Morgens fuhr Sascha direkt ins Krankenhaus und erhielt vom Arzt die Erlaubnis, mit Frau Roth zu sprechen. Noch am Abend vorher war ihr mitgeteilt worden, dass es sich bei dem Toten um ihren Mann handelte. Sie saß aufrecht in den Kissen und schob ihr Essen auf dem Frühstückstablett hin und her.
Am Bett saß eine etwa vierzigjährige Frau, deren Ähnlichkeit mit ihrer Mutter frappierend war.
„Guten Morgen“, grüßte Sascha und trat näher. „Geht es Ihnen ein bisschen besser?“
Frau Roth nickte. „Ja, schon. Obwohl ich das alles immer noch nicht glauben kann.“
Die jüngere Frau war aufgestanden und streckte ihm die Hand hin. „Breuer. Ich bin die Tochter. Wissen Sie schon mehr?“
„Noch nicht“, erklärte Sascha. „Die Ermittlungen laufen auf vollen Touren, aber es dauert, bis Ergebnisse da sind.“ Er wandte sich wieder an Frau Roth. „Ist Ihnen noch irgendetwas eingefallen? Zum Beispiel, wo Ihr Mann hinwollte?“
Die Frau hatte inzwischen das Tablett zur Seite geschoben und knetete mit arthritischen Fingern den Rand der Bettdecke.
„Er war schon ein paar Monate so komisch“, begann sie. „Ich glaube fast …“ Sie warf einen entschuldigenden Blick zu ihrer Tochter. „Ich glaube, er ist langsam senil geworden. Vielleicht durch die Medikamente.“
„Papa senil?“ Die Tochter schien diese Meinung nicht zu teilen. „Wenn ich mit ihm telefoniert habe, war er völlig klar. Und als wir an Weihnachten da waren …“
„Wie viele Monate ist das jetzt her?“, antwortete ihre Mutter mit einem scharfen Unterton. „Du hast ihn nicht Tag für Tag erlebt. Zuerst war er sicher, dass er wieder gesund wird. Aber dann … wo die Behandlung so gar nicht anschlug …“
„Wie genau hat sich seine Senilität geäußert?“, fragte Sascha.
„Er hat sich zurückgezogen. Hat Briefe geschrieben, die ich nicht sehen durfte. Er ist weggegangen, ohne mir zu sagen, wo er hingeht. Einmal hat er mir gesagt, er sei beim Arzt, aber als ich dort angerufen habe, weil er etwas vergessen hatte, war er gar nicht da.“
„Das hört sich eher an, als habe er etwas verbergen wollen?“, gab Sascha zu bedenken.
„Aber was?“, rief Frau Roth aufgeregt. „Welche Geheimnisse sollte er vor mir haben? Ich war immer für ihn da. Auch wenn es ihm nach der Chemo schlechtging! Immer!“
Sie atmete schwer und ihre Tochter streichelte ihr den Arm. „Mama, beruhig dich, denk an dein Herz!“
Ihre Mutter zog unwillig den Arm weg.
Sascha sagte vorsichtig. „Ich lasse Sie gleich in Ruhe. Aber ich würde mich gerne bei Ihnen umschauen. Vielleicht finde ich einen der Briefe, die Ihr Mann geschrieben hat. Einen PC hatte er nicht, oder?“
Frau Roth schüttelte den Kopf. „Helmut war gegen diese Sachen. Er hat alles mit der Hand geschrieben.“
Die Tochter stand auf. „Ich gehe mit Ihnen in die Wohnung. Mama, das ist dir doch recht, oder?“
Sie fuhren in Saschas Wagen in den Gallus. Eine Frage ging Sascha durch den Kopf. „Hatte Ihr Vater irgendeine Beziehung zum Goetheturm?“
Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht. „Aber ja. Wir waren als Kinder oft dort. Es war unser Familienausflug. Mit dem Fahrrad sind wir zum Goetheturm gefahren, durften auf dem Spielplatz spielen und manchmal gab‘s ein Eis oder eine Bratwurst in der Goetheruh. Meist haben wir aber etwas zu essen mitgenommen und dort gepicknickt.“
„Haben Sie eine Idee, was er in dieser Nacht dort wollte?“
Sie schwieg einen Moment, ehe sie zögernd sagte: „Nein, aber wenn ich ehrlich bin …“
Sascha wartete, bis sie weitersprach.
„Ich war kaum hier in den letzten zwei Jahren. Ich konnte das Elend einfach nicht sehen. Nicht ertragen, wie er sich von Therapie zu Therapie kämpfte. Dieses Krankenhausbett …“ Sie schüttelte sich.
Kurz darauf waren sie in der Wohnung, die noch muffiger zu riechen schien als am Tag vorher. Simone Breuer stand mitten im Wohnzimmer, starrte einen langen Moment auf das Krankenbett und schüttelte sich dann. „Das muss als erstes weg“, erklärte sie. „Am besten noch bevor Mama heimkommt. Es war schon für … naja, für die letzte Zeit. Schrecklich, oder? Wissen Sie, wo man so etwas los wird?“
„Leider nein.“ Sascha zuckte mit den Achseln. „Hatte Ihr Vater einen Schreibtisch oder irgendetwas, wo er seine persönlichen Sachen aufbewahrt hat?“
„Höchstens in seinem Nachtschrank oder in unserem alten Kinderzimmer.“
„Lassen Sie uns zuerst im Nachtschrank nachsehen.“
Außer einer Vielzahl angebrochener Medikamentenpackungen und loser Beipackzettel fand sich hier nichts. Als sie das ehemalige Kinderzimmer betraten, kratzte Sascha sich am Kopf. „Oha“, war sein einziger Kommentar. Ein altes Bett stand hier, das nach Jugendzimmer aussah. Darauf stand ein Wäschekorb mit schmutziger Wäsche, daneben türmte sich ein Stapel, der offensichtlich gerade gebügelt worden war. Neben dem Bett stand ein Bügelbrett. Der Rest des winzigen Zimmers war mit einer Mischung aus Getränkekisten, Gartenstühlen und einem Vorratsregal mit Konserven vollgestellt.
Simone Breuer sah seinen Blick. „Wenn ich zu Besuch kam, habe ich hier geschlafen. Mama hat den Raum dann leer geräumt. Sonst ist er Bügelzimmer, Vorrats- und Abstellkammer in einem. Kaum vorstellbar, dass mein Bruder und ich hier zusammen groß geworden sind.“
„Kommt Ihr Bruder auch?“, wollte Sascha wissen.
„Er ist auf Geschäftsreise in Vietnam. Er kommt, sobald er kann.“
„Na gut“, sagte Sascha und rieb sich die Hände. „Es hilft nichts. Gehen Sie ruhig hinaus. Ich muss alles durchsuchen.“
„Warten Sie“, sagte Frau Breuer. „Mir kommt ein Gedanke. Mama wühlt ständig hier herum. Wenn Papa etwas vor ihr hätte verstecken wollen, dann sicher nicht in diesem Raum. Aber sie ist nie in den Keller gegangen. Sie findet ihn gruselig!“
Saschas Gesicht leuchtete auf. „Zeigen Sie ihn mir!“
Der altmodische Schlüssel hing am Schlüsselbund neben der Wohnungstür, und kurz darauf schloss Sascha das Vorhängeschloss vor der aus Holzlatten bestehenden Tür zu einem Kellerverschlag auf. Der erste Blick verriet Sascha, dass er kaum genutzt wurde. An einer Seite befand sich ein alter Holztisch, an der Wand darüber hingen eine rostige Säge und ein Hammer. Auf dem Tisch stand ein Plastikschränkchen mit kleinen Schubladen für Schrauben und Nägel. In einer Ecke lehnte ein altes Kinderfahrrad mit platten Reifen.
Er blieb einen Moment stehen und sah sich in dem schlecht beleuchteten Raum um. Sein Blick fiel auf die Schubladen in der Front des Holztisches. Er ging zu ihm und zog sie auf. Ein einzelner schwarzer Ordner lag darin. Im Gegensatz zu allem anderen im Raum sah er neu aus.
Sascha fühlte Aufregung in sich hochsteigen. Lauerte hier die Erklärung für das Verschwinden und den verfrühten Tod des kranken Mannes? Er schrak zusammen, als Frau Breuer versuchte, ihm über die Schulter zu spähen. „Was ist das?“, fragte sie neugierig.
Sascha schlug den Ordner auf und blickte verwirrt auf das erste Blatt. Schnell blättert er eine Seite weiter und noch eine. „Ich nehme den Ordner mit“, erklärte er dann, ihre Frage ignorierend.
Er legte ihn zunächst zur Seite und durchsuchte die andere Schublade, in der er jedoch nur Schraubenzieher und Bleistiftstummel fand.
Sascha wollte sich schon abwenden, als ein merkwürdiges Gefühl, das er nicht einordnen konnte, ihn dazu brachte, nochmal die erste Schublade aufzuziehen. Er steckte die Hand tief hinein und fand tatsächlich ein kleines Kästchen, das er vorher übersehen hatte. Der Ordner hatte es ins hinterste Eck geschoben. Sascha öffnete es vorsichtig. Auf weinrotem Samt lag ein silberner Anhänger in Form eines Drachens, der einen länglichen Kristall in seinen Klauen hielt. „Wissen Sie, was das ist?“, fragte er Frau Breuer.
„Nein. Hab ich noch nie gesehen. Ist das ein Schmuckstück? Vater trug nie Schmuck.“
„Haben Sie etwas dagegen, wenn ich auch das mitnehme?“, fragte Sascha. „Sie bekommen es natürlich zurück.“
„Selbstverständlich. Nehmen Sie es ruhig mit.“
Mehr fanden sie nicht. Sascha ließ Frau Breuer in der Wohnung zurück und brachte die Sachen ins Präsidium.