Kapitel 20

Kurz darauf fuhren sie über den Kaiserleikreisel auf die andere Mainseite und folgten der Uferstraße bis nach Sachsenhausen. Über die Kennedyallee setzten sie ihren Weg zum Gerichtsmedizinischen Institut in der Nähe der Universitätsklinik fort.

Der Prof erwartete sie im Obduktionsraum. Sein Assistent stattete sie mit Kitteln und Überschuhen aus und öffnete ihnen die Stahltür zu dem gekachelten kühlen Raum. Der Prof beugte sich über einen Tisch und sah kaum auf, als sie hereinkamen. „Frau Becker, das dachte ich mir, dass Sie mir nicht lange erspart bleiben!“

Jenny, die eine fast freundschaftliche Beziehung mit dem ruppigen Gerichtsmediziner verband, grinste. „Ich bin extra zu Besuch gekommen, um Ihnen das Leben schwer zu machen!“

„Sieht Ihnen ähnlich! Sie haben, wie ich höre, auch eine zweigeteilte Leiche?“

„Tatsächlich, und ich überlege die ganze Zeit, ob das Zufall sein kann.“

„Natürlich nicht!“, erklärte der Prof harsch. „Ist Ihr Gerichtsmediziner völlig verblödet?“

Jenny warf einen überraschten Blick zu Sascha. „Wieso? Wie kommen Sie darauf?“

„Na, nun kommen Sie schon näher. Der Tote beißt Sie nicht. Zumindest die Hälfte ohne Kopf nicht!“ Er grinste über seinen eigenen Witz.

Sascha musste er das nicht zweimal sagen, und auch Jenny trat an den Tisch. Vor ihr lag der nackte Körper, der Kopf war daran gelegt, sodass man kaum sah, dass er abgetrennt worden war.

„Na?“, fragte der Prof und sah sie erwartungsvoll an.

„Was, ‚na’?“, fragte Jenny irritiert.

Sascha hingegen bewies wieder sein Talent für alles Gerichtsmedizinische. „Das gibt‘s doch nicht“, murmelte er und besah sich die Leiche genau.

„Sie sehen es also!“, sagte der Prof befriedigt. „Nicht weniger habe ich von Ihnen erwartet!“

Sascha sah hoch. „Aber wie kann das sein?“

„Was denn?“, fragte Jenny ungeduldig und sah von einem zum anderen. „Klärt mich vielleicht mal jemand auf?“

„Gerne!“ Der Prof strahlte sie an, was Jenny grundsätzlich misstrauisch machte. „Bitte betrachten Sie aufmerksam den Kopf. Vergessen Sie, was Sie bereits wissen. Betrachten Sie ihn, als würden Sie ihn das erste Mal sehen und nicht wissen, um wen es sich handelt.“

„Jaja, was ist denn nun mit ihm?“

„Sagen Sie es mir!“

Widerwillig beugte Jenny sich über den Stahltisch und betrachtete den Kopf eingehend. „Ein Mann mittleren Alters. Die Züge leicht verquollen, aber man kann noch erkennen, dass er gutaussehend war. Kurze, gepflegte Haare.“

Der Prof öffnete mit einer geübten Handbewegung den Kiefer, sodass sie die Zähne sehen konnte. Sie schluckte. „Gepflegte gerade Zähne …“ Sie sah den Prof fragend an. „Noch etwas?“

Er schüttelte den Kopf. „Dann bitte jetzt den Körper.“ Jenny seufzte. „Könnten wir das Fragespiel nicht abkürzen?“ Da sie die Antwort kannte, beugte sie sich über den Körper und betrachtete ihn ebenso genau wie den Kopf. Nach einem Moment stutzte sie und sah hoch.

Der Prof grinste breit. „Sie sehen es also?“

Er wartete ihre Antwort nicht ab. „Ungepflegte Hand- und Fußnägel. Schwielen. Verfilzte, ungepflegte Körperbehaarung. Und die Hautfarbe … wenn man genau hinschaut, ist sie etwas dunkler als die des Kopfes. Also?“ Er sah sie erwartungsvoll an.

Jenny betrachtete die Beine und erinnerte sich an die Operation, die Hirschhausen hinter sich hatte. Doch hier war nirgends eine Narbe zu sehen. „Der Kopf gehört nicht zum Körper“, sagte Jenny langsam und versuchte gleichzeitig, die Tragweite dieser überraschenden Erkenntnis zu begreifen.

„Genau!“ Der Prof grinste wie ein Kind zu Weihnachten.

„Aber, wie ist das möglich?“, fragte Jenny.

„Jetzt stellen Sie sich nicht blöde! Irgendjemand hat da entweder zwei Personen getötet, deren jeweils andere Hälfte Sie zufällig noch nicht gefunden haben …“ Er fing Saschas Blick auf. „Ich führe das nur der Vollständigkeit aus, oder halten Sie mich für völlig beschränkt und fantasielos?“ Er funkelte Sascha an, und dieser beeilte sich, den Kopf zu schütteln.

„Oder …“, der Prof machte eine bedeutungsvolle Pause. „Sie haben es mit einem Spaßvogel zu tun, der zwei Menschen getötet und ihre Hälften vertauscht hat!“

„Und dann karrt er zwei Teile nach Koblenz und zwei versteckt er hier in Frankfurt?“

„Ich bin froh, dass Sie mir folgen können“, erklärte der Gerichtsmediziner. „Dennoch ist mir Ihr ungläubiger Ton nicht entgangen. Ich schlage vor, Sie setzen sich mit dem zuständigen Kollegen in Koblenz in Verbindung. Auch wenn ich stark an seiner Kompetenz zweifle, bin ich doch sicher, er wird in der Lage sein, festzustellen, ob sein Kopf früher am gefundenen Körper gehangen hat oder an einem anderen.“

Jenny hatte schon das Handy am Ohr. „Becker, Mordkommission. Verbinden Sie mich umgehend mit Frau Dr. Marius!“ Sie lauschte einen Moment. „Das ist mir egal! Holen Sie sie ans Telefon!“

Jenny atmete tief durch. Kurz darauf hörte sie die Stimme der Gerichtsmedizinerin. „Frau Becker. Ist etwas passiert?“

Betont ruhig sagte Jenny: „Es geht um die Leiche aus dem Rhein. Kann es sein, dass Kopf und Körper nicht von ein- und derselben Person stammen?“

Zuerst war es totenstill in der Leitung. „Was? Wie meinen Sie das?“

„Was ist an der Frage so schwer zu verstehen?“, sagte Jenny nun einen Ton schärfer.

„Nein, also, ich denke nicht. Wie kommen Sie darauf?“

Jenny biss die Zähne zusammen und sagte gepresst. „Weil ich hier einen Kopf und einen Körper habe, die definitiv nicht zusammengehören. Haben Sie bereits die DNA-Ergebnisse? Wenn nicht, würde ich Sie bitten, zum Leichnam zu gehen und ihn sich noch einmal genau …“ Sie betonte das Wort. „… anzuschauen.“

„Aber …“

„Gleich! Ich warte!“

„Aber ich … gut. Es wird einen Moment dauern, ich bin am anderen Ende des Gebäudes. Aber wenn Sie darauf bestehen. Ich glaube ja nicht …“

„Tun Sie es einfach. Bitte!“ Jenny atmete tief durch und zwang sich zur Ruhe. Das Handy lose in der Hand lief sie im Obduktionssaal auf und ab. Sascha beobachtete sie besorgt, der Prof beugte sich über die Leiche und entnahm weitere Proben. Niemand sprach.

Minuten später ertönte Frau Dr. Marius‘ Stimme aus dem Hörer. Sie klang hektisch und verzweifelt. „Ich weiß nicht, wie das passieren konnte! Sie müssen mir glauben. Ich bin sicher, sobald die DNA-Ergebnisse fertig sind, hätte ich …“

Jenny schnitt ihr das Wort ab. „Bitte schicken Sie alle Ergebnisse an das Frankfurter Institut für Gerichtsmedizin, zu Händen Professor Schwind. Danke.“

„Das gibt‘s doch nicht!“, rief sie, als sie aufgelegt hatte. „Wie kann man so etwas nicht merken?“

„Ein Obdachloser“, sagte der Prof und füllte etwas mithilfe einer Pinzette in ein kleines Tütchen.

„Was?“, fragte Jenny, in ihrer Tirade unterbrochen, verwirrt.

„Der Körper dürfte der eines Obdachlosen sein. Oder eines Menschen, der sich sehr vernachlässigt hat. Der Kopf wirkt dagegen ausgesprochen gepflegt. Aber ich verstehe wohl richtig, dass er einem Kollegen gehört, vielmehr gehörte.“

„Die Unterkunft im Ostpark“, stellte Sascha fest. „Vermutlich hat er sich da einen der Obdachlosen geschnappt. Es wird allerdings schwierig sein, festzustellen, ob jemand abgängig ist. Die Obdachlosen kommen und gehen unregelmäßig, und viele ziehen irgendwann einfach weiter.“

Jenny kam ein grauenvoller Gedanke. „Meinst du, dass unser Mörder einen von ihnen einfach nur getötet hat, um dieses grausige Verwechselspiel zu inszenieren?“

„Grausig aber äußerst erfolgreich. Es hat eine Menge Ermittlungszeit gekostet und wäre ich nicht so brillant …!“, fiel der Professor ein.

„Ich vermisse Sie“, erklärte Jenny aufrichtig. „Sie möchten nicht vielleicht nach Koblenz ziehen?“

„In die eisige Ecke kurz hinter dem Westerwald? Ich bitte Sie! Außerdem kommen Sie eh bald zurück.“

Da war sich Jenny nicht so sicher, widersprach aber nicht. Sie verabschiedete sich vom Prof und auch von Sascha, der noch im Institut bleiben wollte.

Kaum saß sie im Auto, rief Britta an und gab ihr nähere Informationen zu dem Kongress, den Hirschhausen am nächsten Wochenende hätte besuchen sollen. Er wurde vom Höchster Krankenhaus organisiert und sollte im H4 Hotel in der Oeser Straße stattfinden. Der für die Planung Verantwortliche war ein Dr. Moll. Kurz entschlossen fuhr Jenny nach Rücksprache mit einem immer noch missgelaunten Logo nicht auf die Autobahn, sondern über die Uferstraße und die Schwanheimer Brücke nach Höchst in die Gotenstraße. Sie fand einen der raren freien Parkplätze und fragte sich in dem großen Krankenhauskomplex zum Büro von Dr. Moll durch. Es war um die Mittagszeit und so hatte sie das Glück, ihn bei einem Sandwich an seinem Schreibtisch anzutreffen. Moll war um die fünfzig, rundlich mit einem Kranz brauner Locken und einer dicken Brille, hinter der seine Augen wie Murmeln wirkten.

Überrascht legte er das Sandwich zur Seite und stand auf. „Eine Polizistin? Was kann ich für Sie tun?“

Erheitert sah Jenny, dass etwas Mayonnaise in seinem Mundwinkel klebte. Sie stellte sich vor und fragte nach Professor Hirschhausen und seiner Teilnahme an dem anstehenden Kongress.

„Bitte, setzen Sie sich doch“, sagte Moll und wedelte mit der Serviette, die er noch in der Halt hielt, in Richtung des Besucherstuhls.

„Hirschhausen. Darf ich fragen, warum Sie sich nach ihm erkundigen?“

„Er wurde ermordet“, sagte Jenny kurz angebunden.

Moll schnappte nach Luft und ließ sich zurücksinken. Er schien nicht zu bemerken, dass er immer noch die Serviette umklammerte. Seine Knöchel waren weiß.

Jenny lehnte sich besorgt vor. „Tut mir leid! Kannten Sie ihn persönlich?“ Sie sah, dass der Mann blass war.

„Nur vom Telefon. Ich wollte gerne, dass er auf unserem Kongress zusätzlich zu den Fachvorträgen noch eine Begrüßungsrede hält. Im Rahmen dieser Anfrage hat er sich geäußert, dass er lieber gar nicht sprechen würde … Tot, sagten Sie? Und noch dazu ermordet…“

Jenny ließ ihm einen Moment Zeit, sich zu fassen, dann fragte sie: „Welches Thema hat der Kongress?“

„Interdisziplinäre Krebstherapie.“ Er sah ihren fragenden Blick. „Wir stellen die verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten nebeneinander, von der Chemotherapie bis zu alternativen Methoden wie Kräutertherapie.“

Jenny kam ein Gedanke. „Kennen Sie Frau Dittler Zifurth?“

„Leider ja“, kam es wie aus der Pistole geschossen. „Furchtbare Person! Wir mussten sie einmal von der onkologischen Station entfernen lassen. Sie ist wahllos in Krankenzimmer eingedrungen und hat Patienten belästigt. Stellen Sie sich vor, sie hat ihnen Amulette verkaufen wollen!“

Er hatte sich in Rage geredet und seine Gesichtsfarbe war von blass in ein gesundes Rot übergegangen.

„Übrigens ist sie der Grund, warum der Professor nicht sprechen wollte“, fügte er hinzu.

„Wie das?“, fragte Jenny erstaunt.

„Nun, der Kongress ist auch für Nichtärzte geöffnet, da es ja auch um alternative Methoden geht. Leider haben wir keinerlei Handhabe, Frau Dittler-Zifurth den Zugang zu verwehren. Professor Hirschhausen hat befürchtet, dass es zu einem Eklat kommen könnte, da sie sich, wie er sagt, auf ihn besonders eingeschossen hat. Er hat vorgeschlagen, dass sein Stellvertreter die Rede und die Vorträge hält.“

„Dr. Wölter?“, fiel Jenny ein.

„Sie kennen ihn?“, fragte der Arzt.

„Kennen wäre zu viel gesagt“, erklärte Jenny. „Ich habe mich mit ihm unterhalten.“ Ihr war die Änderung in Molls Stimme nicht entgangen. „Sie halten nicht viel von ihm?“

Moll sah sie erschrocken an. „Wie kommen Sie darauf? Ich kenne ihn nicht genug, um ihn zu mögen oder nicht zu mögen. Ich hätte nur lieber den Professor als Referenten gehabt. Er ist ein sehr charismatischer Redner. War“, verbesserte er sich dann.

„Ich dachte …“, sagte Jenny langsam, „dass Dr. Hirschhausen eher die schulmedizinische Richtung vertrat. Wieso spricht er dann auf einem Kongress, in dem es um alternative Methoden geht?“

Moll lächelte. „Das ist nur auf den ersten Blick überraschend. Zum einen war der Professor sehr aufgeschlossen, auch wenn er selbst eher der schulmedizinischen Seite entstammt, zum anderen gibt es ebenso Redner aus dem anderen Lager, sodass keine der beiden Seiten zu kurz kommt. Die Disziplinen sind ja auch keine Gegner sondern ergänzen sich oft hervorragend. Gerade, wenn es um Nebenwirkungen der Schulmedizin geht, kann die alternative Medizin viel ausrichten. Es ist nur manchmal schwierig einzuschätzen, wann welche Therapie angebracht ist. Besonders für die Patienten.“

„Ich kann mir vorstellen, dass es in solch emotionalen Ausnahmesituationen oft schwierig ist, sich für das Beste zu entscheiden.“

„Das ist wahr“, bestätigte Moll. „Aber sagen Sie, was genau erhoffen Sie sich von mir?“

Jenny seufzte. „Wir tappen noch ziemlich im Dunkeln, sowohl über das Motiv der Tat, als auch über die letzten Stunden des Professors. Außerdem haben sich Verbindungen zu Frankfurt ergeben. Es hätte sein können, dass er am Tag seines Todes hier war.“

Moll schüttelte den Kopf. „Ich habe ausschließlich mit ihm telefoniert. Und das letzte Mal … Lassen Sie mich überlegen …“ Er zog einen Kalender zu sich heran. „Es war am Tag des Geburtstags meiner Frau. Ich war schon spät dran, deshalb erinnere ich mich. Am 14.“

„Also zwei Tage vor seinem Tod“, sagte Jenny nachdenklich. „Vermutlich ist Ihnen nichts an ihm aufgefallen?“

Moll überlegte. „Ich wüsste nicht, was. Er hatte sich quasi entschieden, nicht auf dem Kongress zu reden und nochmal auf Dr. Wölter und auf seine Studie verwiesen.“

„Studie?“ Jenny merkte auf. „Welche Studie?“

„Dr. Wölter macht eine Studie über den Erfolg von Chemotherapien.“

„Studie bedeutet doch, dass etwas Neues erforscht wird?“, fragte Jenny.

„In diesem Bereich gibt es ständig neue Medikamente. Fast monatlich kommt etwas Neues auf den Markt. Und wie Sie ja am Konflikt mit Frau Dittler-Zifurth sehen, gibt es durchaus unterschiedliche Meinungen zu ihrer Wirkung. Ich bin nicht im Einzelnen über Wölters Studie informiert, doch es geht um die statistische Erfassung des Therapieerfolgs. Nebenwirkungen, Rückfälle, Therapieerfolg oder Versagen.“

Jenny nickte nachdenklich. „Ich verstehe. Noch irgendetwas, das uns helfen könnte?“

Er gab sich sichtlich Mühe, nachzudenken, hob dann jedoch die Hände. „Leider nicht.“