Kapitel 4

Am nächsten Morgen stand sie früh auf, um ja nicht zu spät zu ihrem ersten Tag auf der neuen Arbeitsstelle zu kommen. Die A61 war voll, und die Karawane aus Lastwagen mit überwiegend osteuropäischen Kennzeichen und PKW, die häufig gelbe Nummernschilder hatten und Wohnwagen hinter sich, schob sich mit kaum mehr als Tempo achtzig Richtung Koblenz. Richtig schlimm wurde es jedoch, als sie in die Stadt fuhr. Die Straßenführung war auch mit Navi kaum zu durchschauen, und mehrmals musste sie wenden, um wieder auf den richtigen Weg zu kommen. Entnervt fuhr sie kurz vor acht in die Tiefgarage der Dienststelle.

Als sie endlich den richtigen Raum gefunden hatte, war es bereits fünf nach. Sie klopfte an die Tür ihres neuen Abteilungsleiters und wartete. Nichts. Nach ein paar Sekunden klopfte sie noch einmal.

„Morgen. Sie sind sicher die Neue aus Frankfurt?“ Die Stimme hinter ihr ließ sie herumfahren. „Nana, ich wollte Sie nicht erschrecken.“

Ein älterer Mann mit Bauchansatz und zurückweichendem Haar stand vor ihr, zwei Pappbecher, aus denen es verführerisch nach Kaffee duftete, in der Hand. Er reichte ihr den Ellbogen und wies damit, nachdem sie ihn andeutungsweise geschüttelt hatte, auf die Tür.

Jenny öffnete und ließ ihn vorgehen. Er streckte ihr einen der Becher entgegen. „Für Sie. Dachte, Sie könnten was Warmes vertragen. Ohne Kaffee komme ich morgens gar nicht in die Gänge.“

Jenny nahm den Kaffee und stellte sich endlich vor. „Danke, Jenny Becker, das geht mir genauso! Also mit dem Kaffee. Sie sind …?“

Sie schüttelten sich die Hände. „Sobottki. Herzlich willkommen. Setzen Sie sich doch.“

Er wies auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch, der schon bessere Jahre gesehen hatte, und ließ sich selbst mit einem Ächzen dahinter nieder. Jenny setzte sich und sah sich im Büro ihres Vorgesetzten um. Ihr Blick fiel auf eine Kaffeemaschine, die auf einer Anrichte neben dem Schreibtisch stand. Sobottki folgte ihrem Blick. „Kaputt. Ich muss endlich eine neue besorgen. Aber Sie wissen ja, wie das ist.“

Das wusste Jenny eigentlich nicht, eine Kaffeemaschine hätte sie sofort ersetzt, aber sie verstand, was er ihr sagen wollte.

„Also nochmal herzlich willkommen. Wir werden dafür sorgen, dass Sie sich hier wohlfühlen. Ich hoffe, Sie werden den Großstadttrubel nicht vermissen.“

Er ließ es wie eine Frage klingen und Jenny antwortete pflichtgemäß. „Sicher nicht, Herr Sobottki. Außerdem ist Koblenz ja auch eine gar nicht so kleine Stadt. Sicher passiert hier genug. Und Frankfurt ist nicht so schlimm, wie immer behauptet wird.“

Er wiegte den Kopf. „Mit Tötungsdelikten und Kapitalverbrechen haben wir hier nur selten zu tun. Warum haben Sie sich denn versetzen lassen?“

Jenny hatte mit dieser Frage gerechnet, trotzdem brachte sie sie kurz aus dem Konzept. Ihr Zögern dauerte einen Moment zu lange, und Sobottki hob fragend eine Augenbraue. „Wenn Sie nicht …“

„Private Gründe“, sagte sie hastig. Die Wahrheit konnte sie kaum sagen und wenn sie angab, eine ruhigere Dienststelle gesucht zu haben, konnte es einen schlechten Eindruck in Bezug auf ihr berufliches Engagement machen.

Sobottki war offensichtlich mit der Antwort nicht zufrieden, sah aber darüber hinweg. „Dann wollen wir Sie mal dem Team vorstellen. Frank und Britta werden Ihnen direkt zuarbeiten und Sie erstatten mir Bericht. Ich weiß, dass Sie lange die Dienststellenleitung innehatten. Wird das ein Problem für Sie?“

„Aber nein. Das wusste ich ja und habe mich bewusst so entschieden. Kein Problem von meiner Seite. Werden die Kollegen Schwierigkeiten haben, mich als Hauptkommissar Wolnys Nachfolgerin zu akzeptieren?“

„Ich glaube nicht. Aber finden Sie es selbst heraus.“ Er lächelte. Dann brüllte er laut. „Frank! Britta! Kommt mal rüber!“

Als sich die Tür öffnete und die beiden neuen Kollegen dicht nacheinander eintraten, musste sich Jenny ein Schmunzeln verkneifen. Sie wandelte es in ein freundliches Lächeln um und stand auf, um die beiden mit Handschlag zu begrüßen.

Frank Kunkel war eher klein und breit gewachsen, er war etwa so groß wie Jenny und hatte weiches, lockiges Haar. Sein Gesicht war rundlich und erinnerte an die pausbäckigen Gesichter von Renaissance-Engeln.

Seine Kollegin Britta Manger überragte ihn um einige Zentimeter und war gertenschlank. Lange glatte hellblonde Haare umrahmten ein Gesicht, das weniger hübsch als ausdrucksstark war.

Beide grüßten Jenny freundlich, aber zurückhaltend. Abwartend sahen sie zu Sobottki.

Dieser betrachtete die Vorstellung mit väterlicher Miene. „Die Formalitäten können Sie im Geschäftszimmer im Erdgeschoss erledigen, Frau Becker“, erklärte er. „Die Kollegen zeigen Ihnen alles. Vielleicht machen Sie sich erst einmal mit den aktuellen Fällen vertraut. Ich hoffe, Sie werden sich hier wohlfühlen. Aber das habe ich, glaube ich, schon einmal gesagt.“

Jenny bedankte sich und folgte den neuen Kollegen ins Nebenzimmer. „Hier sitzen wir“, erklärte Frank mit einer ausschweifenden Handbewegung.

Das Büro war mittelgroß und unterschied sich kaum von den unzähligen anderen Büros, die Jenny im Laufe ihres Berufslebens schon gesehen hatte. Zwei Schreibtische standen einander gegenüber, und alle Wände waren mit Aktenschränken zugebaut. Auf einem kleinen Beistelltisch stand eine Kaffeemaschine.

Frank sah ihren Blick. „Frisch gekocht, möchten Sie noch einen?“, fragte er mit einem Heben der Augenbraue.

„Gerne“, nickte Jenny, die zu Kaffee nur sehr selten nein sagte. „Schwarz.“

Frank suchte eine saubere Tasse und fand sie schließlich neben dem kleinen Waschbecken, das Jenny zuerst gar nicht gesehen hatte. Britta stand schweigend neben Jenny, während Frank die Tasse vollschenkte und Jenny reichte.

„Vielen Dank!“, sagte sie und nahm einen vorsichtigen Schluck. „Gut“, setzte sie hinzu.

„Dann können wir Ihnen ja Ihr Büro zeigen.“ Im Ton der jüngeren Kollegin klang Ungeduld durch, und sie hielt sich extrem gerade, als sie Jenny durch die Verbindungstür in den nächsten Raum winkte.

Ein einziger Schreibtisch nahm etwa ein Drittel des Raumes ein. Es gab auch hier Aktenschränke, ein Waschbecken und ein großes Fenster mit einer Fensterbank voller Orchideen, von denen keine einzige blühte. Auf dem Schreibtisch stand ein kleiner Tulpenstrauß, wie es sie in Supermärkten gab, in einer Plastikvase.

Jenny sah fragend zu Frank, dem eine zarte Röte in das ansonsten blasse Gesicht stieg.

„Zur Begrüßung“, murmelte er verlegen. Aus den Augenwinkeln sah Jenny, wie Britta die Augen verdrehte.

„Vielen Dank. Sind das die aktuellen Fälle?“, fragte sie mit einem Blick zu einem Aktenstapel, der sich neben den Blumen türmte.

„Aktuelle und ältere. Nur ungelöste natürlich. Selbstverständlich sind alle im PC, aber der Chef will, dass wir parallel eine Papierakte führen. Zur Sicherheit.“

Wieder verdrehte Britta die Augen und seufzte.

„Haben Sie ein Problem?“, fragte Jenny sie direkt.

Die junge Frau schrak zusammen. „Nein … wieso?“

Jenny sah sie abwartend an.

„Soll ich Ihnen das Geschäftszimmer zeigen?“, fragte Britta schnell.

„Gerne. Und später vielleicht die Kantine? Ich würde gerne zum Einstand ein Frühstück ausgeben.“

Sie erledigte die notwendigen Formalitäten und traf ihre beiden Kollegen danach in der Kantine im Erdgeschoss. Mit etwa siebenhundert Mitarbeitern war das Polizeipräsidium etwa ein Drittel so groß wie die Frankfurter Dienststelle.

Bei einem Frühstück aus gummiartigen belegten Brötchen erzählten ihr die beiden mehr über ihren Aufgabenbereich, wobei meistens Frank sprach, und Britta nur ab und zu eine Bemerkung einwarf oder beifällig nickte.

„Hier ist es vermutlich viel ruhiger als in Frankfurt“, stellte Frank fest. „Es gibt nur ab und zu einen echten Mordfall, häufiger sind häusliche Streitereien, die ab und zu auch mal in einem Totschlag oder schwerer Körperverletzung enden.“ Sein Tonfall war beinahe entschuldigend.

„In Frankfurt ist das auch nicht viel anders“, stellte Jenny fest. „Vermutlich ist die Banden- und Drogenkriminalität hier nicht so ausgeprägt, aber Morde hatten wir dort auch nicht am laufenden Band.“

„Dann wird Wolli aber enttäuscht sein“, grinste Frank und Britta ergänzte ernst. „Er hofft sicher auf lauter spektakuläre Fälle.“

„Waren Sie nicht damals in den Fall von diesem Serienmörder involviert?“, erkundigte sich Frank.

Jenny wurde es eiskalt. Sie hatte nicht erwartet, dass die Geschichte sogar hier in Koblenz bekannt war. Sie hatte so viel versucht, um diese dunkle Seite ihrer Vergangenheit zu vergessen.

„Ich möchte nicht darüber reden“, sagte sie leise, aber bestimmt. Frank sah sie betroffen an und setzte zu einer Entschuldigung an, doch Jenny kam ihm zuvor. „Ich weiß ja nicht, wie es hier ist, aber in Frankfurt duzen wir uns alle. Mit ganz wenigen Ausnahmen zumindest. Also?“ Sie sah die beiden erwartungsvoll an.

Franks rundes Gesicht leuchtete auf. „Aber gerne!“, erklärte er.

Britta nickte und gab ihre Zustimmung.

„Nur anstoßen müssen wir später“, stellte Jenny fest. „Sollten wir jetzt nicht zurückgehen? Nicht, dass der Chef meckert.“

„Ach der“, Frank winkte ab. „Der sagt nie was.“