Kapitel 2

Zögernd stieg Jenny aus dem Auto und setzte seit Wochen den ersten Fuß auf den Boden des Polizeipräsidium an der Adickesallee. Eigentlich war es ihr in den letzten Tagen deutlich besser gegangen. Erst hier, im Innenhof des Gebäudes, in dem sich vermutlich Michael Biederkopf aufhielt, kamen ihre Probleme auf einen Schlag zurück. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, bis sie das Gefühl hatte, er würde sich überschlagen. Langsam ging sie auf die Glastür zu, die ins Innere des Gebäudes führte. Sie schaffte es, bis sie die Hand hätte ausstrecken können, um den Türgriff zu berühren. Dann blieb sie wie gelähmt stehen.

Ein uniformierter Kollege drängte sich an ihr vorbei, hielt die Tür auf und sah sie fragend an. Nach einem Moment des Wartens zuckte er ärgerlich mit den Schultern und verschwand im Inneren.

Jenny machte einen Schritt rückwärts … dann noch einen … drehte sich um und rannte zurück zum Auto. Ihre Hand zitterte, als sie versuchte, den Zündschlüssel ins Schloss zu stecken. Beim zweiten Anlauf schaffte sie es, startete den Motor und fuhr kurz darauf mit quietschenden Reifen vom Parkplatz.

Als sie ihre Wohnungstür aufsperrte, klingelte ihr Telefon. Sie drückte die Tür mit dem Ellbogen ins Schloss und meldete sich. „Ja?“

Ihr langjähriger Kollege Logo war am anderen Ende der Leitung. Seine Stimme klang besorgt. „Hab ich da irgendwas verwechselt? Wolltest du nicht heute wieder anfangen?“

Jenny ließ sich auf ihre helle Ledercouch fallen. „Ich kann’s einfach nicht“, erklärte sie müde. „Ich war schon an der Tür vom Präsidium. Aber ich schaffe es nicht. Michael kann mir jederzeit über den Weg laufen. Und die ganzen Kollegen. Sicher lachen sie hinter meinem Rücken über mich. Ich will einfach niemanden sehen.“

Es blieb einen Moment still in der Leitung. „Ich verstehe dich. Aber es lacht niemand. Ich glaube, es weiß kaum jemand, was passiert ist. Irgendwann musst du dich allem stellen. Du kannst nicht nur zu Hause sitzen. “

„Ich muss gar nichts“, stellte Jenny mit einem Aufflackern ihres alten Temperamentes fest. „Ich komme nicht wieder. Nicht, bevor Biederkopf weg ist!“

„Aber was willst du jetzt machen?“, fragte Logo.

„Ich weiß es noch nicht. Vielleicht lasse ich mich irgendwohin versetzen. Erst mal nehme Ich Urlaub. Ich habe noch fast drei Wochen. Ich melde mich!“

Damit legte Jenny auf. Ein Gedanke war in ihr entstanden, den sie sofort weiterverfolgen wollte. Sie zog ihren Laptop heran und startete ihn. Zögerte kurz. Dann wählte sie sich ins Intranet und beantragte ihre Versetzung. Den Zielort ließ sie offen. Alles war ihr recht, nur hier wollte sie nicht bleiben.

Einen Telefonanruf musste sie noch machen. Sie wählte die Nummer ihres Vorgesetzten und bat darum, ihren Resturlaub nehmen zu können. Widerwillig gestattete er es ihr.

Müde ließ sie den Hörer sinken. Vermutlich hatte sie eben den letzten Rest Vertrauensvorschuss, den er ihr noch entgegengebracht hatte, verspielt. Und wie gut sie das verstand. Alle hatten sich darauf verlassen, dass sie heute zurückkommen und ihre Arbeit wieder aufnehmen würde. Aber sie hatte es nicht geschafft, und außerdem wollte sie es nicht. Für Logo und Sascha tat es ihr leid. Andererseits war es Zeit, dass sie auf eigenen Füßen standen. Logo war längst weit genug, seine eigene Abteilung zu leiten, und Sascha würde ebenso seinen Weg gehen. Auch ohne sie.

Aber was sollte sie jetzt machen?

In diesem Moment klingelte ihr Handy. Sie sah auf das Display. „Lars? Alles in Ordnung?“

Ihr ehemaliger Kollege und mittlerweile guter Freund lebte die meiste Zeit in Thailand. Sie schrieben sich zwar öfters, telefonierten aber im Gegensatz dazu selten.

„Ich bin hier, in Deutschland“, sagte er aufgekratzt. „Ich wollte dich überraschen. Hast du Lust, dich heute Abend mit mir zu treffen? Deinen Staatsanwalt kannst du ja mitbringen!“

Der altbekannte Schmerz durchzuckte sie, doch sie hatte gelernt, ihn beiseitezuschieben, in irgendein Eck ihres Unterbewusstseins, wo er keinen akuten Schaden anrichten konnte.

„Gerne, aber ich komme alleine!“, antwortete sie knapp. „Wann und wo?“

„Im Gemalte in der Schweizer Straße. Um 19 Uhr. Michael kommt später dazu.“

„Michael Danner ist auch in Deutschland? Dein ehemaliger Mörder? Den wollte ich schon immer kennenlernen.“

Lars lachte. „Also, bis dann!“

Vor einigen Monaten war Lars’ beste Freundin ermordet worden. Der Frachtpilot Michael Danner war ihr Hauptverdächtiger gewesen, ganz besonders, nachdem er in Thailand seinen Tod vorgetäuscht hatte. Lars war ihm nachgereist und hatte sich seine Bekanntschaft erschlichen. Letztendlich war Danner jedoch gar nicht der Täter gewesen, sondern nur vor Unterhaltszahlungen geflohen. Lars und er waren gute Freunde geworden, und Lars hatte sich sogar in Thailand ein Haus gekauft und lebte dort einen Großteil des Jahres.

Nach zehn Minuten Kreisen um den Schweizer Platz und die angrenzenden Straßen hatte Jenny aufgegeben und in der Tiefgarage in der Nähe des Südbahnhofes geparkt. Atemlos drängte sie sich um kurz nach sieben durch die voll besetzen Tische im Gemalten Haus, einer alteingesessenen Apfelweinkneipe, die zu gleichen Teilen von Touristen und Einheimischen besucht wurde.

Endlich sah sie, wie Lars von einem Tisch im hintersten Eck winkte. Sie umarmte ihn und quetschte sich auf die Bank ihm gegenüber. Abwesend nickte sie den restlichen Gästen am Tisch zu.

„Sauer?“, blaffte ein Kellner sie von der Seite an und hatte das volle Glas schon halb aus dem Ständer gehoben. Sie verzog das Gesicht. „Na gut.“

„Es gibt hier inzwischen auch Bier!“, erklärte Lars mit einem belustigten Blick auf ihr Geripptes. „Ich weiß doch, wie gerne du Äppler trinkst.“

„Sie verzog das Gesicht. „Soll ja Medizin sein laut meines Kollegen, Kommissar Rauscher. Hat er mir schon tausend Mal erklärt, geglaubt habe ich es ihm noch nie. Dann müsste es ihn ja auf Rezept geben! Aber ich hatte Angst, dass der Kellner mir das Glas über den Kopf schüttet, wenn ich ein Bier bestelle.“ Sie schaute sich um. „Der treibt sich eigentlich auch immer hier rum.“

„Wer?“

„Na, Rauscher. Heute scheint er ausnahmsweise nicht hier zu sein.“ Sie stießen an.

Lars erzählte ihr von seinem neuen Leben in Thailand, und Jenny ließ sich dankbar von ihrem Kummer ablenken. Er verbrachte viel Zeit mit Michael Danner. Beide tauchten regelmäßig zusammen und unternahmen auch sonst einiges miteinander. Lars jobbte ab und zu als Tauchlehrer und bot den Touristenhotels seine Dienste als Detektiv an. Selten ging es bei seinen Aufträgen um mehr als am Strand gestohlene Handys oder abgängige Ehemänner, die zu viel Zeit bei den thailändischen Masseurinnen zubrachten. Doch es reichte ihm als Beschäftigung und das Geld brauchte er sowieso nicht. Jenny fiel auf, dass Lars Ruhe gefunden zu haben schien. Sein Blick war nicht mehr gehetzt, wie er es seit dem Tod seiner Frau so oft gewesen war, und er wirkte allgemein deutlich entspannter.

„Michael ist hier, weil er klar Schiff machen will“, erklärte er auf ihre Nachfrage. „Er hat sich mit seiner Frau arrangiert und mit seinen Kindern ausgesprochen. Sie alle bekommen genug Geld, um zufrieden zu sein. Ebenso das Finanzamt und jeder andere, der noch Forderungen an ihn hatte. Er wird wohl eine Strafe bekommen, aber nicht ins Gefängnis müssen. Unter Auflagen darf er sogar zurück nach Thailand, bis sein Prozess stattfindet.“

„So ist es sicher für alle das Beste. Immer auf der Flucht … Und sicher hängt er an seinen Kindern.“

„Natürlich. Er ist in den Hunsrück gefahren, um sich um den Verkauf seiner Wohnung zu kümmern. Seine Ehefrau hat sie leer geräumt und neu vermietet, aber der Mieter zieht schon wieder aus, weil ihm die Gegend zu abgelegen ist. Sicher wird es auch nicht einfach, die Wohnung zu verkaufen, so mitten im Nirgendwo.“

In Jennys Ohren hörte sich diese Beschreibung momentan gerade zu idyllisch an. Mitten im Nirgendwo würde sie Biederkopf bestimmt nicht über den Weg laufen. Aber sie konnte nicht einfach abhauen. Irgendwann musste sie wieder arbeiten. „Wo liegt die Wohnung genau?“, fragte sie beiläufig.

„In einem winzigen Örtchen in der Nähe von St. Goar am Rhein. Aber jetzt sag mal. Wie geht es dir denn? Und deinem Staatsanwalt!“

Da war sie, die Frage, die sie befürchtet hatte und die ihr Herz eiskalt werden ließ. Ihre Hände wurden in Sekundenbruchteilen feucht und klamm, und sie suchte nach Worten, als ein Schatten über sie fiel.

„Hallo Michael“, sagte Lars und rutschte weiter in die Bank hinein. „Jenny – Michael. Michael – Jenny.“

Erleichtert reichte sie dem hageren Mann, dessen Gesicht sie bereits von Fotos kannte, die Hand. „Hallo. Freut mich. In gewisser Weise kenne ich dich ja schon. Ein bisschen zumindest.“

Verlegen nickte er. „Ja, ich weiß. Ich habe dir eine Menge Arbeit gemacht. Lars hat mir erzählt, mit wie vielen Leuten du hast sprechen müssen. Sogar mit dieser Nervensäge, mit der ich in der Schule war.“

„Ach vergiss es! Suchen wir etwas zu essen aus? Ich hab echt Hunger.“

Da sich niemand entscheiden konnte, bestellten sie eine Frankfurter Platte für drei Personen und blickten nur wenige Minuten darauf über einen Berg Rippchen, Haxen, Blut- und Leberwurst nebst Kraut und Püree. Eine Zeit lang herrschte gefräßige Stille.

Als sich der Berg Essen deutlich verkleinert hatte, tupfte Jenny sich den Mund mit einer Serviette ab und sah den Piloten an.

„Was ist jetzt mit deiner Wohnung?“, fragte sie.

„Sie war eigentlich gut vermietet“, erklärte er und zerteilte seinen Haspel. „Jetzt ist der Mieter aber kurzfristig versetzt worden und hat mich um Aufhebung des Mietvertrages gebeten.“

„Und, hast du zugestimmt?“, fragte Lars.

„Ja, ich bin nun mal ein netter Kerl!“ Er grinste. „Er lässt die nagelneuen Möbel da, und ich werde die Wohnung als Ferienwohnung möbliert vermieten. So kommt auch regelmäßig Geld rein. Ich muss mir nur noch jemanden im Ort suchen, der sich kümmert.“

„Viel Auswahl hast du da aber nicht“, gab Lars zu bedenken. Mit einem Seitenblick zu Jenny erklärte er: „Der Ort hat nur um die hundertdreißig Einwohner.“

„Idyllisch“, seufzte Jenny. In ihr stieg ein Gedanke hoch, den sie aber zunächst für sich behielt.

Das Gespräch plätscherte vor sich hin, bis auf der Platte nur noch Reste von Sauerkraut und Knochen lagen. Sie bestellten jeder ein Mispelchen zur Verdauung, und Jenny fühlte sich seit Wochen zum ersten Mal entspannt. „Wie lange bleibt ihr noch in Deutschland?“, fragte sie und hob ihr Glas.

„Noch eine Woche“, erklärte Lars. „Dann geht’s wieder zurück an den Strand. Komm mich doch mal besuchen. Ich habe genug Platz. Du müsstest nur den Flug bezahlen. Deinen Staatsanwalt bringst du natürlich mit!“

Auf einmal war alles wieder da. Der Schmerz, die Enttäuschung, die Verständnislosigkeit. Wie gerne wäre sie mit Biederkopf nach Thailand gereist, hätte mit ihm am Strand gelegen, wäre mit ihm im warmen Wasser geschwommen, vielleicht sogar getaucht.

„Jenny?“ Lars’ Stimme holte sie aus ihrer Versunkenheit. „Alles in Ordnung?“

„Ja sicher. Ich glaube, ich muss jetzt nach Hause. Ich muss morgen früh raus.“

„Lass stecken“, sagte Lars, als sie ihre Brieftasche zückte.

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Eine halbe Stunde später war sie zu Hause. Sie zog sich etwas Bequemes an, goss sich ein Wasser ein und fuhr ihren Laptop hoch. Dann googelte sie Badenhard, den kleinen Ort, in dem sich Michael Danners Wohnung befand.

Er lag im Rhein Hunsrück-Kreis, fast am Rhein und etwa dreißig Kilometer südlich von Koblenz. Sie starrte einen langen Moment auf die Karte. Rheinland Pfalz, ein anderes Bundesland. Eine Versetzung klappte normalerweise nur, wenn umgekehrt ein Beamter mit entsprechender Ausbildung nach Hessen wechseln wollte. Die Chance war immerhin groß. Viele zog es in die Großstadt Frankfurt, in die vermeintliche Hauptstadt des Verbrechens, und die Warteschlange war meist lang. Aber wollte sie wirklich weg aus Frankfurt? Ja, entschied sie. Immerhin würde sie dort in Rheinland Pfalz sicher niemandem aus ihrem jetzigen Leben begegnen, auf jeden Fall nicht Michael.

Entschlossen wählte sie sich ins Polizeinetz ein und suchte die Tauschbörse. Biete RLP, suche Hessen. Wasserschutzpolizei. Okay, das passte nicht. Bereitschaftspolizei. Auch nicht.

Nach zehn Minuten Suche wurde sie fündig. Ein Hauptkommissar aus Koblenz, der bisher in der Mordkommission gearbeitet hatte, wollte aus privaten Gründen nach Frankfurt versetzt werden. Besser ging nicht. Zufall oder Schicksal? Sie überlegte nicht lange und schrieb ihn an.

Mit dem befriedigenden Gefühl, ihr Leben in die Hand genommen zu haben, klappte sie kurz darauf den Laptop zu und ging schlafen. Das erste Mal seit Biederkopfs Eröffnung schlief sie mehr als vier Stunden am Stück und erwachte um halb sieben halbwegs ausgeschlafen.

Gegen halb neun war die Antwort des Kollegen da. Ja, er war noch interessiert und wollte so schnell wie möglich wechseln. Seine Frau könnte in Frankfurt die kleine Buchhandlung ihrer Eltern übernehmen. Beide erwarteten ihr erstes Kind und er wollte unbedingt in ihrer Nähe arbeiten.

Zehn Minuten später schickte Jenny die offizielle Anfrage ab.

Stand ein Tauschpartner zur Verfügung, konnte nur aus gravierenden Gründen eine Versetzung abgelehnt werden. Jenny ging also davon aus, dass sie bald in Koblenz arbeiten würde. Sie würde Logo und Sascha vermissen. Trotzdem schien die Entscheidung ihr richtig und löste ein Gefühl der Erleichterung bei ihr aus.

Sie rief Lars an und ließ sich die Nummer Michael Danners geben. Er meldete sich nach dem ersten Klingeln und war überrascht, als sie ihren Namen sagte.

„Ich rufe wegen deiner Wohnung an“, erklärte sie. „Ich würde sie gerne für eine gewisse Zeit mieten.“ Sie erzählte ihm von ihrer geplanten Versetzung.

„Natürlich kannst du die Wohnung gerne mieten“, antwortete er verwundert. „Aber das kommt so plötzlich. Gestern hast du gar nicht erzählt, dass du dich versetzen lässt.“

„Du hast mich erst auf die Idee gebracht“, gab sie zu. „Und es war Zufall, dass sich der ideale Tauschpartner gefunden hat. Ich weiß auch noch nicht, wie es auf Dauer weitergehen wird. Deshalb dachte ich an deine Ferienwohnung. Was willst du denn dafür haben?“

„Ich weiß nicht. Du willst sie nur für den Anfang? Als Ferienwohnung soll sie zweihundert die Woche kosten, dauerhaft natürlich deutlich weniger, momentan dreihundertfünfzig kalt pro Monat.“

Für Frankfurter Verhältnisse war das extrem günstig. Jenny zögerte. „Ich weiß es ehrlich gesagt noch nicht.“

„Ich geb sie dir für dreihundertfünfzig und wenn du dir was anderes suchst oder wieder zurückkommst, ist das auch okay.“

„Das ist klasse! Vielen Dank!“

„Ich hab nicht vergessen, dass du dabei geholfen hast, mich zu entlasten“, sagte er. „Sag Bescheid, wenn du die Zusage hast, dann bringe ich dir den Vertrag und den Schlüssel.“