Michael Biederkopf war tot. Zumindest war er das für Jenny. Ihre Beziehung, die so vielversprechend begann, hatte kein Jahr gehalten.
Als wäre es gestern gewesen, erinnerte sich Jenny an den Augenblick, als er mit betretener Miene vor ihr gestanden hatte.
Noch am Tag zuvor hatte sie ihr Auto vollgepackt und den größten Teil ihrer Kleidung und ihrer persönlichen Dinge in sein Haus geräumt.
Zunächst hatte sie gezögert, als er sie gebeten hatte, zu ihm zu ziehen. Ihre Unabhängigkeit war ihr immer wichtig gewesen, und zu schwierig hatte sich der Anfang ihrer Beziehung gestaltet. Jenny war durch vorangegangene Erlebnisse traumatisiert und hatte nur langsam wieder Vertrauen fassen können.
Doch Michael hatte ihr Zeit gelassen und um sie geworben, ohne aufdringlich zu sein.
Sie hatte sich einen Ruck gegeben und beschlossen, ihr Leben an seiner Seite zu verbringen.
Am allerwenigsten hatte sie damit gerechnet, dass er kurz darauf einen Rückzieher machen würde.
Von Freiheit hatte er geredet, davon, dass seine Entführung Narben hinterlassen hätte, dass er sich nicht binden und niemandem Rechenschaft ablegen wolle.
Sie hatte erst nicht verstanden, was er ihr hatte sagen wollen. Nur langsam waren seine Worte zu ihr durchgedrungen. Sie hatte sich im Wohnzimmer umgesehen. Im Regal stand ihre Lieblingsskulptur, ein kleiner steinerner Buddha. Auf dem Sofa lag einer ihrer Pullover und auf dem Tisch ein aufgeschlagenes Buch, in dem sie gelesen hatte.
Mühsam wahrte sie Haltung. Kein Problem sei es, hatte sie gesagt, wenn das Zusammenziehen für ihn zu früh wäre. Dass der Vorschlag von ihm gekommen war, konnte sie sich nicht verkneifen, zu erwähnen.
Er hatte weggesehen. Es ginge ihm nicht ums Zusammenziehen. Sie müsse das verstehen. Er wolle sich gar nicht binden, auch nicht an sie, obwohl sie etwas Besonderes sei.
Sie hatte ihn angestarrt, dann, als ihr langsam klar wurde, was er gesagt hatte, musste sie sich an der Tischkante festhalten. Sie hatte gewartet, auf eine Erklärung, darauf, dass er ihr sagte, dass alles ein Scherz sei. Doch er hatte sich nur abgewandt und war aus dem Zimmer gegangen.
In Jenny war jedes Gefühl erstorben. Schweigend hatte sie begonnen, ihre Sachen zusammenzusuchen. Sie musste mehrmals den Weg zu ihrem Wagen machen, bis sie alles eingepackt hatte. Sie fand Michael auf der Terrasse, wo er mit dem Rücken zu ihr stand und in den Garten hinaus schaute. Sie warf ihm einen letzten Blick zu, dann drehte sie sich wortlos um. Legte ihren Hausschlüssel auf das Schränkchen im Flur und verließ das Haus, das sie noch vor einer halben Stunde als ihr zukünftiges Heim angesehen hatte.
Wie betäubt fuhr sie nach Hause. Mechanisch trug sie ihre Sachen zurück in ihre Eigentumswohnung in Frankfurt-Sossenheim. Ihre Nachbarin begrüßte sie fröhlich, doch Jenny ignorierte sie. In der Wohnung räumte sie sorgfältig alles an seinen Platz.
Sie fühlte nichts. In der Diele lag ein Paketmesser. Sie nahm es in die rechte Hand, starrte darauf und zog es über die Innenfläche des linken Unterarms. Sie betrachtete den Schnitt und die Blutstropfen, die daraus hervorquollen. Plötzlich fröstelte es sie. Ihr Blick richtete sich auf die Badewanne. Sie trat heran und griff nach dem Wasserhahn. In diesem Moment klingelte ihr Telefon. Jenny zuckte zusammen, sah verwirrt auf, als würde sie aus einem Traum erwachen. Wie eine Schlafwandlerin ging sie ins Wohnzimmer und starrte das Telefon an. Es hörte auf zu klingeln, fing jedoch nach einem Moment wieder an. Mit dem Arm, von dem immer noch das Blut tropfte, griff sie nach dem Hörer. Sie hielt ihn vor sich und blickte darauf. Aus dem Lautsprecher klang die Stimme ihrer Freundin Sabine. „Jenny? Jenny bist du dran? Ich höre nichts. Sag doch was. Hallo?“
Gehorsam antwortete sie: „Hallo.“
„Ist alles in Ordnung?“
„Ja, alles in Ordnung“, sagte sie mechanisch.
Sabine versuchte es erneut. „Jenny? Ich dachte, du wärst bei Michael. Aber er meinte, du seist nach Hause gefahren.“
Michael … der Gedanke berührte etwas in Jenny. „Ich muss jetzt auflegen.“ Sie ließ den Hörer achtlos auf die Couch fallen und ging zurück ins Bad. Sie drehte den Hahn auf und zog sich aus. Ihr Blick fiel auf den Badezimmerschrank. Sie öffnete die Tür und zog ein paar Utensilien nach vorne. Ganz hinten lag eine Packung Schlaftabletten, die sie damals verschrieben bekommen hatte. Schlafen bedeutete vergessen, wenn auch kurzfristig. Sie drückte einige heraus und schob sie sich in den Mund. Ohne Wasser schluckte sie sie. Sie wollten nicht rutschen, und sie schöpfte etwas Wasser aus dem Strahl, der sich in die Wanne ergoss, und trank. Dann zögerte sie. Sah sich suchend um. Ging in den Flur. Das Paketmesser lag auf der Anrichte, wo sie es abgelegt hatte. Sie nahm es, ging zurück ins Bad und stieg in die Wanne, die sich bereits halb gefüllt hatte. Nachdenklich sah sie auf ihren Unterarm. Die Blutung hatte sich inzwischen gestillt, doch das warme Wasser wusch die getrockneten Reste ab. Fasziniert beobachtete sie die Schlieren, die sich im Wasser verdünnten und auflösten. Sie setzte das Messer wieder an und zog es in Zeitlupe erneut über die zarte Haut. Einmal, zweimal und ein drittes Mal. Es war, als würde sie einem Fremden zusehen. Sie fühlte nichts außer Leere. Dann kam die Müdigkeit.
Den erschrockenen Schrei, den wenig später Sabine, die mit der Nachbarin in die Wohnung kam, ausstieß, hörte sie nicht mehr.
Drei Wochen später wurde Jenny aus der psychiatrischen Abteilung der Frankfurter Universitätsklinik entlassen. Die Entlassung erfolgte auf ihren ausdrücklichen Wunsch und gegen die Empfehlung der behandelnden Ärzte. Da es zweifelhaft war, ob es sich um einen Suizidversuch gehandelt hatte, waren ihnen die Hände gebunden. Für ihre Freundin hatte es zunächst so ausgesehen, doch Jenny hatte gerade so viel Schlaftabletten genommen, dass sie einige Stunden geschlafen hätte, und die Schnitte an ihren Armen waren nur oberflächlich. Argument der Ärzte, sie so lange in der Klinik zu halten, war, dass sie mindestens billigend in Kauf genommen hatte, im Schlaf tiefer ins Wasser zu rutschen und zu ertrinken. Jenny selbst wusste nicht mehr, was damals in ihr vorgegangen war. Was sie wusste, war, dass nichts, schon gar nicht die Trennung von einem Mann, sie dazu bringen könnte, sich das Leben zu nehmen. Trotzdem war der Schmerz wohl so groß gewesen, dass sie sich ihm mit aller Gewalt hatte entziehen wollen, wenn auch nur für eine gewisse Zeit.
Jenny hatte niemandem den Zeitpunkt ihrer Entlassung mitgeteilt. Sie hatte auch gebeten, keine Besucher zu ihr zu lassen. Sie wollte niemanden um sich. Niemanden, der ihr gut zuredete, sie tröstete, wo es keinen Trost gab.
Von einer posttraumatischen Belastungsstörung hatte ihr Arzt gesprochen. Die Ursache läge vermutlich im früheren Erlebnis mit dem Serienmörder. Der Auslöser in etwas, das in der Gegenwart passiert sein musste und die Störung getriggert und massiv zum Ausbruch gebracht hatte. Was, wusste der Arzt nicht.
Jenny weigerte sich, mit ihm darüber zu sprechen. Sie sprach überhaupt nur so viel, wie nötig war, damit sie entlassen wurde. Zugute kam ihr, dass sie genügend Straftäter in die Psychiatrie gebracht hatte oder zuhören durfte, wie sie durch ärztliche Gutachten ihrer Gefängnisstrafe entgingen, um das Richtige zur richtigen Zeit zu sagen.
Jetzt musste sie es nur noch schaffen, wieder arbeitstauglich geschrieben zu werden. Doch zuerst musste sie sich in den Griff bekommen. Soviel war ihr klar. Ihre Kollegen, Logo und Sascha, hatten es aufgegeben, sie besuchen zu wollen. Immer wieder hatten sie angerufen oder standen im Geschäftszimmer der psychiatrischen Klinik und forderten Auskunft. Endlich, als es ihr besser gegangen war, hatte Jenny sie selbst angerufen und in ruhigen aber bestimmten Worten darum gebeten, keine Kontaktversuche mehr zu starten. Ohne eine Antwort abzuwarten, hatte sie aufgelegt.
Keiner von beiden wusste, dass sie heute entlassen wurde. Sie nahm sich ein Taxi, das kaum zwanzig Minuten später vor ihrer Haustür hielt, bezahlte schweigend, nahm ihre Tasche, und stieg die Stufen zu ihrer Wohnung hinauf. Niemand begegnete ihr. Als sie aufschloss, ging ihr kurz der Gedanke durch den Kopf, dass sie sich ihre Schlüssel zurückgeben lassen musste. Sowohl ihre Nachbarin als auch ihre Freundin Sabine hatten Ersatzschlüssel und sich in ihrer Abwesenheit um die Wohnung gekümmert. Verloren stand Jenny einen Moment in ihrem Flur. Ihr Blick fiel auf die Tür zum Bad. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, was an diesem Tag vorgefallen war. Die Ärzte hatten erklärt, was sie getan hatte. Doch ob sie wirklich vorgehabt hatte, sich umzubringen, oder ob sie sich durch die Einnahme der Tabletten nur zeitweises Vergessen erhoffte, konnte nicht geklärt werden. In ihrem Kopf lagen alle Ereignisse, nachdem sie Biederkopfs Haus verlassen hatte, in einem dichten Nebel.
Sie sah sich um. Sie sollte irgendetwas tun. Was tat man, wenn man nach Hause kam? Sie runzelte angestrengt die Stirn. Dann ließ sie die Tasche von ihrer Schulter achtlos auf den Boden rutschen. Sie ging ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch, nicht auf ihren üblichen Platz, sondern auf den, der normalerweise Gästen vorbehalten war. Dort saß sie einige Zeit und starrte auf den Tisch. Irgendwann stand sie auf, ging in die Küche, und begann, sich einen Kaffee zu kochen. Mittendrin hielt sie inne und starrte auf die Tasse, die sie in der Hand hatte. Sie hatte vergessen, was sie im Begriff zu tun war.
Es klingelte. Erst nach einiger Zeit drang das Geräusch zu Jenny durch. Mit der Tasse in der Hand ging sie zur Tür und erblickte durch den Spion ihre Nachbarin. Hilfe suchend sah Jenny sich um. Es blieb ihr keine Wahl, sie musste mit ihr reden. Sie öffnete die Tür nur einen Spalt, sodass sie mit einem Auge hinaus schauen konnte.
Ihre Nachbarin lächelte sie besorgt an „Du bist endlich zu Hause. Wie geht es dir?“
Jenny antwortete zunächst nicht. Ihr Mund bewegte sich, doch es kam nichts heraus. Sie schluckte. „Gut … es geht mir … gut.“
Das Lächeln ihrer Nachbarin verblasste. „Brauchst du etwas? Kann ich etwas für dich tun?“
Jenny zog die Tür einen Zentimeter weiter auf. „Kannst du mir meinen Schlüssel zurückgeben?“
Jetzt lächelte ihre Nachbarin nicht mehr. „Ja, natürlich. Wenn du das möchtest. Aber … Wenn wieder etwas mit dir ist?“
Jenny starrte sie schweigend an. Die Nachbarin nickte, ging kurz in ihre Wohnung und kam mit dem Schlüsselbund zurück. Jenny öffnete so weit, dass sie ihre Hand durch den Schlitz stecken konnte. Sie nahm die Schlüssel, drückte die Tür zu und hörte nicht mehr, wie später die Tür der Nachbarwohnung ins Schloss fiel.
Die nächsten Tage vergingen für Jenny wie in einem Traum. Sie tat wenig mehr, als auf der Couch zu sitzen und ins Leere zu starren. Ab und zu trank sie einen Schluck, meistens Wasser aus dem Hahn, und noch viel seltener dachte sie daran, etwas zu essen. Da sie das Haus nicht verließ, bestanden ihre Mahlzeiten aus Salzstangen und Erdnüssen, von denen ihr schlecht wurde. Zwei oder dreimal klingelte das Telefon und einmal klingelte es an der Tür. Sie ignorierte alles.
Seit sie aus der Klinik entlassen worden war, hatte sie die verordneten Medikamente nicht mehr eingenommen. Sie lagen unberührt in der Tasche, die noch dort im Flur lag, wo sie sie beim Eintreffen in der Wohnung hatte fallen gelassen. Der Nebel, der sie die ganze Zeit umhüllt hatte, lichtete sich nach und nach. Ihre Gedanken wurden klarer, doch mit der Klarheit kam auch der Schmerz.
Am vierten Tag klingelte das Telefon, und der Therapeut, bei dem sie heute einen Termin gehabt hätte, sprach auf ihren Anrufbeantworter. Seine Klinge klang ruhig aber bestimmt. „Frau Becker, wenn Sie Ihren Termin nicht einhalten, muss ich es Ihrer Dienststelle melden. Bitte rufen Sie mich an.“