Jenny schreckte um fünf Uhr früh aus dem Schlaf. Erst hatte sie Mühe, sich zu orientieren. Was hatte sie geweckt? Machten die Nachbarn unter ihr schon wieder Krach? Dann lichtete sich der Nebel, und sie erkannte das Klingeln ihres Festnetztelefons. Sie würde den Ton ändern müssen, dachte sie, als sie sich aufrappelte und in die Küche hastete. „Becker?“, meldete sie sich und lauschte. Ein ihr noch unbekannter Kollege vom Kriminaldauerdienst war in der Leitung. „Ein Leichenfund am Rheinufer bei Spay“, erklärte er. „Da unser Dienst eh in zwei Stunden zu Ende ist, dachte ich, ich sag Ihnen gleich Bescheid. Und wo Sie doch die neue Kommissarin aus Frankfurt sind, wo sicher viele Morde …“
„Ja ja, ist schon in Ordnung“, sagte sie und unterdrückte ein Gähnen. „Sie sind sicher, dass es sich um einen Mord handelt?“
„Vielleicht hat er seinen Kopf ja beim Kegeln verloren!“, erklärte der Kollege und wieherte über seinen eigenen Witz.
Jenny seufzte. „Ja, wirklich lustig. Wo genau muss ich hin?“
Eine Dreiviertelstunde später bog sie auf den Parkplatz am Rheinufer in Spay, einem kleinen Ort zwischen Boppard und Koblenz. Eine Menschentraube hatte sich gebildet und drängte sich an die Absperrung, die ein Stück des Ufers abtrennte. Mehrere Uniformierte sorgten dafür, dass niemand die Absperrung durchbrach. Ein Fotograf packte gerade seine Ausrüstung aus, und ein Krankenwagen wartete in der Nähe. Der Fahrer lehnte an der Motorhaube und rauchte, sein Kollege stand am Ufer und blickte aufs Wasser.
Jenny wies sich aus und bückte sich unter dem Flatterband hindurch. Sie ging auf die Stelle zu, an der ein zweiter Sanitäter auf einen leblosen Körper starrte. Zu ihrer Überraschung war er nicht alleine. Ein älterer Mann kniete, eine Arzttasche neben sich, auf dem Boden. Er sah hoch, als er sie bemerkte, und stand auf.
Jenny wollte etwas sagen, hörte jedoch in diesem Moment Franks’ Stimme neben sich. „Das ist Dr. …“ Er sah auf den kleinen Block in seiner Hand. „Trösch. Er hat seine Praxis in Rhens. Die Kollegen haben ihn gerufen, um den Tod festzustellen.“
Jenny sah auf die Leiche. „Den Tod festzustellen?“, wiederholte sie. „Er hat keinen Kopf!“
Frank folgte ihrem Blick. Dr. Trösch streckte die Hand aus und Jenny schüttelte sie. „Es wird Sie dann wohl kaum überraschen, dass er wirklich tot ist“, stellte er trocken fest. „Für weitergehende Untersuchungen bin ich als einfacher Hausarzt nicht kompetent genug. Ich kann allerdings keinerlei sonstige Verletzungen sehen. Der Kopf wurde sauber abgetrennt. Sieht nicht nach Schiffsschraube aus.“
„Danke!“, sagte Jenny. „Auch dass Sie so schnell gekommen sind.“
„Jetzt würde ich aber gerne zurück in meine Praxis. Ich habe gleich Sprechstunde. Den Krankenwagen schicke ich weg, wenn‘s recht ist.“
„Natürlich.“ Jenny trat an die Leiche und ging in die Hocke. „Wer hat ihn gefunden? Und wie?“, fragte sie, ohne jemanden anzusehen.
Eine tiefe Stimme antwortete. „Ein pensionierter Förster, der seinen Hund ausgeführt hat. Die Leiche schwamm im Rhein und hat sich nicht weit vom Ufer an einer der kleinen Sandbänke verfangen.“
„Wer hat sie aus dem Wasser geholt?“
Als ihr niemand antwortete, sah sie hoch. Ein vierschrötiger Beamter stand vor ihr und sah betreten zu Frank.
„Nun?“
„Der Hund.“ Er schüttelte den Kopf, als könne er es selbst nicht glauben.
„Der Hund?“, echote Jenny. „Was für ein Hund?“
„Na sein Hund. Ein … ja, ich weiß auch nicht, was für ein Hund es ist.“
„Ein irischer Wasserspaniel!“ Die Stimme erklang direkt hinter Jenny, und sie verlor fast das Gleichgewicht, als sie erschrocken hochfuhr. Sie stand auf und machte sorgfältig einen Schritt rückwärts, weg von der Leiche. Dann drehte sie sich herum. „Jeder … und ich meine absolut jeder außer mir geht jetzt hinter die Absperrung!“
Vor ihr stand ein etwa sechzigjähriger Mann mit einem großen braunen Hund, der in ihren Augen wie ein Pudel aussah, an einer langen Leine. „Halt!“, rief sie, als sie sah, dass der Hund Anstalten machte, die Hand der Leiche abzulecken. „Sofort hinter die Absperrung! Alle!“
Ohne große Eile zog sein Besitzer den Hund zurück und ging gemütlich zum Flatterband. Frank und die Uniformierten waren ihrer Aufforderung wesentlich schneller gefolgt. Selbst der Fotograf wartete auf der anderen Seite des Flatterbandes, den Fotoapparat gezückt.
„Sie können wieder rein“, sagte Jenny. „Das heißt, Moment. Sie sind doch der Polizeifotograf?“
Er war gerade dabei, sich unter dem Band hindurch zu bücken, richtete sich jedoch noch einmal auf. „Ja natürlich, warum?“
„Hätte ja sein können, dass Sie aus einem Fotoladen in Rhens sind.“
Frank grinste, wurde jedoch sofort ernst, als ihr Blick auf ihn fiel.
„Und nun zu Ihnen“, sagte Jenny an den Hundebesitzer gewandt.
„Die Rasse verbeißt die Beute nicht. Da müssen Sie keine Angst haben“, erklärte er hilfreich.
Jenny zählte innerlich bis zehn. Dann setzte sie ein freundliches Lächeln auf, das Logo und Sascha dazu bewogen hätte, zwei Schritte zurückzutreten.
„Sie haben doch sicher schon einmal etwas von Spuren gehört, oder? DNA und so? Glauben Sie, es wäre hilfreich, wenn wir am Opfer Hunde-DNA finden?“ Ihre Stimme war bei den letzten Worten schneidend geworden, und das Lächeln des Mannes verblasste etwas.
„Ja, wenn Sie es so sagen. Aber der Bruno hat die Leiche ja sowieso schon rausgezogen. Klasse hat er das gemacht. Immerhin ist sie viel größer als seine sonstige Beute. Obwohl …“ Er sah abschätzend zu dem Körper hin. „Ohne Kopf ist er ja nicht ganz so groß.“
„Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen? Haben Sie etwas verändert?“
„Nein, nichts. Ich habe einen Körper im Wasser gesehen, den Bruno geschickt, damit er nicht wegschwimmt, ihn dann aus dem Wasser auf den Strand gezogen und Sie angerufen.“
Jenny zog eine ihrer neuen Visitenkarten aus der Tasche. „Bitte kommen Sie morgen ins Präsidium nach Koblenz, damit wir Ihre Aussage aufnehmen können. Sie können jetzt gehen. Und Bruno auch.“
Dann wandte sie sich an Frank. „Lass sofort von der Wapo den Rhein absuchen. Vielleicht schwimmt irgendwo der Kopf.“ Dann fragte sie vorsichtig. „Habt Ihr eigentlich einen Gerichtsmediziner?“
„Nein“, antwortete Frank bedauernd. Einen Moment später grinste er jedoch. „Eine Gerichtsmedizinerin. Frau Dr. Marius. Sie sollte auf dem Weg sein.“
Und schon kam auf dem schmalen Weg vom Parkplatz eine junge Frau mit einer Arzttasche in der Hand in einem Regenmantel, der ihr mindestens zwei Nummern zu groß war, anmarschiert. Einer der Beamten hob ihr die Absperrung hoch, sodass sie darunter hindurch schlüpfen konnte.
Jenny ging zu ihr. „Guten Morgen, ich bin Kommissarin Becker.“
„Marius!“ Eine kleine Hand wurde ihr forsch entgegen gestreckt. „Was haben wir?“
Jenny fasste knapp zusammen, was sie bisher wussten, so wenig es auch war. Dann sah sie zu, wie Dr. Marius die Leiche untersuchte. Jenny trat an die Absperrung und winkte Frank zu sich. „Bist du sicher, dass sie schon fertig studiert hat?“
Frank lachte. „Ich weiß, warum du das fragst. Aber sie ist älter, als sie aussieht. Und kompetent! Übrigens ist die Wapo schon unterwegs. Sie suchen die Flussufer bis Koblenz ab.“
„Gut. Sobald Frau Dr. Marius fertig ist, fahren wir. Das heißt, wenn der Leichenwagen eintrifft.“
Die Gerichtsmedizinerin brauchte nur wenige Minuten. Sie trat auf Jenny zu und zog die Latexhandschuhe aus. „Er lag mindestens zwei Tage im Wasser. Ich kann hier keine Hinweise auf die Todesursache finden. Am besten, wir bringen ihn so schnell wie möglich in die Gerichtsmedizin. Ich entnehme DNA, und sobald Sie mir Vergleichsproben bringen, kann ich Ihnen auch ohne Kopf sagen, ob es Ihr vermisster Professor ist.“
Frank rief. „Der Leichenwagen ist da. Ich lasse ihn einladen.“
Kurz darauf waren sie unterwegs nach Koblenz.
Auf dem Weg ins Büro bog Frank ab. „Ich hole in der Kantine Frühstück, okay?“
Britta saß bereits an ihrem Platz und las mit missmutigem Gesichtsausdruck etwas auf ihrem Bildschirm. Ihr „Guten Morgen“ klang nach schlechter Laune, und sie sah kaum auf, als Jenny grüßte. „Alles in Ordnung?“, fragte Jenny freundlich. „Gibt‘s etwas Neues in unserer Vermisstensache?“
„Liegt alles auf deinem Schreibtisch“, war die knappe Antwort.
Jenny blieb neben Britta stehen. „Ich hätte aber gerne, dass du mir erzählst, wie der aktuelle Stand ist.“
Britta seufzte tief und begann: „Es gibt nach wie vor keine Spur von Professor Hirschhausen. Seine Frau, seine Geliebte und seine Sekretärin haben schon angerufen, und es ist noch nicht mal Viertel nach acht. Ich habe mit zig Mitarbeitern in allen Kliniken, in denen er verkehrte, gesprochen. Niemand hat eine Idee, wo er sein könnte. Von Auto, Handy und PC keine Spur. Nur diese Esoterikerin konnte ich noch nicht erreichen, da läuft nur ein Band und eine Adresse finde ich nirgends.“
„Gute Arbeit“, lobte Jenny. „Heute Morgen wurde eine Leiche im Rhein bei Spay angetrieben. Frau Dr. Marius vergleicht schnellstmöglich die DNA. Vielleicht handelt es sich bei dem Toten um Professor Hirschhausen.“
„Ich weiß“, war Brittas Antwort.
Ah, daher wehte der Wind, dachte Jenny. „Wie ist das bei euch geregelt?“, fragte sie. „Warum war Frank heute am Tatort?“
„Weil ich an der Reihe war“, kam seine Stimme von der Tür her. Er balancierte einen Pappkarton, wie er in Baumärkten abgegeben wurde, um Blumentöpfe zu transportieren, mit drei Kaffeebechern und mehreren Papiertüten. „Wir wechseln uns ab.“
„Der letzte Mord ist zwei Jahre her und es gab keinen Tatort“, murrte seine Kollegin.
„Mord ist Mord“, erklärte Frank und stellte den Karton auf seinem Schreibtisch ab.
„Leute“, sagte Jenny kopfschüttelnd. „Das ist doch Kinderkram. Wir sind ein Team. Da sollte es einerlei sein, wer welche Aufgabe übernimmt. Und jetzt her mit dem Kaffee.“
Während sie ihn trank und dabei die Unterlagen zum Vermisstenfall überflog, dachte sie an Logo und Sascha. Die Zusammenarbeit mit ihnen war über Jahre eingespielt, und jeder setzte seine Stärken ein und konnte in Bezug auf seine Schwächen mit der Unterstützung der anderen rechnen. Es würde dauern, bis sie aus Frank, Britta und sich ein Team gemacht hätte. Und Sobottki war ein Faktor, den sie bisher noch gar nicht einschätzen konnte.
„Größe und Statur stimmen“, dachte sie laut. „Und Hirschhausen ist mittlerweile zu lange weg, als dass man noch von einer harmlosen Erklärung ausgehen könnte.“
„Ob seine Frau ihn ohne Kopf identifizieren kann?“
Jenny sah Britta an. „Vermutlich, aber ich würde es ihr ungern zumuten. Ruf doch bitte sie und gegebenenfalls seine Geliebte an, ob er am Körper irgendwelche unverwechselbaren Merkmale hat. Ein Muttermal oder eine Narbe. Aber sag noch nichts von dem Leichenfund.“
„Vielleicht brauchen wir die Information gar nicht mehr!“, sagte Frank, der im Hintergrund ein Telefongespräch angenommen hatte. „Der Kopf wurde gefunden!“
„Wo?“, fragten Britta und Jenny wie aus einem Mund.
„Das glaubt ihr nicht!“, erwiderte er kopfschüttelnd. „Auf dem Schoß der Loreley!“
„Diese Figur am Rhein? Bei St. Goarshausen?“, hakte Britta nach.
„Genau die“, bestätigte Frank. „Dem Kapitän eines Ausflugsschiffes ist aufgefallen, dass die Figur irgendwie anders aussah als sonst. Er hat mit dem Fernglas gesehen, dass ein Kopf auf ihrem Schoss lag. Zuerst dachte er an einen Scherz, eine Karnevalsmaske, dann hat er aber doch die Polizei angerufen. Die Kollegen fragen, was sie machen sollen.“
„Das muss ich sehen“, erklärte Jenny und legte ihr Brötchen weg. „Britta kommt jetzt mit. Dann habt ihr euch die Leiche geteilt und müsst euch nicht mehr streiten.“
Kaum eine halbe Stunde später kraxelten Jenny und ihre Kollegin über die rauen Steine zu der Statue, die auf einem Podest etwa einen Meter über ihren Köpfen thronte. Das Boot der Wasserschutzpolizei hatte flussabwärts angelegt, und zwei Beamte sicherten den Zugang. Ein Stück entfernt wartete eine japanische Reisegruppe und knipste, was das Zeug hielt. Der Lärm, den sie veranstalteten, war ohrenbetäubend.
Jenny grüßte die Kollegen, wies sich aus und bat als erstes: „Könnt ihr die Touristen ein Stück weiter wegbringen? Man versteht ja sein eigenes Wort nicht mehr.“
Kurz darauf war die Gruppe bis zum Anfang der Mole zurückgedrängt worden, und Jenny sah zur Loreley hoch, die nach der alten Sage unzählige Schiffer in den Tod gelockt hatte. Der Rhein war hier besonders schmal, die Strömung stark. Noch heute war er schwer schiffbar, obwohl bereits vor fast einem Jahrhundert Teile des Loreley-Felsens weggesprengt worden waren, um die Fahrrinne zu verbreitern. Von hier unten konnte Jenny nicht sehen, was im Schoß der Statue lag. Allerdings meinte sie, einen leichten Verwesungsgeruch wahrzunehmen.
Einer der Kollegen von der Wasserschutzpolizei näherte sich, eine Leiter über der Schulter. „Die Spurensicherung ist sicher unterwegs?“, fragte er.
„Klar“, erklärte Jenny. „Ich frage mich, wo sie bleiben.“
Doch da sah sie schon, wie sich zwei Gestalten in Schutzkleidung durch die Japaner drängten. Im Schlepptau hatten sie den Fotografen, den Jenny schon vom Morgen kannte.
Schnell waren die Aufnahmen gemacht, und die wenigen Spuren, die sich auf dem den Witterungen ausgesetzten Felsen finden ließen, gesichert. Jenny lief in dieser Zeit ungeduldig auf und ab. Endlich war sie an der Reihe, die wackelige Leiter hochzuklettern.
Der Kopf sah auf den leicht gespreizten Schenkeln der bronzenen Figur klein und unscheinbar aus. Es schien, als würde sie mitleidig auf ihn herabsehen. Oder auch besitzergreifend, als wären es die Überreste eines ihrer Opfer, die sie in den Tod gerissen hatte.
Auch dem Kopf sah man an, dass sein Besitzer schon einige Zeit tot war. Das Gesicht war nach oben gedreht, die Züge aufgequollen und verzerrt. Auf den ersten Blick hätte Jenny nicht sagen können, ob es sich um Hirschhausen handelte. Nur, dass es ein Mann war, schien ihr sicher.
Sie stieg wieder herunter, rief die Gerichtsmedizinerin an und schilderte ihr den Fund. „Ich denke nicht, dass Sie herkommen müssen“, stellte sie abschließend fest. „Die Spusi kann den Kopf eintüten und Ihnen bringen.“
„In Ordnung. Dann habe ich endlich eine ganze Leiche. Halbe Sachen liebe ich gar nicht.“
Jenny verzog das Gesicht. Gerichtsmediziner hatten anscheinend immer denselben schrägen Humor. Dr. Marius hatte noch mehr zu sagen: „Todesursache könnte eine Überdosis Kalium sein. Es stehen aber noch Untersuchungen aus. Und mit dem Kopf dürfte die Identifizierung ja kein Problem mehr sein. Trotzdem: Er hatte eine lange Narbe am linken Oberschenkel. Ein komplizierter Bruch, der aufwendig gerichtet wurde. Am Knochen ist eine Platte verblieben.“
Jenny dankte ihr und legte auf. „Hier an der Fundstelle können wir nicht viel machen“, sagte sie zu Britta, die alles aufmerksam beobachtete. „Wir sind fast achthundert Meter von den nächsten Häusern weg. Trotzdem fragen wir die Anwohner, ob ihnen etwas aufgefallen ist. Lange kann der Kopf auf jeden Fall noch nicht hier gelegen haben. Jeder Tourist hätte ihn entdeckt.“
„Aber von hier unten sieht man ihn doch gar nicht?“, wandte Britta ein.
„Aber von der Straße aus“, sagte Jenny. „Jeder, der dort langfährt, müsste direkt drauf schauen.“
Britta nickte und drehte sich einmal im Kreis. „Da drüben ist St. Goar, oder?“, fragte sie und deutete zur anderen Rheinseite. „Dann wohnst du doch ganz in der Nähe?“
„Ich glaube schon. Bisher bin ich die Strecke zum Rhein noch nicht gefahren.“
Sie sahen zu, wie der Kopf verpackt und abtransportiert wurde. Dann liefen sie die Mole entlang zurück zum Ort. Sie befragten den Reiseleiter der japanischen Gruppe, doch nach einigem aufgeregtem Gezeter unter den Teilnehmern teilte er ihnen mit, dass niemand etwas Verdächtiges bemerkt hatte. Angelockt durch den Trubel waren auch einige Einheimische herangekommen, doch alle schüttelten auf ihre Fragen den Kopf. Fremde Autos standen hier täglich in Massen und nein, niemandem war jemand, der herum schlich und einen Kopf dabei hatte, aufgefallen.
„Wir fahren in die Gerichtsmedizin. Ich will mit Frau Dr. Marius sprechen“, erklärte Jenny endlich.
„Du weißt schon, dass wir dafür nach Mainz müssen? In Koblenz gibt es keine Gerichtsmedizin.“
„Nach Mainz? Aber Dr. Marius war doch heute Morgen ruck-zuck am Fundort.“
„Ich glaube, sie wohnt irgendwo zwischen Mainz und Koblenz.“
Als sie fast eine Stunde später ankamen, packte die Medizinerin gerade den Kopf aus. Ein Assistent führte sie in den Sektionssaal und gab ihnen Schutzkleidung zum Überziehen.
„Das ist aber seltener Besuch“, bemerkte Dr. Marius, als Jenny und Britta nähertraten. „Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht die Hand gebe. Aber wir haben uns ja auch erst vor Kurzem gesehen.“
Jenny trat näher heran. Der Kopf lag mit dem Gesicht nach oben auf dem metallenen Tisch. Die Augen waren weit offen und milchig trüb. Die Augenfarbe war nicht mehr zu erkennen. „Nach dem Vermisstenfoto könnte ich nicht sagen, ob es sich um Professor Hirschhausen handelt“, erklärte sie.
„Ich könnte den Kopf zurechtmachen und zur Identifikation freigeben.“
Jenny musterte ihn kritisch. „Vielleicht per Foto. Ich möchte der Ehefrau diesen Anblick lieber nicht zumuten.“
„Natürlich. Ich schicke Ihnen die Fotos aufs Handy. Der Kopf ist übrigens äußerst fachmännisch abgetrennt worden. Eher mit einem Skalpell oder einem anderen kleinen, sehr scharfen Messer als mit einer Axt oder ähnlichem.“
„Ein Arzt?“, fragte Britta und kam damit Jenny zuvor.
„Oder ein Metzger. Manchmal ist da ein Unterschied!“ Sie grinste über ihren eigenen Witz, und Jenny nahm sich fest vor, sie irgendwann dem Prof, ihrem Frankfurter Gerichtsmediziner, vorzustellen. Die beiden würden sich prächtig verstehen.
Auf dem Weg zum Auto fragte Jenny Britta: „Wenn es nicht Hirschhausen ist, können wir die Bilder über die sozialen Netzwerke online stellen. Habt ihr dafür extra Leute?“
„Ja klar. Du hältst uns echt für Provinzler, oder?“
„Nein, aber ich halte dich für ganz schön überempfindlich. Koblenz hat nun mal eine wesentlich kleinere Dienststelle als Frankfurt.“
Noch bevor sie in Koblenz waren, ging auf Jennys Handy eine Mail mit dem Foto des Kopfes ein. Sie hielt auf dem nächsten Rastplatz und öffnete den Anhang. Die Gerichtsmedizinerin hatte ganze Arbeit geleistet. Der Kopf war so fotografiert, dass man die Schnittstelle nicht sah, die Augen waren geschlossen, das Haar gekämmt.
„Nicht schlecht. So können wir es seiner Frau zeigen.“
Frau Hirschhausen öffnete die Tür sofort, kaum hatte Jenny den Klingelknopf gedrückt. Die Stunden des Wartens hatten ihre Spuren hinterlassen. Zwar war sie auch heute untadelig gekleidet und frisiert, ihr Gesicht wies jedoch tiefe Falten auf, und sie hatte dunkle Ringe unter den Augen.
„Haben Sie ihn gefunden? Geht es ihm gut?“, fragte sie mit panischem Unterton.
„Lassen Sie uns hineingehen“, bat Jenny.
Die Frau brach in Tränen aus. „Er ist tot, ich wusste es.“ Sie zitterte und versuchte sichtlich, sich zusammen zu reißen. Nach einem Moment putzte sie sich die Nase mit einem zerknüllten Papiertaschentuch, das sie in der Hand geknetet hatte, und stieß die Tür weiter auf. „Kommen Sie.“
Im Flur blieb sie stehen und drehte sich um. „Sagen Sie es mir! Alles ist besser als diese Ungewissheit.“
„Wir haben einen Toten gefunden“, erklärte Jenny geradeheraus. „Aber wir wissen nicht, ob es Ihr Mann ist. Hatte er eine Operation am Bein?“
Dir Frau schlug die Hand vor den Mund. „Er hat sich vor Jahren bei einem Autounfall den Oberschenkel gebrochen.“
Jenny senkte den Kopf. „Es tut mir leid. Trotzdem müssten Sie noch eine Identifikation vornehmen. Ich habe hier ein Foto.“ Sie öffnete das Bild auf dem Handy und Frau Hirschhausen riss es ihr fast aus der Hand. Sie wischte sich die Augen und starrte lange darauf. Dann sagte sie langsam: „Soll das … Aber das ist nicht mein Mann. Gut, vielleicht gibt es eine gewisse Ähnlichkeit. Aber das ist er nicht! Ist das ein übler Scherz?“
„Sind Sie sich ganz sicher?“, vergewisserte sich Jenny und sah die Frau prüfend an. „Vielleicht täuschen Sie sich. Der Mann hat eine Narbe am Oberschenkel und eine Platte im Bein. Auf dem Foto könnte er verändert aussehen.“
„Das ist ganz sicher nicht mein Mann“, bekam sie zur Antwort. Frau Hirschhausen gab ihr das Handy wieder und sah sie verzweifelt an. „Aber wo ist er bloß?“