Kapitel 22

Frau Senger öffnete nach dem zweiten Klingeln die Tür. Sie schien Jenny um Jahre gealtert. Mühsam setzte sie ein Lächeln auf und bat Jenny herein.

„Frau Hirschhausen hat mich informiert. Ich weiß nicht, ob es mir nicht lieber wäre, wenn Sie ihn nicht gefunden hätten. Dann gäbe es wenigstens noch Hoffnung. Andererseits war die Ungewissheit unerträglich.“ Sie bot Jenny einen Platz auf der Couch an.

„Sie haben nach wie vor keine Idee, wer ein Motiv hätte haben können, ihn zu töten?“

Die Frau schüttelte den Kopf. „Er hat nur Gutes getan. Sich für Menschen eingesetzt. Vielleicht jemand, dem er nicht hat helfen können?“

Jenny war der Gedanke auch schon durch den Kopf gegangen.

„Haben Sie da jemand Bestimmten im Sinn? Hat er Ihnen vielleicht von einem besonders tragischen Fall erzählt? Oder haben Sie mitbekommen, dass ein Patient oder ein Angehöriger ihm Vorwürfe gemacht hat?“

„Nein, und das hätte ich auch nicht“, sagte sie entschieden. „Wenn er bei mir war, wollte er nicht über seinen Beruf reden. Dann gab es nur uns beide. Er hat versucht, alles Unangenehme von mir fernzuhalten.“

Jenny wählte ihre nächsten Worte mit Bedacht. „Und wie steht es mit seiner Frau? Es kommt mir seltsam vor, unnatürlich, dass sie kein Problem mit Ihrer Beziehung zu ihrem Mann gehabt haben soll.“

Ein schmerzvoller Ausdruck huschte über Frau Sengers Gesicht. „Ich hoffe wirklich, wir haben ihr nicht zu wehgetan. Aber sie liebte Sebastian und er sie. Ich kann nicht glauben, dass sie ihm etwas angetan hat. Nein, ganz sicher nicht.“

Jenny konnte sich zwar durchaus vorstellen, dass die betrogene Ehefrau verletzt genug war, um ihren Mann zu töten, nicht jedoch, dass sie ihn köpfte und mit dem Kopf noch ein irrsinniges Spiel veranstaltete.

„Bitte verzeihen Sie mir die nächste Frage, aber ich muss sie stellen. Haben Sie Kenntnis, ob Professor Hirschhausen ein Testament gemacht hat? Hat er zum Beispiel einmal mit Ihnen darüber gesprochen, ob er Ihnen etwas vererben will?“

Sie lachte kurz auf. „Das hat er tatsächlich. Einmal, als in meiner Firma Stellen abgebaut wurden, haben wir über finanzielle Dinge gesprochen. Er hat angeboten, mich zu unterstützen und auch für den Fall, dass er vor mir stirbt, vorzusorgen. Ich habe es abgelehnt. Ich fand nicht, dass unsere Beziehung dergestalt war, und außerdem bin ich es gewohnt, unabhängig zu sein und möchte dies auch nicht aufgeben.“

„Es gibt also kein Testament?“

„Sicher weiß ich es nicht, aber er hat bei einer späteren Gelegenheit davon gesprochen, alles außer einem angemessenen Anteil für seine Frau der Krebsforschung zu spenden.“

Jenny dachte einen Moment über das Gesagte nach. „Meinen Sie, seine Frau hat davon Kenntnis?“

„Das weiß ich nun wirklich nicht.“

Die Frau krampfte die Hände um ein Taschentuch und schien nur mühsam die Fassung zu wahren.

„Wir sind gleich fertig“, versicherte Jenny. „Darf ich mir noch seine Sachen ansehen? Er hatte doch sicher einige Dinge bei Ihnen?“ Sie hatte den Beschluss in der Tasche, hoffte jedoch auf das Einverständnis der Frau.

„Sicher“, sagte sie auch sofort und erhob sich. „Kommen Sie.“

Was Professor Hirschhausen bei seiner Geliebten aufbewahrt hatte, war wenig mehr als ein paar Toilettenartikel, ein Buch und ein Bademantel, dessen Taschen bis auf ein Papiertaschentuch leer waren.

„Er hat Ihnen nichts zum Aufbewahren gegeben? Nichts hier liegen gelassen?“

„Nichts. Wie gesagt, er trennte Berufliches und Privates streng.“

Enttäuscht verabschiedete sich Jenny. „Gut, dann danke. Es wird noch ein paar Tage dauern, bis der … Körper freigegeben werden kann. Ich meine wegen der Beerdigung. Falls Sie …“ Verlegen hielt sie inne.

„Man wird sehen“, war die vage Antwort.

Als Jenny sich in der Diele an der Frau vorbeischieben wollte, fiel ihr Blick auf einen Herrenmantel an der Garderobe. „Ist das womöglich seiner?“

„Der Mantel! Er hat ihn das letzte Mal vergessen. Es hatte geregnet, der Regen hatte aber aufgehört, als er ging …“ Ihre Stimme brach.

„Darf ich?“, fragte Jenny und erntete ein Nicken.

Sie hob den schweren Regenmantel vom Haken und griff in alle Taschen. Ein Hustenbonbon, ein Taschentuch und etwas Kleingeld. Doch in der Innentasche, die mit einem Reißverschluss gesichert war, wurde sie fündig. Ein zusammengefaltetes Papier war dort ordentlich verstaut worden. Neugierig faltete Jenny es auseinander. „Ein Brief“, murmelte sie.

„Was steht drin?“, fragte Frau Senger aufgeregt.

Jenny starrte auf die Schrift. „Es tut mir leid. Das darf ich Ihnen nicht sagen. Ich muss den Brief mitnehmen.“ Als sie den Widerstand in den Augen der Frau sah, ergänzte sie: „Ich hab einen Beschluss dafür. Er ist wichtig für die Ermittlungen. Und ….“, setzte sie hinzu. „Er hat rein gar nichts mit Ihnen zu tun.“

Frau Senger nickte, trat einen Schritt zurück und gab so den Weg zur Tür frei.

Jenny verabschiedete sich und verließ das Haus. Im Wagen las sie als erstes noch einmal langsam den Brief von Anfang bis Ende durch. Immer noch blieb sie sitzen, starrte durch die Windschutzscheibe in den Regen, der vor wenigen Minuten eingesetzt hatte, und dachte nach.