Es war kurz nach zwanzig Uhr, als Sascha schlecht gelaunt durch die Glastür des Sachsenhäuser Krankenhauses trat. Eigentlich hatte er andere Pläne für den Abend gehabt, aber Logo hatte ihn überredet, noch am selben Tag die Teilnehmer der Selbsthilfegruppe, die Helmut Roth besucht hatte, zu befragen. Die einzige Gruppe dieser Art im Sachsenhäuser Krankenhaus traf sich heute, es musste also diejenige sein, an der Roth teilgenommen hatte. Am Empfang erkundigte er sich nach dem Raum, in dem die Versammlung stattfand, und hastete durch den Innenhof zum Nebengebäude. Er war spät dran und hoffte, dass noch alle Teilnehmer da wären.
Die Tür des Raumes war geschlossen, und er atmete erleichtert auf. Während er noch überlegte, ob er klopfen sollte, ging sie auf, und Sascha prallte erstaunt zurück. Jeden hätte er hier erwartet aber nicht Michael Biederkopf, den Mann, der vor wenigen Wochen so schnöde mit Jenny Schluss gemacht hatte.
„Herr Staatsanwalt? Was machen Sie hier?“
Biederkopf erbleichte und packte Sascha am Arm. „Sie dürfen niemandem sagen, dass Sie mich hier gesehen haben! Niemandem! Versprechen Sie es!“
Sascha braucht einen Moment, um die Situation zu begreifen. Sein Blick wanderte über Biederkopf, während er versuchte, zu verstehen, wieso er ausgerechnet hier über den Staatsanwalt gestolpert war.
Biederkopfs Gesicht war eingefallen und wies eine ungesunde Gesichtsfarbe auf. Er hatte abgenommen, das Sweatshirt, das er trug, schlackerte an ihm herum. Saschas Blick fiel auf das Blatt, das an die Tür geklebt war. ‚Onkologische Selbsthilfegruppe‘ stand, handschriftlich mit einem schwarzen Filzmarker geschrieben, darauf.
Sascha wurde es eiskalt. „Sie …“, stammelte er und versuchte es noch einmal. „Sie haben …“
Biederkopf nickte und zog ihn ein Stück zur Seite. „Ich habe. Und ich will nicht, dass irgendjemand davon erfährt. Und schon gar nicht Jenny!“
„Aber …“, wandte Sascha ein.
„Nichts aber!“, fiel Biederkopf ihm ins Wort. „Bitte achten Sie meinen Wunsch! Den Wunsch eines …“
Sascha vervollständigte in seinem Kopf den Satz und keine der möglichen Endungen gefiel ihm.
„… ehemaligen Kollegen“, schloss Biederkopf lahm und blickte zu Boden. Dann sah er Sascha in die Augen. „Bitte. Versprechen Sie es!“
Widerstrebend nickte Sascha.
„Warum sind Sie überhaupt hier?“, fragte Biederkopf mit einem Aufblitzen von Interesse.
„Der Tote vom Goetheturm war in dieser Selbsthilfegruppe. Ich wollte den Leiter befragen. Eventuell auch andere Teilnehmer. Sind Sie … schon lange dabei?“
„Erst seit vier Wochen. Wer ist das Opfer? Was ist überhaupt passiert? Ich habe nur wenige Informationen aus den Zeitungen.“
Sascha informierte ihn in knappen Worten.
„Roth“, murmelte Biederkopf. „Ich erinnere mich an ihn, aber nur flüchtig.“ Er sah sich um. „Ich muss mich setzen. Gehen Sie ruhig rein. Yannik spricht noch mit Irina.“
Sascha zögerte, dann nickte er. Biederkopf sagte auf seine unausgesprochene Frage. „Ich warte auf Sie.“
Erleichtert ging Sascha in den Raum und wurde sofort an ein Schulzimmer erinnert. Die Einrichtung war karg und bestand nur aus einem Schreibtisch, der in eine Ecke geschoben worden war und etwa zehn, in einem Kreis aufgestellten, Stühlen.
Vier ältere Männer und eine Frau standen beisammen und unterhielten sich. Neben einem der Stühle beugte sich ein etwa vierzigjähriger Mann in einem lilafarbenen Hemd über eine junge Frau, deren Kopf von einem turbanartig gewickelten Tuch bedeckt war.
Sascha blieb gleich hinter der Tür stehen und wartete in respektvoller Entfernung höflich ab, bis sie ihr Gespräch beendet hatten. Die anderen Teilnehmer verließen nacheinander den Raum und warfen ihm neugierige Blicke zu. Endlich umarmte der Mann die junge Frau. Sie schien zu weinen und umklammerte ein Taschentuch. Kurz darauf machte sie sich los und lief hastig aus dem Zimmer.
„Sind Sie der Gruppenleiter?“, fragte Sascha den Mann, der zuerst zur Tür ging und sie schloss und sich ihm dann erwartungsvoll zuwendete.
„Yannik Lemhofer, möchten Sie unserer Gruppe beitreten?“
Unwillkürlich machte Sascha einen Schritt zurück. „Nein, auf keinen Fall. Ich will nicht … also, was ich meine … ich habe nicht …“ Er riss sich zusammen und zeigte seinen Ausweis vor. „Ich habe nur einige Fragen zu einem Teilnehmer.“
„Polizei?“, fragte der Mann verwundert. „Schießen Sie los!“
„Es geht um Helmut Roth“, erklärte Sascha. „Wie lange kam er zu Ihnen?“
„Warten Sie“, überlegte Lemhofer. „Das müssen fast vier Jahre sein. Warum? Was ist mit ihm?“
„Er wurde tot aufgefunden. Ermordet, um genau zu sein.“
Entsetzen spiegelte sich in den Zügen des Gruppenleiters. „Was? Aber wer ermordet denn einen todkranken Mann?“
„Genau diese Frage stellen wir uns auch. Können Sie mir etwas über ihn erzählen? Natürlich nur, was nicht unter die Schweigepflicht fällt.“
Lemhofer zögerte. „Ich bin kein Arzt und unterliege nicht der Schweigepflicht. Wobei ich natürlich trotzdem normalerweise nicht über die Krankengeschichte meiner Patienten spreche. Aber wenn er …“ Er schluckte. „Helmut war recht verschlossen. Es hat gedauert, bis er sich geöffnet hat. Zuerst hat er mit seinem Schicksal gehadert. War wütend auf alles und jeden. Dabei hatte er gute Chancen, gesund zu werden. Im Gegensatz zu einigen anderen.“
Sascha sah zur Tür, durch die die junge Frau mit dem Turban verschwunden war.
Yannik nickte. „Bei so jungen Menschen sind Krebserkrankungen meist besonders aggressiv. Nun, wie gesagt. Helmut hatte gute Heilungschancen. Er kam auch nur ab und zu. Bis sich sein Zustand vor einem halben Jahr stark verschlechterte. Nach der letzten Chemo baute er rapide ab, und der Krebs wuchs schneller als vorher. Außerdem versagten seine Nieren. Ab diesem Zeitpunkt kam er regelmäßig.“
„Hatte er da noch Heilungschancen?“
„Die Ärzte haben ihm keinerlei Hoffnung mehr gemacht. Aber man sollte sie trotzdem nie gänzlich aufgeben. Es hat angeblich schon Wunder geben.“ Er zuckte mit den Achseln. „Ich habe noch keines gesehen.“
„Wie ist er mit der Prognose umgegangen?“
„Nicht gut. Er hat überall nach Schuldigen gesucht. Bei den Ärzten, den Apothekern, den Medikamenten. Nun, jeder geht anders mit so etwas um.“
„Also hatte niemand schuld?“
„Natürlich nicht. Beim einen schlägt die Behandlung an, beim anderen nicht. Man weiß bisher noch erschreckend wenig darüber.“
Sascha runzelte die Stirn. „Aber es gibt doch unterschiedliche Medikamente? Kann es da nicht passieren, dass jemand etwas Falsches bekommt oder etwas, das zu schwach ist? Es können doch zum Beispiel Fehler bei der Herstellung vorkommen.“
„Ich sehe, Sie haben sich noch nicht wirklich mit der Materie beschäftigen müssen.“ Lemhofer lächelte traurig.
„Zum Glück“, bestätigte Sascha.
„Ich halte es für extrem unwahrscheinlich, dass ein Kranker eine falsche oder zu schwache Therapie bekommt. Es gibt unzählige bewährte Behandlungsprotokolle und die Medikamente, meist Chemotherapeutika, die per Infusion verabreicht werden, werden standardisiert und unter hohen Qualitätsauflagen hergestellt. Immerhin kostet eine Therapie viele Tausend Euro. Aber was hat das alles mit dem Mord an Helmut zu tun?“
„Vielleicht gar nichts“, antwortete Sascha. „Ich versuche nur, mir ganz allgemein ein Bild zu machen. Dazu gehört auch, wie Herrn Roths Behandlung aussah.“
„Er hat insgesamt vier oder fünf Chemotherapien bekommen. Dazu musste er jeweils für einige Tage ins Krankenhaus. Es gibt viele Patienten, die die Chemo schlecht vertragen.“
Sascha nickte nachdenklich, war aber in Gedanken schon einen Schritt weiter. „Ich wusste nicht, dass diese Therapien so teuer sind.“
„Je weiter die Forschung voranschreitet, desto mehr und teurere Therapien gibt es. Vielleicht sollten Sie die Krankenkassen zum Kreis der Verdächtigen hinzuzählen.“
Er lächelte müde über seinen Witz, und auch Sascha verzog nur leicht das Gesicht. „Hatte er mit jemandem hier besonderen Kontakt? Könnte einer der Teilnehmer mehr wissen?“
Yannik überlegte einen Moment. „Ich glaube, ich habe ihn öfter mit Kris sprechen sehen. Leider ist er jedoch vor einigen Wochen verstorben. Das hat Helmut sehr zugesetzt.“ Er sah auf die Uhr. „Ich müsste jetzt los. Haben Sie noch Fragen?“
Sascha verneinte. Sie tauschten ihre Visitenkarten und Lemhofer fügte hinzu: „Rufen Sie mich jederzeit an, wenn Sie noch etwas wissen möchten. Kommen Sie mit hinaus? Ich muss den Raum abschließen.“
Vor der Tür wartete Biederkopf und nickte Yannik zu. „Michael. Wolltest du mich sprechen?“
„Nein, ich warte auf Herrn Meister. Wir kennen uns von der Arbeit.“
„Ach so. Na dann bis bald. Und toi toi toi.“
Biederkopf sah Sascha an. „Wollen wir uns kurz gegenüber ins Bistro setzen? Ich würde gerne etwas trinken, und Sie haben bestimmt Fragen. Wenngleich ich nicht versprechen kann, sie zu beantworten.“
Sascha stimmte zu, und wenige Minuten später betraten sie die urige Kneipe auf der anderen Straßenseite. Sie fanden einen Zweiertisch am Fenster. Im Hintergrund lief leise Bluesmusik. Viele Tische waren besetzt, einige Gäste kamen eindeutig aus dem Krankenhaus. Eine Frau hatte sogar einen Infusionsständer neben sich. Gerade prostete sie ihrem Begleiter mit einem Weizenbierglas zu.
Biederkopf bestellte bei der blutjungen Bedienung ein alkoholfreies Bier, studierte die überschaubare Karte einen Moment und fügte dann noch eine Tagessuppe hinzu. „Kürbis“, erklärte er mit einem schiefen Lächeln. „Mein Magen verträgt momentan nicht allzu viel. Übrigens sind die Burger hier fantastisch.“ Er sah Saschas Gesichtsausdruck. „Nein, nein, essen Sie nur. Es macht mir gar nichts.“
Sascha bestellte und formulierte dann die Frage, die ihm, seit er den Staatsanwalt erkannt hatte, auf der Zunge lag. „Was …?“ Zu seiner Verlegenheit fühlte er, wie er errötete.
„Magen“, erklärte Biederkopf lakonisch. „Schlechte Prognose.“
Sascha dachte einen Moment darüber nach. Die Getränke kamen, und Biederkopf nahm einen vorsichtigen Schluck.
„Haben Sie sich deshalb von Jenny getrennt?“, fragte er endlich.
Biederkopf nickte. Ein schmerzvoller Ausdruck ging über sein Gesicht. „Ich wollte ihr das nicht zumuten. Sie hat so viel durch gestanden. Soll sie mir beim Sterben zusehen?“
Er trank noch einmal und verzog das Gesicht.
„Ich bin sicher“, sagte Sascha langsam, „Jenny hätte lieber an Ihrer Seite sein wollen. Sie hat furchtbar unter der Trennung gelitten. Leidet vermutlich immer noch.“
„Ich weiß“, sagte Biederkopf. „Ich war mehrmals kurz davor, ihr alles zu erzählen. Aber so ist es am Besten.“ Er sah Saschas Blick. „Ich wollte es ihr zunächst sagen. Als ich die Diagnose bekam, war sie gerade eine Woche auf Bildungsurlaub. Da war die Prognose noch gut. Die erste Chemo habe ich bekommen, als sie auf diesem Schießlehrgang war.“
Die Bedienung stellte die Suppe vor ihn hin, und er aß zwei Löffel. „Danach ging es mir schlechter, und die Krankheit hat einen richtiggehenden Schub bekommen, statt zurückgedrängt zu werden. Die Ärzte konnten mir wenig Hoffnung machen und haben mir auch von der eigentlich geplanten Operation abgeraten. Da war mir klar, dass ich diesen Weg alleine gehen muss. Ich weiß, dass ich ihr sehr weh getan habe. Aber sie ist stark. Sie hat schon ganz anderes überstanden. Bald wird sie mich vergessen haben. Und irgendwann wird sie alles verstehen.“
Plötzlich fasste er Saschas Arm, und dieser war geschockt, wie schwach der Griff war, und wie heiß und trocken sich die magere Hand anfühlte. „Ich beschwöre Sie, Sie dürfen es ihr nicht sagen! Niemandem! Auch Herrn Stein nicht! Schwören Sie mir das?“
„Aber“, begann Sascha, hatte dann aber dem brennenden Blick Biederkopfs nichts entgegenzusetzen. Er senkte den Kopf. „Also gut, ich schwöre es. Aber ich denke immer noch, es wäre besser …“
„Danke“, sagte Biederkopf, stand auf und legte einen Zwanzigeuroschein auf den Tisch. „Sie haben mich nie gesehen!“
Sascha rührte seinen Burger, der in diesem Moment serviert wurde, nicht an. Er saß noch eine Zeit lang schweigend da und starrte auf den Geldschein und die nur halb gegessene Suppe. Was für ein Schlamassel!
„Sind Sie verrückt geworden? Es hieß, kein Aufsehen, und was haben Sie veranstaltet? Es war heute in allen Nachrichten!“ Die Stimme klang verzerrt aus dem Hörer des Mobiltelefons.
„Regen Sie sich ab. Niemand wird eine Verbindung zu Ihnen oder mir herstellen können.“
„Trotzdem. Ich hoffe, Sie haben den anderen Auftrag diskreter erledigt!“
„Machen Sie sich keine Sorgen.“
Es blieb einen Moment still. „Gut. Ihr Geld ist bereits angewiesen.“
„Natürlich.“ Er legte auf.
Ob sie wirklich dachten, er mache sich Sorgen um seine Bezahlung? Er kicherte in sich hinein. Als ob jemand riskieren würde, ihn zu verärgern. Und was die Ausführung des anderen Auftrags anging. Kreativität war sein Markenzeichen und er würde sich nicht in seine Arbeit reinreden lassen.