Kapitel 7

„Bingo“, rief Sascha zur selben Zeit im Frankfurter Präsidium. „Ich habe etwas.“ Stirnrunzelnd las er den Text der Vermisstenmeldung. „Helmut Roth, neunundvierzig Jahre, vermisst seit gestern, schwer krank, braucht dringend Medikamente, trägt einen Notfallanhänger.“

Sascha sah auf. „Das könnte er sein.“

„Versuch, alles über ihn heraus zu finden. Alles, was dem Prof helfen könnte, ihn zu identifizieren“, wies Logo ihn an. „Wer weiß, ob sie den Anhänger öffnen können und ob der Inhalt lesbar ist.“

Sascha sah erstaunt auf. „Wir brauchen doch nur DNA von dem Vermissten besorgen. Dann kann der Prof sie sofort abgleichen. Gebissaufnahmen von seinem Zahnarzt wären auch hilfreich.“

„Geht das mit der DNA denn auch bei einem Brandopfer?“, fragte Logo erstaunt. „Verschmort da nicht alles?“

Sascha schüttelte den Kopf. „Wie lange machst du den Job schon? So was müsstest du eigentlich wissen. Auch bei völlig verbrannten Leichen lässt sich in der Regel noch DNA nachweisen.“

„Du weißt doch, dass ich diesen Kram hasse. Dann mach dich auf den Weg und besorg das Zeug.“

„Jawohl Chef!“ Sascha salutierte und verließ grußlos das Büro.

Die Adresse des Vermissten lag im Frankfurter Stadtteil Gallus, einem aus vielen ehemaligen Arbeitersiedlungen bestehenden Gebiet zwischen den Gleisen des Hauptbahnhofs und des Güterbahnhofs.

Sascha fuhr an den gleichförmigen Wohnblöcken vorbei und reckte den Hals, um die Hausnummern lesen zu können. Er quetschte den Dienstwagen in eine winzige Parklücke.

Eine verhärmt aussehende Frau öffnete ihm die Tür. Ihr Blick leuchtete für eine Sekunde hoffnungsvoll auf. Offensichtlich erkannte sie jedoch schnell, dass Sascha ihr keine glückliche Nachricht überbringen würde.

„Haben Sie Helmut gefunden?“, fragte sie, ohne ihn hereinzubitten.

„Darf ich reinkommen?“, fragte Sascha.

Frau Roth machte die Tür wie in Trance weiter auf. „Er ist tot, oder?“, sagte sie und schlurfte auf ausgetretenen Pantoffeln voran in die gute Stube.

Sascha hatte das Gefühl, sich bücken zu müssen, so niedrig schien ihm das kleine, vollgestellte Wohnzimmer mit seinem Nippes und seinen Schondeckchen. Obwohl alles blitzsauber war, roch es irgendwie muffig. An eine Wand gequetscht stand ein unbenutztes Krankenhausbett mit einem Plastiküberzug.

Sie blieben neben der Eckcouch stehen. Frau Roth bot ihm keinen Platz an.

„Es ist so …“, begann Sascha unbehaglich. Dann fing er nochmal anders an. „Hat Ihr Mann einen Notfallanhänger?“

Die Frau schlug eine Hand vor den Mund. Dann ließ sie sie langsam sinken. „Sie haben ihn gefunden? Sie haben Helmut gefunden? Er ist tot, oder?“

„Wir haben einen Toten gefunden, der noch nicht identifiziert werden konnte. Er hatte einen solchen Anhänger. Es könnte sich um Ihren Mann handeln.“

Frau Roth schwankte und Sascha griff schnell nach ihrem Ellbogen und stützte sie. Er schob sie zur Couch und half ihr, sich zu setzen. Dann ließ er sich neben ihr nieder und wartete, bis sie sich etwas gefangen hatte.

„Er wäre sowieso bald gestorben“, sagte sie tonlos. „Lungenkrebs. Dabei hat er nie geraucht.“

„Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?“, fragte Sascha behutsam.

„Gestern Abend. Nach dem Abendessen war’s. Wir sehen immer diese Quizsendung. Als sie fertig war, wollte er nochmal weg. Spazieren. Er ist einfach nicht wieder gekommen. Er geht sonst nie abends weg. Wo ist er denn bloß hin?“ Sie brach in Tränen aus und lehnte sich an Sascha, der unbeholfen ihren Rücken streichelte und gleichzeitig in seiner Tasche nach einem Taschentuch kramte.

„Sein ganzes Leben hat er hart gearbeitet“, redete die Frau mit tränenerstickter Stimme weiter. „Immer Schicht. Damals war’s noch die Höchst AG. Dabei wollt er das Abi nachmachen. Aber dann kam gleich Elli, das ist unsre Älteste, und da war das nix mehr mit der Abendschule. Und ein Jahr später dann gleich der Alex. Und jetzt, wo die Kinder aus dem Haus sind und wir’s uns hätten schön machen können …“

Sascha wusste nicht, was er sagen sollte, doch Frau Roth erwartete offensichtlich keine Antwort. Sie putzte sich die Nase und redete weiter. „Vor vier Jahren war’s. Da hat er nachts immer so geschwitzt. Und gehustet. Und der Arm hat ihm wehgetan. Helmut, sag ich, Helmut, du musst zum Arzt gehen und er sagt, nee Frieda, das is nix, das geht schon vorbei. Und dann, als es nich mehr anders ging und er doch hin musste, da war’s zu spät. Kleinzelliges Adenokarzinom“, sprach sie so sorgfältig aus, als hätte sie es auswendig gelernt, was vermutlich auch der Fall war. „Er hat schon fünf Chemos bekommen. Fünf! Und es is immer schlechter mit ihm geworden. Nur noch zu Hause rumsitzen konnte er. Es hat ihn verrückt gemacht. Das muss doch besser werden, hat er gesagt. Wofür denn sonst die ganze Behandlung? Sagen Sie mir, wofür die ganze …?“ Ihre Stimme brach, und sie begann, haltlos zu schluchzen.

„Wie gesagt, wir wissen noch nicht genau, ob es Ihr Mann ist“, erklärte Sascha hilflos. „Soll ich jemanden für Sie anrufen? Ihre Kinder?“

„Die Kinder … ich muss es ihnen sagen … die leben in Berlin, alle beide.“ Zu seinem Schrecken merkte Sascha, dass Frau Roth weiß im Gesicht wurde und in sich zusammen sackte. Schnell half er ihr, sich auf die Couch zu legen, und rief einen Notarzt.

Zehn Minuten später übergab er Frau Roth erleichtert in die Hände der Besatzung eines Rettungswagens. Der herbeigerufene Notarzt hatte ihr eine Injektion verabreicht und sich für ihre stationäre Aufnahme ausgesprochen. Obwohl die Frau kaum mehr ansprechbar war, hatte Sascha sich doch die Erlaubnis holen können, DNA Proben sicher zu stellen. Er ging ins Bad und nahm Helmut Roths Rasierer an sich. Da er nicht wusste, welche der beiden Zahnbürsten seine war, steckte er kurzerhand beide ein. Vorher hatte er sich vergewissert, dass eine Ersatzzahnbürste bereit lag.

Sein nächster Weg führte ihn in die Gerichtsmedizin in Frankfurt, wo er die Proben in der Hoffnung auf neue Informationen direkt dem Prof überreichte.

„Na, haben Sie es doch nicht ohne eine feine, aufgeschnittene Leiche ausgehalten?“ Professor Schwind schien bester Laune zu sein. „Die hier ist allerdings schon ein bisschen kross. Kommen Sie ruhig näher. Ich weiß ja, dass Sie nicht so einen schwachen Magen haben wie Ihr Kollege!“

Sascha fühlte sich verpflichtet, Logo in Schutz zu nehmen. „Es kann ja nicht jeder so abgebrüht sein. Logo ist halt eher der sensible.“

„Herr Stein?“, fragte der Prof ungläubig. „Na, wenn Sie es sagen. Was macht überhaupt Frau Becker? Ich glaub ja nicht, dass sie es lange in der Provinz aushält.“

„Sie hat sich nur einmal kurz gemeldet. Da ging es ihr gut.“

Der Prof wollte etwas sagen, zögerte dann aber und wandte sich der Leiche zu.

„Männlich, circa fünfzig, wurde erwürgt.“

„Erwürgt?“, fragte Sascha überrascht. „Also war er schon tot, als der Brand ausbrach?“

Der Prof nickte. „Gefesselt, auf den Turm geschleppt, erwürgt, Turm angezündet. Die Reihenfolge ist reine Vermutung. Vielleicht auch unten erwürgt und tot hoch geschleppt. Wäre aber einfacher gewesen, wenn er noch gelaufen wäre.“

Sascha dachte einen Moment nach. „Also hat man nicht versucht, den Tod als Unfall darzustellen. Sonst hätte man ihn hinuntergeworfen und die Fesseln entfernt.“

„Würde ich annehmen, aber wer bin ich, Ihren Job zu machen. Auf jeden Fall konnte ich DNA sicherstellen. Haben Sie Vergleichsproben?“

Sascha überreichte seine Probenbeutel.

„Gut, gut. Morgen Abend könnten wir Ergebnisse haben. Vielleicht auch erst übermorgen. Aber wir konnten diese Notfallkapsel öffnen. Der Inhalt ist durch die Hitze beschädigt, aber man konnte noch ein paar Wörter lesen. Sie liegt da hinten auf dem Tisch.“

Gespannt ging Sascha zu dem Stahltisch und betrachte die verfärbten Papierschnipsel, die einzeln unter Glas gepresst aufgereiht waren. Daneben lagen die teilweise geschmolzenen Teile der Kapsel in einer Schale. Sascha beugte sich über die Schnipsel und kniff die Augen zusammen. Dann nahm er eine Lupe, die danebenlag, und versuchte, die Schrift zu entziffern. Einen Moment später richtete er sich auf und seufzte. Wenn Helmut Roth seinen Anhänger nicht verliehen hatte, war er identifiziert.

Sascha winkte dem Prof zu, betrachtete noch einmal neugierig die verkohlten Überreste der Leiche und machte sich dann auf den Weg zurück ins Präsidium.

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Jenny und Frank waren ins Koblenzer Präsidium zurückgekehrt und hatten ihre Ergebnisse mit Brittas abgeglichen. Die Suche nach Hirschhausen lief, und da sie momentan nicht mehr tun konnten, machten sie gegen achtzehn Uhr Schluss.

Als Jenny eine halbe Stunde später vor ihrem Haus hielt, schallte laute Schlagermusik aus dem Erdgeschoss. Ihre Nachbarn waren offensichtlich eingetroffen. Die Schafe hatten sich an das entfernte Ende der Weide zurückgezogen, wofür Jenny vollstes Verständnis hatte.

Sie ging ins Haus und überlegte, ob sie sich vorstellen sollte, ließ es dann jedoch. Vermutlich hatten sie Besuch. Besuch mit einem fragwürdigen Musikgeschmack.

Erleichtert schloss sie ihre Eingangstür hinter sich und lehnte sich dagegen. Nur um gequält aufzustöhnen.

Die Isolierung schien in diesem Haus ausgesprochen dünn zu sein. Die Musik war ein Stockwerk höher und hinter geschlossener Tür fast unverändert laut.

Eine Stunde später war sie kurz davor, verrückt zu werden. Sie hatte versucht, fernzusehen, zu lesen, im Internet zu recherchieren, doch der infernalische Krach aus der Wohnung unter ihr machte es unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen.

Entschlossen marschierte sie nach unten und klingelte.

Ein blonder Hüne mit strubbligen blonden Haaren riss die Tür auf und strahlte sie an.

„Sie sind bestimmt die neue Nachbarin von oben!“, rief er mit dröhnender Stimme. „Kommen Sie rein. Wir essen gerade zu Abend. Essen Sie mit. Svantje!“, brüllte er über die Schulter. „Leg noch einen Teller auf!“

Jenny versuchte, etwas zu sagen, doch er fiel ihr ins Wort. „Kommen Sie, kommen Sie!“

Sie hob abwehrend die Hand und er hielt für einen kurzen Moment inne. Bevor er weiter brüllen konnte, sagte sie schnell. „Die Musik. Könnten Sie sie wohl etwas leiser machen?“

„Was?“ Er war völlig verblüfft. „Ist sie zu laut? Natürlich machen wir sie leiser. Svantje, komm doch mal.“

Eine dralle Mittdreißigerin mit ebenso flachsblonden Haaren kam, einen Kochlöffel in der Hand, aus dem Inneren der Wohnung. „Hallo! Sie wohnen oben, ja? Dann auf gute Nachbarschaft. Wollen Sie mitessen? Es gibt Frikandellen!“

„Nein, bitte nicht“, sagte Jenny schwach. „Ich meine, ich habe schon gegessen. Nur die Musik.“

„Schön, gell?“, lachte Svantje.

„Sie ist …“ Der Hüne zog fragend die Augenbrauen zusammen. „Wie heißt du eigentlich?“

„Becker“, sagte Jenny fest. „Jenny Becker.“

„Jenny“, er lachte schallend. „Ich bin der Luuk.“

„Also, was ich sagen wollte, Svantje. Die Musik ist der Jenny zu laut.“

„Wirklich? Dann machen wir sie gleich leiser. Du willst wirklich nicht mitessen?“

„Wirklich nicht“, sagte Jenny bestimmt. „Ich muss auch wieder nach oben und noch etwas arbeiten.“

Svantje verschwand und die Musik wurde auf ein erträgliches Maß gedämpft. Erleichtert ging Jenny in ihre Wohnung und setzte sich in der Absicht, noch etwas am Laptop zu arbeiten, auf die Couch. Kaum hatte sie ihn aufgeklappt, setzte das Wummern von unten wieder ein. Lauter als zuvor. Entnervt ließ sie Arbeit Arbeit sein, zog sich ihre dicke Jacke an und verließ das Haus. Sie würde einen langen Spaziergang machen und wenn es noch so laut wäre, wenn sie wieder käme, würde sie Klartext reden.

Sie folgte der unbefestigten Schotterstraße, die einige hundert Meter hinter der Schafweide in ein Waldgebiet führte. Hier standen weit zurückgesetzt und halb versteckt hinter Bäumen vereinzelte Gebäude. In einigen brannte Licht, andere lagen dunkel da und machten einen unbewohnten Eindruck.

Nachdem sie die letzten Häuser hinter sich gelassen hatte, bog sie an einer Weggabelung rechts ab und folgte einem Waldweg, der stetig bergauf führte. Bald war sie außer Atem und verlangsamte ihr Tempo.

Sie passierte eine Stelle, an der ein alter imposanter Baumstumpf prangte. Neben ihm luden zwei Bänke und ein Tisch zum Ausruhen ein. Neugierig trat sie näher. Ein Schild bezeichnete den Stumpf als ehemaligen Katzenbaum. Ein neuer, junger Baum neben ihm sollte den alten wohl ersetzen.

Nachdem sie verschnauft hatte, wanderte sie weiter. Still war es hier. Sie begegnete niemandem und hörte nichts außer Vogelstimmen. Langsam dämmerte es, und sie blieb zögernd an einer Abzweigung stehen. Sollte sie versuchen, hier links zu gehen und so einen anderen Weg zurück zu nehmen? Da es jetzt schnell dunkel wurde, entschied sie sich dagegen und nahm denselben Weg zurück, den sie gekommen war. Es war fast neun, als sie sich ihrem Haus näherte. Alles war dunkel und still. Erleichtert kramte sie nach ihrem Schlüssel.

Um ein Uhr nachts schrak sie aus dem Schlaf. Lautes Schreien und Trampeln hallte durch das ganze Haus. Ihre Nachbarn kamen offensichtlich nach Hause. Jenny zog sich das Kissen über den Kopf. Viel brachte es nicht, doch nach einer halben Stunde trat endlich Ruhe ein.