Eine Stunde später fuhr Jenny schon wieder auf der A 3 Richtung Frankfurt. Zuvor hatte sie die Witwe Hirschhausens besucht, und ihr das Foto des Kopfes gezeigt. Die Frau hatte zunächst wortlos auf das Bild gestarrt, dann war sie auf die Couch gesunken. Sie hatte die Fassung gewahrt, doch ihr Blick, als sie zu Jenny hochsah, hatte bodenlose Verzweiflung ausgedrückt. „Ich hatte bis zuletzt …“ Ihre Stimme versagte. Sie räusperte sich. „Ich habe bis zuletzt geglaubt, dass er zurückkommen wird. Dass es irgendeine Erklärung gibt.“ Sie sah wieder auf das Foto.
„Sie sollten jetzt nicht alleine sein“, sagte Jenny sanft, setzte sich neben die Frau und legte den Arm um ihre Schultern. „Kann ich jemanden für Sie anrufen?“
„Nein danke. Sprechen Sie … sprechen Sie auch mit Frau Senger?“
„Ich darf nur den nächsten Angehörigen die Tod …, die Nachricht vom Ableben eines Vermissten mitteilen.“
Frau Hirschhausen straffte sich. „Ich werde sie anrufen. Vielleicht können wir uns gegenseitig trösten. Immerhin haben wir ihn beide …“ Jetzt zeigte sich doch ein Riss in ihrer Fassade, und sie schluchzte auf, fing sich jedoch sofort wieder. „Danke, Frau Becker. Sie können mich jetzt beruhigt alleine lassen. Bitte melden Sie sich, wenn Sie noch Fragen haben.“
Jenny wechselte auf die A66 und fluchte verhalten über den Verkehr. Die nächste Baustelle ließ den Verkehr auf dem sogenannten Rhein-Main-Schnellweg zwischen Wiesbaden und Frankfurt in einer Geschwindigkeit fließen, die bestenfalls zäh genannt werden konnte. Andererseits gab ihr das Zeit zum Nachdenken. Sowohl der Vermisstenfall Hirschhausen als auch der Fall des Toten aus dem Rhein warfen reichlich Fragen auf. Wie war die Leiche des Professors nach Frankfurt gekommen? Weder am Tag seines Verschwindens noch am Tag danach hatte er einen Termin dort gehabt. Der Kongress, an dem er teilnehmen sollte, würde erst in einigen Tagen beginnen. Oder wusste nur niemand davon? Gab es eine Art Vorbesprechung? Und wieso wurden sein Kopf und sein Körper an verschiedenen Stellen gefunden? Genau wie bei dem Toten aus dem Rhein. Konnte es da Gemeinsamkeiten geben? Fast unmöglich zu sagen, solange der andere nicht einmal identifiziert war. Wieso dauerte das nur so lange? Der Prof hätte sicher schon längst … Nein, die Mainzer Kollegin war bestimmt ebenso kompetent. Wenn Jenny Sascha nicht tags zuvor das Foto von Hirschhausen gezeigt hätte, wäre der Professor möglicherweise auch nicht so schnell identifiziert worden.
Endlich löste sich der Stau auf. Sie fuhr am Bad Homburger Kreuz auf die A661 und nahm die Ausfahrt Eissporthalle. Sie hatte sich mit Sascha an der Fundstelle verabredet, auch wenn die Leiche schon in die Gerichtsmedizin abtransportiert worden war. Sie parkte in der Ostparkstraße, wo es einen Treppenübergang über die Gleise des nahegelegenen Güterbahnhofs gab. Sascha erwartete sie schon und begrüßte sie mit einer Umarmung.
„Lange nicht gesehen“, grinste Jenny. „Da lasse ich mich nach Koblenz versetzen und bin seitdem mehr hier in Frankfurt als dort.“
„Du hättest gar nicht weggehen sollen!“, erklärte er ernst.
Sie zögerte mit der Antwort. „Es ging nicht anders. Und Biederkopf …“
„Er arbeitet momentan gar nicht“, sagte Sascha vorsichtig. „Urlaub oder so. Keine Ahnung.“
„Lass uns von was anderem sprechen. Wo lag denn die Leiche?“
Sascha führte sie neben der Treppe zum Zaun, der das Gelände des Güterbahnhofs vom Park abtrennte. Der Maschendraht war hier komplett durchschnitten und zur Seite geklappt. Gelbes Flatterband versperrte den Durchgang und ein uniformierter Kollege hielt Wache, sodass keine Unbefugten auf das Bahngelände eindringen konnten. Sascha nickte ihm zu und hielt Jenny das Flatterband hoch. Die Augen des Uniformierten folgten ihr neugierig, als sie sich darunter hindurch bückte.
Die Spurensicherung hatte den Tatort schon verlassen, aber hier und da sah man noch Spuren ihrer Arbeit. Auf den Gleisen war mit weißer Kreide ein Umriss markiert, so gut es auf dem steinigen Gleisbett möglich war. Überall war Blut und Jenny meinte, Hautfetzen und andere Reste des mehrfach überrollten Körpers zu erkennen.
„War er tot, als er auf die Gleise gelegt wurde oder war der Kopf noch dran und wurde vom Zug abgetrennt?“
„Das passt ja vom Zeitverlauf nicht. Der Kopf muss schon entfernt gewesen sein.“
„Du hast natürlich recht. Ich habe nicht richtig nachgedacht“, sagte Jenny. „Der Mörder hat ihm also den Kopf abgetrennt, diesen auf dem See platziert und den Rest heute Morgen auf den Gleisen.“
„So könnte es gewesen sein“, bestätigte Sascha. „Der Prof wird es uns vielleicht genauer sagen können. Er wird sich freuen, von dir zu hören!“
„Halte ich dich jetzt von der Obduktion ab?“, fragte Jenny besorgt, die Saschas Leidenschaft für Sektionen kannte.
„Logo hätte es eh nicht gerne gesehen, wenn ich dabei gewesen wäre.“
„Was?“, fragte Jenny erstaunt. „Warum denn? Solange er nicht zuschauen muss!“
Sascha hob die Schultern und sah weg.
„Raus mit der Sprache! Was ist da los bei euch?“ Als immer noch keine Antwort kam, setzte sie nach: „Wir sind doch Freunde, oder? Ich dachte, wir könnten uns alles sagen?“
„Also gut“, gab er nach. „Bei uns herrscht dicke Luft, seit er herausbekommen hat, dass ich mich auch auf deine Stelle beworben habe.“
„Du? Aber …“ Sie dachte kurz nach. „Natürlich. Warum nicht? Du bist zwar jünger, aber ein ausgezeichneter Polizist. Und Logo … Lass mich raten … Er hat sich zuerst gar nicht beworben.“
„Du kennst ihn gut“, bestätigte Sascha. „Der Chef hat ihn zu sich gerufen und ihm die Leviten gelesen. Logo kam stinksauer zurück, und dann hat er auch noch mitbekommen, dass ich mich ebenfalls beworben habe. Das war das Schlimmste.“
„Er ist halt schon ewig dabei“, gab Jenny zu bedenken. „Wahrscheinlich ist er davon ausgegangen, die Stelle automatisch zu bekommen. Aber Erfahrung ist nicht alles. Er eckt einfach zu oft an.“
„Ich gönn sie ihm ja“, sagte Sascha. „Aber mich ärgert es, dass er es für absurd hält, dass ich auch geeignet sein könnte. Nur deswegen ziehe ich die Sache jetzt durch, obwohl ich wahrscheinlich sowieso keine Chance habe. Am liebsten wär‘s uns beiden eh, wenn du wiederkämst.“
Jenny sah traurig zu Boden. „Irgendwann vielleicht. Kommt mich mal besuchen. Es ist wunderschön in meinem Dorf im Hunsrück. Zumindest wenn die holländischen Nachbarn nicht da sind!“
Bevor Sascha antworten konnte, klingelte sein Handy. Sein Gesicht erhellte sich, als er hörte, wer am anderen Ende der Leitung war. Die Stimme des Gerichtsmediziners Dr. Schwind erklang so laut, dass sogar Jenny ihn hören, wenn auch nicht verstehen konnte. Sascha stellte den Lautsprecher an: „Meine Arbeit interessiert Sie wohl gar nicht mehr?“, ertönte es. Ohne eine Antwort abzuwarten, redete er weiter. „Es wäre aber gut, wenn Sie herkommen würden! Ich hab interessante Fakten für Sie!“
Sascha sah fragend zu Jenny. Sie nickte und er bestätigte. „Ich bin spätestens in einer halben Stunde da.“
„Ich komme mit“, kam Jenny seiner Frage zuvor, was ein zufriedenes Lächeln bei Sascha hervorrief.