Jenny hatte Sascha zu Hause abgeholt. Nachdem er gestern erst spät abends heimgekommen war, hatte er sich den Vormittag freigenommen. Überrascht hatte sie in der Tür zum Wohnzimmer gestanden und die Katze betrachtet, die sich auf einer Decke in der Ecke des Sofas zusammengerollt hatte. „Ich wusste gar nicht, dass du einen neuen Mitbewohner hast. Hat deine Freundin sie mitgebracht?“
„Nein“, sagte er und erzählte ihr die Geschichte.
Jenny war entsetzt. „Man sollte doch denken, dass ich schon einiges gesehen habe, aber ich bin immer wieder überrascht, wozu Menschen fähig sind.“
Die Katze zuckte mit den Ohren und hob den Kopf.
„Darf ich sie streicheln?“
„Klar. Denk nur dran, dass sie deine Hand nicht kommen sieht.“
Jenny setzte sich vorsichtig auf die Couch und streckte den Arm aus. Die Katze hatte die Erschütterung bemerkt und wartete aufmerksam. Jenny ließ sie an ihrer Hand schnuppern und begann dann, sie hinter den Ohren zu kraulen. Ein tiefes Schnurren war die Belohnung.
„Sie scheint sich schon gut eingelebt zu haben“, sagte sie und strich ihr über den Rücken.
Sascha lächelte. „Ja, allerdings. Ich habe sie Dienstag abgeholt. Langsam kennt sie die Wohnung und findet alles. Ich vermute, sie hat vorher nicht viel Zuwendung bekommen. Meine Freundin ist ganz verrückt nach ihr.“
Mit Mühe schaffte es Jenny, sich von dem schnurrenden Fellbündel loszureißen. Doch die Esoterikerin wartete, und Jenny war gespannt, was sie ihnen erzählen würde.
Sie fuhren gemeinsam in Jennys Dienstwagen an der Friedberger Warte vorbei Richtung A661. Dann führte sie ihr Weg durch Bad Homburg hindurch, bis sie eine Abzweigung erreichten, die in eine unbefestigte Straße überging. Sie war halb zugewachsen und Jenny hielt an, um zu überprüfen, dass sie hier richtig waren. „Das muss der Weg sein“, erklärte sie und fuhr langsam weiter.
Endlich tauchte das gesuchte Haus vor ihnen auf. Es war zwei Stockwerke hoch und schien aus Holz gebaut zu sein. Auf der Veranda, die sich über die ganze Breite erstreckte, standen unzählige Blumentöpfe in allen Größen. Jenny parkte neben einem altersschwachen hellblauen VW Käfer, und sie stiegen aus. Es war idyllisch hier, Vögel sangen, auf der Veranda klingelte leise ein Windspiel, und die Autobahn hörte man nur von Ferne. Sie streckte sich und fuhr erschrocken zusammen, als eine Stimme sie ansprach.
„Sie sind sicher die Kommissare?“ Auf der Veranda war eine Frau aufgetaucht, deren Erscheinung Jenny nicht anders als ätherisch bezeichnen konnte. Sie war in fließende pastellfarbene Stoffe eingehüllt und hatte einen Blumenkranz auf dem Kopf. Sascha konnte sich ein kurzes Lächeln nicht verkneifen.
Jenny stieg die Stufen zur Veranda hinauf und holte ihren Ausweis aus der Tasche. Eine schmale, weiße Hand, an deren Gelenk mehrere silberne Münzarmbänder klimperten, griff danach. Mit zusammen gekniffenen Augen las die Frau, die von Nahem deutlich älter wirkte, den Ausweis. Ihr Gesicht war stark geschminkt und an ihren Ohren baumelten lange Silber-Ohrringe. Jennys Blick fiel auf ein riesiges Amulett an ihrem Hals, das nicht zu dem schmalen, faltigen Gesicht passte.
Frau Dittler-Zifurth fing ihren Blick auf. „Ein Schutzamulett für Gesundheit und langes Leben.“
„Ah ja“, antwortete Jenny und dachte an den Inhalt des Dossiers in ihrer Tasche. „Sie verkaufen solche Dinge“, stellte sie fest.
„Unter anderem“, bestätigte Frau Dittler-Zifurth. „Kommen Sie doch bitte hinein. Ich spüre, Sie sind auf einer Suche.“
Jenny warf Sascha einen amüsierten Blick zu, und beide folgten ihr ins Haus. Sie gelangten unmittelbar in einen Raum, der ein bisschen aussah wie aus tausendundeiner Nacht. Die Wände waren mit gebatikten Tüchern verhängt. Den Tisch in der Mitte bedeckte eine dunkelrote Samtdecke, und statt Stühlen gab es lederne Hocker. An einer Wand stand ein Regal, das mit unzähligen Glasphiolen bestückt war. Getrocknete Kräuter hingen an Schnüren und daneben waren Mörser und Stößel in mehreren Größen aufgereiht.
„Möchten Sie einen Kombucha-Tee?“, fragte Frau Dittler-Zifurth.
Jenny lehnte dankend ab. Sie ging an das Regal und betrachtete in aller Ruhe die Buchrücken, bis ihr Blick auf einen bestimmten Titel fiel: „Tierarzt – Feind der Tiere?“
„Die richten aus Geldgier bei der Behandlung mehr Unheil an, als Sie sich vorstellen können! Antibiotika! Chemotherapeutika! Impfungen!“ Sie schüttelte den Kopf. „Entschuldigen Sie. Ich lasse mich zu leicht hinreißen.“
„Aber wollten Sie nicht auch Tierärztin werden?“
„Ich habe zwei Semester Tiermedizin studiert. Eine Tatsache, an die ich nicht gerne erinnert werde. Zum Glück habe ich schnell erkannt, wie irregeleitet die meisten meiner Studienkollegen sind. Seitdem arbeite ich nur noch alternativ und auf biologischer und geistiger Ebene.“
„Wo haben Sie Ihre Praxis?“, fragte Jenny.
„Ich arbeite nicht mehr am Tier. Eine Allergie --- leider. Zum Glück habe ich die Gabe, mit Tieren zu kommunizieren und Geistheilung zu praktizieren. Dazu reichen ein Foto und eine Haarprobe.“
„Wie meinen Sie das?“ Jenny verstand momentan gar nichts. „Sie untersuchen das Tier nicht?“
Frau Dittler-Zifurth lächelte mitleidig. „Doch natürlich. Ich kommuniziere zunächst mit seinem Geist. Ich frage es, ob es überhaupt geheilt werden will, und ob es andere Wünsche oder Probleme hat. Dann untersuche ich mit der Bio-Resonanz-Methode eine Haarprobe.“
„Quantenphysik“, murmelte Sascha. Jenny warf ihm einen verwirrten Seitenblick zu.
Die Frau sah ihn überrascht an und nickte dann zustimmend. „Genau.“
Jenny wollte nachfragen, entschied sich jedoch dagegen. Schließlich waren sie aus anderen Gründen da.
„Wir ermitteln im Fall des vermissten Professor Hirschhausen und …“
„Er wird vermisst?“, fuhr die Frau dazwischen.
„Ja, seit einigen Tagen. Sie hatten immer wieder Kontakt zu ihm. Wie kam das?“
„Sehen Sie, in der Humanmedizin ist es noch schlimmer als in der Tiermedizin. Aus reiner Profitgier werden unendlich viele unnötige Behandlungen durchgeführt, die die Patienten noch kränker machen, statt ihnen zu helfen!“
„Zum Beispiel?“, meinte Jenny skeptisch.
„Da gibt es unzählige Beispiele. Unnötige Operationen, Chemotherapien und nicht zuletzt Impfungen!“
„Sie halten Impfungen …? Vergessen Sie das. Was hatte denn nun Professor Hirschhausen damit zu tun?“
„Er ist eine zentrale Person der deutschen Onkologie. Ich habe ihn immer wieder davon zu überzeugen versucht, dass sein Handeln falsch ist. Er muss einfach einsehen, dass viel zu viele unnötige und schädliche Chemotherapien durchgeführt werden! Dabei weiß man, dass die meisten Chemotherapien die Prognose verschlechtern statt verbessern! Wenn jemand, der so einflussreich ist wie er, sich dagegen aussprechen würde, wäre das ein riesiger Erfolg!“ Sie war immer lauter geworden und atmete schwer.
„Und wie hat er auf Ihre Einlassungen reagiert?“
„Er hat mich zuerst komplett ignoriert!“, sagte sie empört. „Aber natürlich habe ich nicht lockergelassen. Irgendwann hat er mir einen nichtssagenden Brief geschrieben. Wahrscheinlich war er von der Sekretärin verfasst, dieser Zicke! Vor vierzehn Tagen habe ich ihm dann eine Liste mit Geschädigten geschickt. Darauf hat er noch gar nicht geantwortet.“
„Und woher hatten Sie die Liste?“
„Recherche“, erklärte sie lapidar. Auf Jennys fragenden Blick hin, erläuterte sie. „Ich habe Patienten befragt.“
„Wie kamen Sie denn an die Daten? Also woher wussten Sie, wer erkrankt ist? Das dürfte doch unter Datenschutz fallen.“
Sie antwortete zunächst nicht und spielte mit einem ihrer bunten Schals. Jenny wartete einfach ab. Das Schweigen zog sich in die Länge. Endlich antwortete sie, zuerst so leise, dass Jenny sie kaum verstand.
„Bitte?“, hakte sie nach.
Frau Dittler-Zifurth warf trotzig den Kopf nach hinten. „Ich habe die Teilnehmer von Selbsthilfegruppen befragt.“ Sie sah Jennys Blick. „Wissen Sie, bei wie vielen von ihnen die Krankheit nach der ersten oder zweiten Chemotherapie erst richtig ausgebrochen ist?“
„Nein. Und das tut auch nichts zur Sache. Haben Sie Professor Hirschhausen jemals persönlich getroffen?“
„Nein!“ Die Frau spuckte Jenny die Wörter förmlich vor die Füße. „Ich habe es immer wieder versucht. Habe Tagungen besucht, auf denen er gesprochen hat. Man hat mich nie zu ihm vorgelassen. Seine Sekretärin hat ihn verleugnet, wann immer ich im Büro erschienen bin. Ich war sogar bei ihm zu Hause. Ich habe ihn reingehen sehen. Trotzdem hat seine Frau behauptet, er wäre nicht da!“
„Sie sind ihm gefolgt“, stellte Jenny fest.
„Das wissen Sie doch. Immerhin hat er eine einstweilige Verfügung gegen mich erwirkt.“
„Sie haben also keine Ahnung, wo er sich zur Zeit aufhält?“
„Sehen Sie sich um. Vielleicht habe ich ihn ja irgendwo versteckt!“ Ihre Stimme hatte einen hysterischen Unterton.
Jenny zögerte. „Das wird nicht nötig sein.“
Frau Dittler-Zifurth begleitete sie hinaus auf die Veranda. Ihr Ärger schien wie weggewischt. Stattdessen trug sie einen jovialen, träumerischen Ausdruck zur Schau. „Haben Sie ein Haustier?“
„Nein“, entgegnete Jenny kurz. „Ich hatte mal eine Vogelspinne, aber die ist tot.“
„Das macht nichts. Ich kann auch mit toten Tieren kommunizieren. Falls es etwas gibt, das Sie wissen möchten?“
Jenny sah sie entgeistert an. „Nein, danke.“ Sie verabschiedeten sich und beeilten sich, zu ihrem Auto zu kommen. Als sie zurücksah, stand die Frau auf der Veranda und sah ihr nach.
„Total verrückt, die Frau!“, murmelte Jenny vor sich hin und bog auf die Straße zur Autobahn ein.
Sascha saß schweigend neben ihr. Jenny warf ihm einen Seitenblick zu. „Was ist? Da drin warst du schon stumm wie ein Fisch. Hast du gar nichts zu der Irren zu sagen?“
Sascha verzog das Gesicht zu einem Grinsen. „Wirklich ganz schön durchgeknallt. Wobei Bioresonanz tatsächlich auf Vorgängen der Quantenphysik beruht, die jetzt noch nicht erklärbar sind. Aber dieser Anhänger …“
„Was ist mit ihm?“
„Ich habe vor Kurzem den Gleichen gesehen. In einer Schublade des Mordopfers vom Goetheturm.“
Jenny sah ihn überrascht an, richtete ihre Aufmerksamkeit aber, als ein Sportwagen sie beim Überholen schnitt, schnell wieder auf den Straßenverkehr. „Wo ist da die Verbindung, und warum hast du sie nicht danach gefragt?“
„Ich denke, ich kenne die Verbindung“, sagte Sascha langsam. „Das Opfer, Helmut Roth, hatte Krebs und war in einer dieser Selbsthilfegruppen.“ Er sah starr geradeaus. „Vermutlich war es eine von denen, mit denen sie Kontakt aufgenommen hat. Ich werde mich dort erkundigen. Wenn sie Geschäfte mit den Hoffnungen dieser armen Menschen macht, werde ich ihr das Handwerk legen.“
Es brannte Sascha auf der Seele, Jenny von Biederkopf zu erzählen. Aber er hatte sein Wort gegeben. Und doch … Als er gerade etwas sagen wollte, kam Jenny ihm zuvor.
„Ich raff es nicht“, sagte sie, als sie auf der Friedberger Landstraße nach Frankfurt hinein fuhren. „Wo soll der Professor sein? So jemand verschwindet doch nicht einfach spurlos.“ Sie parkte vor Saschas Wohnhaus. „Ich schicke dir für alle Fälle sein Foto aufs Handy. Immerhin scheint es zumindest eine vage Verbindung zu eurem Goetheturm-Opfer zu geben.“
Sascha nahm sein eigenes Handy und betrachtete das eingehende Foto. „Ich halte dich über alles auf dem Laufenden, was im entferntesten mit der Dittler-Zifurth zusammenhängt. Schade, dass wir nicht mehr zusammen ermitteln. Heute war es wie in alten Zeiten!“ Er beugte sich zu ihr, umarmte sie und stieg aus.
Jenny fuhr los und fädelte sich in den Verkehr ein. Im Rückspiegel sah sie, wie Sascha ihr nachwinkte. Ein merkwürdiges Gefühl ergriff sie. War es Heimweh? Ein paar Stunden lang hatte sich alles wie früher angefühlt. Hier gehörte sie hin, nach Frankfurt in die Mordkommission, mit Sascha und Logo an der Seite. Sie seufzte tief auf. All das hatte Biederkopf ihr zerstört. Jetzt gab es keinen Weg zurück.