstimme nannte ihr die Nummer.
Er war natürlich nicht zu Hause; das wäre zu schön gewesen. Doch immerhin erklärte eine neutral klingende Frauenstimme, Norm und Ellen seien im Augenblick außer Haus, man könne nach dem Piepston eine Nachricht hinterlassen. Der laute, lang anhaltende Ton gab Opal Zeit, um zu entscheiden, ob sie das wirklich durchziehen wollte. Er schien sich ewig zu dehnen.
»Dies ist eine Nachricht für Norm Engels«, sagte sie, als endlich Stille eintrat. »Hier spricht Opal Engels.« Zu Beginn zitterte ihre Stimme nur leicht. »Es geht um Dottie. Sie liegt im Krankenhaus, und es steht schlecht um sie. Wahrscheinlich hast du es sowieso schon gelesen. Ich weiß selbst nicht, warum ich das alles erzähle.« Sie lachte leicht hysterisch auf, was sie peinlich fand. »Entschuldige, aber ich bin ein bisschen nervös. Jedenfalls wollte ich sagen, dass wir am Mittwochabend ein paar Leute im Krankenhaus versammeln. Im Roosevelt Hospital in New York. Du kannst den Anruf auch einfach ignorieren. Tut mir leid, aber ich bin total durcheinander. Ich wollte es dir nur sagen. Vielleicht kannst du irgendwas damit anfangen, keine Ahnung. Ach, vergiss es einfach.«
Es piepste wieder; die Zeit war um. Sie blieb sitzen. Es dauerte eine Weile, bis ihr klar wurde, was sie getan hatte.