Kapitel 9

Nachdem er den letzten Bissen herunter geschluckt hatte, erkundigte sich Sascha telefonisch im Sachsenhäuser Krankenhaus nach Frau Roth und erfuhr, dass sie noch einen Tag zur Beobachtung würde bleiben müssen. Ihr Zustand war noch bedenklich und ihr Arzt riet von einer Befragung zu diesem Zeitpunkt ab. Ihre Tochter war auf dem Weg von Berlin nach Frankfurt und würde spät am selben Abend eintreffen.

Ohne sich viel Hoffnung zu machen, durchsuchte er die sozialen Netzwerke nach Einträgen zu Helmut Roth und wurde zu seiner Überraschung fündig.

„Roth war im Vorstand des Frankfurter Katzenschutzvereins. Vielleicht sollte ich mich dort umhören. Der Arzt möchte momentan nicht, dass ich mich mit Frau Roth unterhalte.“

„Ob du da heute noch jemanden erwischst?“, meinte Logo wenig optimistisch.

„Ich probier es einfach“, antwortete Sascha und griff nach seiner Jacke.

Der Frankfurter Katzenschutzverein befand sich in einer kleinen Sackgasse, die von der Mainuferstraße in Höhe Oberrad abging. Das Tor war geschlossen, auf dem Gelände war jedoch ein Mann zu sehen, der den Weg fegte. Sascha klingelte und winkte, als der Mann herübersah. „Sprechstunde ist nur bis 15.30 Uhr!“, rief er mit genervtem Unterton.

„Für mich nicht!“, rief Sascha zurück und hob seinen Ausweis in die Höhe.

Der Mann kam, den Besen in der Hand, näher. Als er direkt am Zaun stand, kniff er die Augen zusammen und studierte den Ausweis ausgiebig.

„Polizei? Was ist denn? Geht es um ein Fundtier?“

„Ich möchte jemanden sprechen, der Herrn Roth kennt.“

„Der is nich hier.“

Langsam wurde es Sascha zu bunt. „Lassen Sie mich jetzt bitte herein.“

Widerwillig öffnete der Mitarbeiter die Tür. „Ich mach hier nur sauber. Freiwilliges Soziales Jahr. Naja, ist gar nicht so schlecht hier.“

Er schlurfte voran zu einem Nebenbau und wies auf eine Tür. „Gehn Sie ruhig rein. Das Büro ist gleich links.“

Auf Saschas Klopfen reagierte niemand, und so öffnete er die Tür und ging in den kleinen, vollgestellten Raum. Zunächst dachte er, dass er bis auf die abgenutzten Möbel leer wäre, dann sah er jedoch, dass in einem etwa einem mal einem Meter großen Klappkäfig eine schwarze Katze mit weißen Pfötchen und einem weißen Latz lag. Er hockte sich vor sie und legte die Hand auf das Gitter. Die Katze starrte teilnahmslos vor sich hin. Sie sah schlecht aus, mager und struppig. Der Futternapf in der Ecke schien unangetastet.

„Sie ist blind“, sagte unerwartet eine Stimme hinter ihm.

Erschrocken fuhr er hoch und konnte das Gleichgewicht nur halten, indem er sich an dem Käfig festhielt. Die Katze quittierte die Erschütterung mit einem zaghaften Maunzen, das ihm direkt in die Seele drang.

„Blind? Was ist ihr passiert?“, wollte er wissen und blickte in die Augen einer Frau.

„Nichts. Sie ist nur alt geworden und ihren Besitzern zur Last gefallen. Sie haben sie einfach hier abgeliefert. Dabei ist es eine ganz liebe. Ich weiß nicht, ob sie es schafft. Sie trauert sehr. Wir brauchen dringend ein Zuhause für sie.“

Sascha war fassungslos. „Das gibt es doch gar nicht. Ich weiß ja, dass Menschen zu vielem fähig sind. Aber wer gibt denn seine alte blinde Katze ins Tierheim?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Was ich so alles zu sehen bekomme … Aber Sie ja sicher auch. Sie sind von der Polizei, sagt Peter?“

„Kommissar Meister“, stellte er sich vor. „Und Sie sind?“

„Ich bin die zweite Vorsitzende, Martina Schnabel. Was kann ich für Sie tun?“

Sascha hatte Mühe, sich auf den eigentlichen Grund seines Hierseins zu konzentrieren. „Es geht um Herrn Roth“, erklärte er.

„Helmut? Ich habe ihn seit Monaten nicht gesehen.“

„Aber ist er denn nicht im Vorstand des Vereins?“

„Doch“, bestätigte sie. „Aber als es mit seiner Lunge schlimmer wurde, hat er die Katzenhaare und den Staub von den Katzenklos nicht mehr vertragen. Als letztes hab ich ihn bei der Weihnachtsfeier gesehen, und da ist er nicht lange geblieben.“

„Steht ihm irgendjemand hier näher? Können Sie mir irgendetwas über ihn erzählen?“

„Warum fragen Sie das überhaupt? Was ist denn mit ihm?“

Sascha erklärte es ihr. Die Frau, deren Namen er immer noch nicht wusste, wurde blass und ließ sich auf den Stuhl sinken. „Helmut ist tot? Ich meine … wir wussten ja alle, dass er todkrank war. Aber ermordet?“

„Nochmal zu meinen Fragen …“

Sie schüttelte den Kopf. „Wir haben uns gerade neulich unterhalten, dass niemand mehr richtigen Kontakt zu Helmut hat. Wir sind ja sowieso nur wenig feste Mitarbeiter und ein paar ehrenamtliche, die hier oder da helfen. Auch sonst weiß ich nicht viel über ihn. Er hatte seine Familie … früher noch seine Katze, bis sie eingeschläfert werden musste. Aber sonst …“

„Ein Hobby vielleicht?“

„Ach je, er war ja schon Jahre krank.“

„Wissen Sie zufällig, ob er in eine Selbsthilfegruppe ging?“

Ihr Gesicht hellte sich auf. „Aber ja. Das weiß ich. Im Sachsenhäuser Krankenhaus!“

Sascha bedankte sich. Dann blieb er unschlüssig in der Tür stehen.

Zehn Minuten später verließ er das Büro, hundert Euro ärmer, einen Schutzvertrag in der Tasche und eine Einkaufsliste für Haustierzubehör.