Bereits eine Woche später war es soweit. Der Koblenzer Kollege hatte einen Dringlichkeitsantrag gestellt, und Jennys Chef hatte widerwillig zugestimmt, nachdem sie ihm kategorisch erklärt hatte, so oder so auf keinen Fall in die Frankfurter Dienststelle zurückzukehren.
Den Wagen bis unters Dach mit Kartons und Tüten vollgepackt, fuhr sie auf der A61 Richtung Koblenz. An der Abfahrt Pfalzfeld verließ sie die Autobahn und folgte einer Landstraße bis zur Abzweigung nach Badenhard. Der kleine Ort erstreckte sich hauptsächlich entlang der Hauptstraße, die weiter nach Birkheim führte und dann in einem Bogen zurück zur Landstraße. Mit viel Verkehr war hier nicht zu rechnen. Sie hielt im Ort an und beugte sich vor, um auf die Straßenschilder zu schauen. Der Heckenweg ging hier, wo die Hauptstraße einen Knick nach rechts machte, geradeaus ab. Er war nicht geteert und ihr Toyota protestierte ächzend, als sie in den schlaglochübersäten Feldweg fuhr.
Das Haus war das dritte auf der linken Seite. Dahinter sah Jenny einen Zaun, über den sich grauweiße wollige Köpfe neugierig reckten, als sie auf einem der beiden Stellplätze einparkte.
Alles war dunkel. Die Mieter – oder waren es Eigentümer? – der Wohnung im Erdgeschoss schienen nicht zu Hause zu sein. Jenny stieg aus und sah sich um. Ein kalter Wind blies und brachte den Geruch nach Schafen und Wald mit sich. Still war es hier … obwohl … jetzt, wo sie einen Moment lauschte, hörte sie das Rauschen der Bäume im Wind, Vogelgezwitscher und ab und zu das Blöken eines Schafes. Nur der Verkehrslärm fehlte.
Sie fröstelte, schnappte sich zwei große Taschen aus dem Auto und brachte sie zur Haustür. Der zweite Schlüssel passte und sie betrat ein enges holzgetäfeltes Treppenhaus. Rechts schien eine Tür in den Keller zu führen, geradeaus ein paar Stufen hinauf war die Tür zur Erdgeschosswohnung. Jenny schleppte ihre Taschen die Treppe in den ersten Stock hinauf und schloss feierlich die Tür zu ihrem neuen Zuhause auf Zeit auf.
Ein heller quadratischer Flur empfing sie, von dem Türen in Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer und Bad abgingen. Mehr Räume gab es nicht. Michael Danner hatte die Wohnung nach der Trennung von seiner Frau als Übergang und günstigen Ausgangspunkt zum Flughafen Hahn genutzt.
Erfreut sah Jenny die helle Einbauküche, und auch das Wohnzimmer war in hellen, freundlichen Farben gehalten. Im Schlafzimmer stand ein schmales unbezogenes Bett. Enttäuscht stellte sie fest, dass die Wohnung keinen Balkon hatte. Vielleicht konnte man sich hinter das Haus in den Garten setzen.
Nach und nach trug sie alles hinein. Dann schaltete sie den Kühlschrank ein und erstellte eine Einkaufsliste.
Die Zeiten, wo der Weg zum Supermarkt nur fünf Minuten dauerte, waren vorbei. Der nächste Großmarkt war in Emmelshausen, etwa 15 Kilometer entfernt. Dort befand sich jedoch, wie sie recherchiert hatte, alles Notwendige. Läden, Ärzte, ein Kulturzentrum und alles, was man sonst so brauchte. In Badenhard selbst gab es immerhin einen Metzger, einen Familienbetrieb, der jedoch laut Michael Danner für seine Qualität und seine günstigen Preise weit über die Gegend hinaus berühmt war.
Ihr Blick fiel auf die Heizung. In Frankfurt war es leidlich warm gewesen, hier im Hunsrück schien es an diesem bewölkten Tag deutlich kühler. Sie drehte den Thermostat auf 23 Grad. Dann begann sie mit dem Auspacken.
Eine Stunde später hatte sie alles verstaut und das Bett mit der mitgebrachten Bettwäsche bezogen. Mittlerweile war es angenehm warm und Jenny schaute sich zufrieden um.
Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es schon nach sechzehn Uhr war. Sie hatte Hunger … Es war Zeit zum Einkaufen.
Sie fuhr zurück zur A61 und folgte ihr einige Kilometer bis zur nächsten Ausfahrt. Wenige Minuten später fuhr sie einen Hügel hinab nach Emmelshausen hinein. Neugierig sah sie nach rechts und links. Ein Optiker, ein Friseur, ein Schmuckgeschäft, sogar einen Bioladen gab es. An einem Kreisel sah sie rechts das Logo eines Supermarktes und bog ab. Der Parkplatz war halb leer und auch im Laden herrschte ein eher gemütlicher Betrieb. Nach weiteren zehn Minuten war ihr Einkaufswagen brechend voll. Im letzten Moment stopfte sie noch eine Flasche Rosé dazu. Dann stellte sie sich an der Kasse an. Nur ein weiterer Kunde war vor ihr. Als sie an der Reihe war, begrüßte die Kassiererin sie mit einem freundlichen Lächeln. Irritiert lächelte Jenny zurück. Sie kam sich vor wie im Urlaub. So entspannt hatte sie in Frankfurt selten einkaufen können.
Als sie nach Badenhard hinein fuhr, war dort deutlich mehr Leben als früher am Tag. Man merkte, dass hier viele Pendler wohnten, die langsam aus Mainz oder Koblenz zurückkamen. Es parkten mehr Autos in den Einfahrten und an der Straße, und hier und da war jemand im Garten zugange.
Sie fühlte, dass einige Blicke ihr folgten, als sie in den Heckenweg abbog. Vor dem Haus stand ein Mann mittleren Alters an der Schafweide und reparierte etwas am Zaun.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er, als sie einen Einkaufsbeutel nach dem anderen aus dem Auto hob.
„Nett von Ihnen, aber es geht schon. Ich gehe einfach mehrmals.“
„Ich kann doch mit anfassen, warten Sie.“ Mit Leichtigkeit nahm er vier Tüten und deutete mit ihnen aufs Haus. Jenny blieb nichts anderes übrig, als die beiden anderen zu greifen und voranzugehen.
„Wohnen Sie jetzt hier?“, fragte er auf halbem Weg die Treppe hinauf.
„Fürs erste“, erklärte sie.
„Ferien?“ Er wartete, bis sie die Tür aufschloss.
„Hier hinein bitte“, sie deutete auf die Küche. „Nein, ich bin nach Koblenz versetzt worden. Ich komme aus Frankfurt.“
Er stellte die Taschen auf den Küchentisch und streckte die Hand aus. „Willi … Willi Huber. Ich wohne schräg gegenüber. In dem gelben Haus. Mir gehören die Schafe.“
„Sehr erfreut“, antwortete Jenny und schüttelte die dargebotene Hand. „Dann …“
„Schönen Abend noch! Hoffentlich gefällt es Ihnen bei uns!“
Er wandte sich zum Gehen und Jenny begleitete ihn zur Tür. „Und danke!“
Er brummte etwas Unverständliches.
„Ach …“, fing Jenny an.
Er blieb stehen und sah sie fragend an. „Die Mieter unter mir …“
„Die sind nur ab und zu am Wochenende hier. Keine Ahnung, ob sie diese Woche kommen.“ Sein Unterton besagte, dass das Verhältnis zu ihnen nicht das Wärmste war.
„Nochmal danke!“, sagte Jenny, und er verschwand die Treppe hinunter.
Jenny räumte alles in die Schränke. Dann kochte sie sich einen Teller Spaghetti mit Öl und Knoblauch und trank ein Glas Rosé dazu.
Den Fernseher hatte sie noch in Frankfurt und so nahm sie sich ein Buch und las, bis ihr die Augen zufielen.
Später lag sie im Bett und konnte nicht schlafen. Irgendwo bellte ein Hund, und ein Schaf blökte schläfrig.
Wind kam auf, und ein merkwürdiges Surren war kurze Zeit zu hören. Irgendwann dämmerte sie weg. Mitten in der Nacht schreckte sie hoch. Bilder ihres Traumes, in dem Michael vor ihr weglief und sie versuchte, ihm zu folgen, flackerten noch einige Momente durch ihren Kopf. Was hatte sie geweckt? Da … jetzt hörte sie es wieder. Ein lautes quietschendes Pfeifen, wie es sich angehört hatte, wenn sie als Kinder Grashalme zwischen die Finger geklemmt und dagegen geblasen hatten. Es wiederholte sich, kam näher und entfernte sich wieder. Was konnte das sein?
Sie erhob sich und tappte auf nackten Füßen ans Fenster. Vorsichtig schob sie die Gardine zur Seite. Links sah sie die Schafe, die zusammen gedrängt am Zaun standen. Doch da gegenüber war irgendetwas. Sie beugte sich weiter vor. Eine braune Gestalt war dort, nur undeutlich zu erkennen. Jetzt bewegte sie sich, ein weißer Fleck blitzte auf, als das Reh davon sprang. Ein zweites tauchte auf und hastete hinterher.
Kopfschüttelnd ging Jenny zurück ins Bett. Sie lächelte. Rehe direkt vor dem Haus. Es war, als wäre Frankfurt und alles, was damit in Verbindung stand, plötzlich ganz weit weg. Kurze Zeit später schlief sie tief und traumlos.
Das restliche Wochenende verbrachte sie mit zwei weiteren Fahrten nach Frankfurt. Endlich hatte sie alles im Auto, was sie mitnehmen wollte. Sie warf einen letzten Blick in alle Zimmer und kontrollierte, dass sämtliche Elektrogeräte, die zurückblieben, ausgestöpselt waren. Dann stellte sie die Heizung auf eine Temperatur, die gewährleisten würde, dass nichts einfror. Ihre Nachbarin, der sie die Schlüssel zurückgegeben hatte, würde ab und zu nach dem Rechten sehen. Jenny würde die Wohnung zunächst behalten und möglicherweise irgendwann vermieten. Die Mieten in Frankfurt hatten astronomische Höhen erreicht, und es würde bei der herrschenden Wohnungsknappheit nicht schwer sein, Mieter zu finden.
Es war eine merkwürdige Empfindung, als sie schließlich auf die A66 Richtung Mainz einbog. Als würde sie mit etwas abschließen und gleichzeitig einem Neuanfang entgegensehen. Sie kostete das Gefühl einen Moment aus wie einen neuen Geschmack auf der Zunge. Ja, es gefiel ihr definitiv.
Abends legte sie ihre Kleidung für den nächsten Tag bereit. Es sollte ihr erster auf der neuen Dienststelle sein. Obwohl sie seit vielen Jahren ihre eigene Abteilung geleitet hatte, würde sie hier zunächst an zweiter Position unter einem gewissen Andreas Sobottki arbeiten. Eine leitende Stelle war nicht frei, hatte man ihr bedauernd mitgeteilt. Ihre Bezüge blieben dadurch jedoch unverändert.
Jenny war es einerlei. Ihr Ehrgeiz war mit dem Moment, als Biederkopf ihr seine Absicht, sich zu trennen, mitteilte, gestorben. Sie würde machen, was ihr gesagt wurde und damit zufrieden sein.
Auf einer Karte, die sie an der Tankstelle gekauft hatte, verschaffte sie sich einen Überblick über Koblenz und seine Stadtteile und sah nach, wie sie zum Polizeipräsidium kommen würde.