Jenny saß an ihrem Schreibtisch und studierte den vorläufigen Bericht der Spurensicherung. Da es sich bei dem Toten nicht um Hirschhausen zu handeln schien, stand seine Identifizierung jetzt im Vordergrund. Auf die DNA würden sie noch warten müssen, aber sein Bild würde bald schon auf allen sozialen Netzwerken erscheinen.
Jenny hatte versucht, den Vermisstenfall Hirschhausen abzugeben, wurde jedoch von Sobottki zurückgepfiffen. „Wir sind hier nicht in Frankfurt, liebe Frau Becker. Ich bin sicher, Sie können sich um beide Fälle kümmern. Immerhin stehen Ihnen zwei ausgezeichnete Mitarbeiter zur Seite, während die Vermisstenabteilung extrem unterbesetzt ist.“
„Ich bräuchte aber Leute, um das Ufer abzusuchen“, sagte sie mit Nachdruck.
Sobottki brummte etwas, dann nahm er den Hörer auf. Ein paar Minuten später standen Jenny etliche Kollegen der Bereitschaftspolizei zur Verfügung, die in Zusammenarbeit mit der Wasserschutzpolizei die Ufer zwischen Koblenz und St. Goarshausen absuchen würden.
Als sie zurück ins Büro kam, hielt Britta ihr einen Zettel entgegen. „Ich habe endlich diese Esoterikerin erreicht, die dem Professor immer wieder Schwierigkeiten gemacht hat. Telefonisch ist sie so schwer erreichbar, weil sie Handys ablehnt. Überhaupt telefoniert sie nicht gerne.“ Britta tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe.
„Ich hatte sowieso vor, persönlich mit ihr zu sprechen. Wo wohnt sie denn?“
Britta sah auf das Blatt. „In Bad Homburg.“
„Das ist bei Frankfurt“, stellte Jenny erstaunt fest. „Ich setze mich gleich mit meinen Ex-Kollegen in Verbindung.“
„Ist das ein Problem für dich?“
Jenny hielt inne. War es das? Ein Problem? Sie war sich ihrer Gefühle diesbezüglich nicht sicher. Außerdem musste sie ihre Befindlichkeiten hintenan stellen. Der Fall war wichtiger. „Nein, gar nicht“, antwortete sie deshalb.
Sie hielt zunächst Rücksprache mit Sobottki, der ihr unter diesen Umständen widerwillig gestattete, im Rhein-Main-Gebiet zu ermitteln und sich bereit erklärte, die Zuständigkeiten mit dem Frankfurter Präsidium abzustimmen und ihr in jeder Hinsicht den Rücken freizuhalten. Mit diesem Freischein rief Jenny in ihrem früheren Büro an und hatte Logo an der Strippe. Nachdem sie einige belanglose Höflichkeiten ausgetauscht hatten, erklärte sie ihm ihr Anliegen.
„Dann suchst du jetzt vermisste Personen“, fasste er zusammen. „Komm doch …“
„Hör auf!“, fiel sie ihm ins Wort, und ihr harscher Ton ließ Britta und Frank aufblicken. Freundlicher fuhr sie fort. „Habt ihr etwas über die Frau? Und hast du etwas dagegen, wenn ich sie persönlich befrage?“
Sie merkte, dass Logo nur zu gerne noch etwas dazu gesagt hätte, stattdessen hörte sie ihn tippen. „Nicht aktenkundig. Natürlich kannst du sie befragen, so viel du willst. Wir könnten anschließend …“
„Nein danke“, sagte sie rasch. „Ich werde nicht viel Zeit haben. Du weißt, wie es ist, wenn man neu anfängt.“
Logo brummte etwas Unverständliches. Jenny ärgerte sich über sich selbst. Woher sollte er das wissen, war er doch seit seiner Ausbildung ohne Unterbrechung auf dem Frankfurter Präsidium. Zuerst im alten Gebäude in der Friedrich-Ebert-Anlage, seit dem Jahr 2002 dann im neuen an der Adickesallee. Vermutlich würde er bis zu seiner Rente dort arbeiten, hoffentlich bald als Abteilungsleiter.
„Ich möchte, dass du Sascha mitnimmst“, hörte sie ihn zu ihrer Überraschung sagen.
„Aber …“, wandte sie ein, doch er fiel ihr ins Wort. „Ich bestehe darauf. Sag Bescheid, wann du den Termin hast. Er kann dich dort treffen. So verlierst du nichts von deiner kostbaren Zeit.“
Jenny überlegte, was sie gesagt hatte, um Logo zu verärgern, und ob sie sich entschuldigen sollte. Dann stimmte sie jedoch einfach zu und versprach, Sascha anzurufen.