Der nächste Tag war ein Sonntag. Jenny hatte gleich für morgens einen Besichtigungstermin ausgemacht. Am Abend zuvor hatte die Schlagermusik noch bis nach Mitternacht im Garten gedröhnt und diesmal war ihrer Bitte, sie leiser zu machen, zwar ebenso freundlich wie beim ersten Mal begegnet worden, aber mit noch weniger Erfolg.
Gegen neun Uhr machte sie sich auf den Weg zu dem Häuschen. Oben an der Straße parkte ein älterer Opel. Der Inhaber war schon im Haus, hatte die Fensterläden geöffnet und auch die Eingangstür stand offen.
Jenny klopfte an den Türrahmen, trat in den winzigen Flur und rief: „Hallo!“
„Kommen Sie rein!“, ertönte eine Stimme aus dem Inneren und Jenny ging weiter in einen Raum, der als Wohnzimmer zu dienen schien. Ein Mann um die Siebzig kam aus einer Tür an der Hinterseite. „Sie müssen Frau Becker sein. Schröder, freut mich.“
Neugierig sah Jenny sich um. Das Zimmer war teilweise möbliert. Ein schöner alter Holzschrank stand an einer Wand und ein beiger Zweisitzer, der nagelneu aussah, an einer anderen.
Schröder war ihrem Blick gefolgt. „Meine Frau und ich wollten das Haus eigentlich behalten und als Ferienhaus vermieten, aber wir sind nicht mehr die Jüngsten, und die Arbeit ist uns einfach zu viel. Zudem brauchen wir zum Glück das Geld nicht. Gefällt es Ihnen?“
Jenny nickte. „Bisher ja.“
Er lachte. „Stimmt, Sie haben ja kaum etwas davon gesehen. Wollen Sie es als Wochenendhaus nutzen?“
„Nein, ich möchte ganz hier wohnen. Eine Zeit lang zumindest.“
Ein Schatten schien über sein Gesicht zu gehen, doch vielleicht hatte Jenny es sich auch nur eingebildet.
„Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Rest.“
Er führte sie in den zweiten Raum, der eine komplette, ebenso neu wie die Couch aussehende weiße Einbauküche enthielt. Der Raum war groß genug, um auch noch einen Esstisch mit vier Stühlen aufzunehmen.
Jenny trat ans Fenster. Erst jetzt sah sie, dass eine Terrasse die ganze Länge des Hauses einnahm. Die Aussicht ins Tal war atemberaubend. Links und rechts standen große Bäume, doch direkt vor ihnen war eine Lücke, durch die sie die andere Talseite sehen konnte. „Schön“, sagte sie leise.
Schröder nickte. „Wir waren immer sehr gerne hier. Aber die Wege zum Einkaufen und zum Arzt sind uns irgendwann zu weit geworden. Jetzt haben wir eine hübsche seniorengerechte Wohnung in Emmelshausen. Kommen Sie.“
Er führte sie wieder zurück ins Wohnzimmer, wo in einer Ecke eine Wendeltreppe nach unten führte.
„Das Bad ist unten“, meinte er entschuldigend. „Aber Sie sind ja noch jung!“
Eine Etage tiefer standen sie in einem schmalen Flur, von dem links und rechts je eine Tür abging. Eine weitere führte offensichtlich nach draußen.
Schröder öffnete die Tür links und ließ ihr den Vortritt ins Schlafzimmer. Es war nicht groß, reichte aber für ein ca. 1,60 m breites Bett und einen Kleiderschrank, der die ganze Breite einnahm. „Das Bett ist ganz neu. Boxspring!“, erklärte er stolz.
Jenny nickte. Der nächste Raum war das Badezimmer, das auch frisch renoviert schien. „Neu gemacht“, erklärte er umgehend.
Als Letztes öffnete er die Tür ins Freie. Ein kleiner Garten war um das Haus herum angelegt, der jedoch schnell in Wald überging.
„Das ganze Hanggrundstück gehört dazu. Bis hinunter zum Weg. Allerdings haben wir es nicht genutzt. Der Hang ist doch recht steil. Meine Frau hat rund ums Haus Blumen gepflanzt und Gemüse angebaut. Da, der Apfelbaum trägt sehr gut.“
Jenny war wie bezaubert. Hier war sie, die Idylle, die sie gesucht hatte. Hier in diesem Häuschen, dessen Wohnfläche kleiner war als die ihrer Wohnung in Frankfurt, aber das so wunderschön lag.
„Und die Nachbarn?“, fragte sie.
„Nebenan ist ein Wochenendhaus, das Holländern gehört.“ Er sah ihren Blick. „Nette, ruhige Leute“, versicherte er schnell. „Die beiden Häuser gegenüber sind dauerhaft bewohnt. Ebenfalls sehr angenehme Nachbarn.“
„Es gefällt mir sehr!“, erklärte Jenny. „Aber was soll es denn kosten?“
Schröder kratzte sich am Kopf. „Also, da muss ich Ihnen erst etwas erklären. Offiziell ist das hier ein Wochenendwohngebiet. Es wird aber seit vielen Jahren geduldet, dass Eigentümer dauerhaft hier wohnen. Es gibt allerdings keine Garantie. Im schlimmsten Fall könnte es bei einem Verkauf untersagt werden, das Haus dauerhaft zu nutzen, was natürlich den Wert mindert.“
Jenny dachte einen Moment darüber nach. „Aber momentan wird es üblicherweise genehmigt?“
„Ja, und die Eigentümer versuchen gerade, es offiziell zum Dauerwohngebiet erklären zu lassen. Das hätte aber alles Mögliche zur Folge. Zum Beispiel müsste dann die Straße ausgebaut werden, was einiges kostet. Vielleicht erhalten aber auch nur einzelne Häuser das Dauerwohnrecht. Damit wäre wohl jedem am meisten gedient.“
„Sie sind sehr ehrlich, Herr Schröder“, sagte Jenny.
„Selbstverständlich“, erklärte er. „Ich will Sie doch nicht übers Ohr hauen!“
„Also was kostet es?“
Er zögerte. „Wir dachten Vierzigtausend. Immerhin sind Bad und Küche ganz neu. Alles bleibt natürlich drin, auch die Möbel. Wenn Sie sie möchten.“
Jenny war baff. Der Preis war für Frankfurter Verhältnisse unglaublich günstig. Selbst wenn sie nicht dauerhaft hier wohnen bleiben wollte oder konnte, könnte sie es als Wochenendhaus nutzen oder vermieten.
„Wann könnte ich einziehen?“, fragte sie.
Schröder lächelte. „Natürlich müssen wir erst einen notariellen Kaufvertrag machen. Aber einziehen können Sie von uns aus gleich.“
Jenny brauchte nur einen kurzen Moment, um zu einer Entscheidung zu kommen. Sie erzählte kurz von ihrer momentanen Wohnsituation.
„Wenn Sie mich sofort einziehen lassen, sind wir im Geschäft.“
„Hand drauf!“, bestätigte er und strahlte. „Meine Frau wird sich freuen. Ich lasse gleich einen Kaufvertrag aufsetzen. Hier bitte, der Schlüssel. Den Zweiten bekommen Sie, wenn alles erledigt ist.“
Kurz darauf verabschiedete er sich, und Jenny atmete tief durch. Sie konnte nicht glauben, dass sie gerade ein Haus gekauft hatte! Sie ging noch einmal langsam durch alle Räume. Dann sah sie auf die Uhr. Es war höchste Zeit, ins Präsidium zu fahren. Sie schloss sorgfältig ab und machte sich auf den Weg.
Jenny rief von unterwegs Michael Danner an, der gerade auf dem Weg zum Flughafen war. „Ich hoffe, du hältst mich nicht für undankbar!“, sagte sie abschließend. „Aber ich habe Ruhe und Abgeschiedenheit gesucht und diese Nachbarn … Mir fehlen echt die Worte, um die zu beschreiben.“
„Kein Problem“, antwortete er. „Im Gegenteil. Ich bin froh, dass ich jetzt Bescheid weiß. Ich werde die Wohnung unter diesen Umständen doch verkaufen. Auf den Ärger hab ich keine Lust.“
Frank und Britta warteten schon im Büro. Auf einem Schreibtisch, den sie halb von Akten freigeräumt hatten, war ein Frühstück mit belegten Brötchen, Croissants und Stückchen hergerichtet. „Hat jemand Geburtstag?“, rief Jenny erfreut.
„Nee, aber wenn wir schon am Sonntag arbeiten müssen“, erklärte Frank und biss in ein Schokocroissant, „dann können wir es uns ja angenehm machen. Greif zu!“
Britta schenkte ihr Kaffee ein. Ihre Augen funkelten aufgeregt. „Ich habe eine abgeschlossene Schublade im Haus des Professors entdeckt. Der Schlüssel war laut Aussage seiner Frau an seinem Schlüsselbund, der bisher noch nicht aufgefunden wurde. Mit ihrem Einverständnis, auch wenn es nicht notwendig gewesen wäre, habe ich das Schloss aufbrechen lassen und einen ganzen Stapel Akten gefunden. Alles Beschwerden von Patienten und Briefe von Frau Dittler-Zifurth.“
„Gute Arbeit. Stell eine Liste mit den Namen und dem Grund für die Beschwerden zusammen. Ich habe auch etwas“, sagte Jenny und erzählte von dem Brief. „Er hat keinen Absender, aber ich wette, dass er auch von der Dittler-Zifurth stammt.“
„Warum unterschreibt sie ihn dann nicht?“, wunderte sich Frank.
„Vermutlich, weil sie angenommen hat, dass er alles, was von ihr kommt, ignoriert.“
Frank dachte einen Moment darüber nach. „Was steht denn drin?“
Jenny zog die Plastikhülle, in die sie den Brief gesteckt hatte, aus ihrer Aktentasche und trat an den Kopierer. Sie gab jedem ihrer Kollegen eine Kopie.
Britta hielt ihre anklagend hoch. „Brief? Das ist doch nur eine Liste mit Namen?“
„Sehr geehrter Professor, wie besprochen die Liste der Geschädigten“, las Jenny vor. „Das ist doch wohl ein Brief“, ergänzte sie gereizt.
„Ja sicher“, sagte Britta kleinlaut. „Soll ich die Namen mit den Unterlagen aus Hirschhausens Haus abgleichen?“
„Bitte. Und kopier alles für Frank und mich.“
Jenny schnappte sich ein Käse-Brötchen und ging in ihr eigenes Büro. Ihre gute Laune war wie weggeblasen. Brittas Art ging ihr gehörig auf die Nerven.
Gegen siebzehn Uhr fuhr Jenny wieder in den Heckenweg und parkte vor dem Haus. Kopfschüttelnd stieg sie aus. Schon wieder dröhnte Schlagermusik aus dem Erdgeschoss. Am Zaun zum Schafgehege hantierte der Mann, der ihr schon bei ihrem Einzug geholfen hatte.
„Die machen mir die Schafe ganz verrückt“, sagte er und trat zu ihr. „Wie halten Sie es nur da oben aus?“
„Gar nicht“, antwortete Jenny entschieden. „Ich ziehe wieder aus. Heute Morgen habe ich den Kaufvertrag für das kleine Haus weiter hinten im Heckenweg unterschrieben. Und ich habe schon den Schlüssel! Ich fange gleich an, meine Sachen nach hinten zu bringen. Vielleicht kann ich heute schon dort schlafen.“
„Das Haus von den Schröders? Das haben sie richtig gemacht. Nettes kleines Haus und gut in Schuss. Die Schröders haben viel drin machen lassen. Nur außen rum müssen Sie vielleicht ein bisschen Ordnung machen. Wenn‘s Ihnen zu viel wird, sagen sie Bescheid. Im Ort gibt‘s Leute, die das für kleines Geld gerne für sie übernehmen.“
„Gute Idee. Ich werde darauf zurückkommen. Aber jetzt muss ich los. Ich hab noch einige Fuhren zu machen, wenn ich nicht mehr in dem Krach schlafen will. Oder eher nicht schlafen.“
Er nickte bedächtig und sah ihr nach, als sie ins Haus ging. Dann griff er in seine Hosentasche und zog sein Handy heraus. Zwanzig Minuten später, sie packte gerade die zweite Tasche voll, klingelte es.
Seufzend ging sie zur Eingangstür und sah durch den Spion. Vermutlich wollte Luuk sie wieder zu Frikandellen einladen. Als sie niemanden sah, drückte sie den Türöffner. Die Treppe herauf kamen vier Männer um die vierzig. Sie zog die Eingangstür ein Stück auf und sah neugierig von einem zum anderen. Der größte von ihnen streckte die Hand aus. „Ich bin der Bürgermeister, herzlich willkommen. Ich habe gehört, Sie haben das Häuschen der Schröders gekauft. Wir helfen Ihnen schnell beim Umzug!“
„Äh, was?“, fragte Jenny wenig intelligent. Einer der Männer drängte sich an ihr vorbei, einen Stapel noch zusammen gefalteter Umzugskartons unter dem Arm. „Soll alles mit?“
„Äh, ja, außer den Möbeln … aber …“, stammelte Jenny.
Hinter den Männern kam der Schafbesitzer die Treppe hinauf. „Ich dachte, wir helfen Ihnen rasch, Ihre Sachen ins neue Haus zu bringen. Das ist hier auf dem Land so. Wo Sie doch jetzt eine von uns sind!“
Jenny trat zurück. „Das ist wahnsinnig nett von Ihnen!“, erklärte sie und sah sich um. „Es sind ziemlich viele Sachen, obwohl ich erst ein paar Tage hier bin.“
Die Männer nickten und begannen, die Kisten zusammenzufalten. Zwei gingen in die Küche und öffneten die Schränke. Von unten dröhnte weiter die Musik. Der Mann, der sich als Bürgermeister vorgestellt hatte, trat noch einmal zu ihr. „Es hat immer wieder Beschwerden von den Nachbarn gegeben. Sogar die Polizei war schon hier. Soviel ich weiß, hat der Besitzer der Wohnung ihnen gekündigt. Aber bis sie wirklich draußen sind, dauert das wohl noch. Mit dem Haus von Schröders machen Sie nichts falsch!“
Jenny nickte. „Das glaube ich auch!“
Eine Stunde später hatten sie alles in ihr neues Häuschen gebracht und schon teilweise verstaut. Jenny hatte zum Glück einige Flaschen Bier im Kühlschrank gehabt, und jetzt standen sie einträchtig vor dem Haus und stießen an.
„Vielen, vielen Dank“, sagte sie zum wiederholten Mal.
„Nicht dafür. Nochmal herzlich willkommen, und wir würden uns freuen, wenn wir Sie nächsten Samstag auf dem Dorffest begrüßen könnten!“
„Und beim Gemeindedienst!“, fiel jemand ein.
„Jetzt schreck Sie doch nicht gleich ab“, lachte ein stämmiger Rothaariger, dessen Namen sie vergessen hatte.
„Der Arbeitsdienst ist freiwillig“, erklärte der Bürgermeister. „Wir machen einige Arbeiten im und um das Dorf. Zum Beispiel pflegen wir den Platz um den Katzenbaum und den Reinholdspad.“ Er sah ihren fragenden Blick.
„Kommnse einfach zum Fest. Da erklären wir Ihnen alles!“
Jenny versprach es und kurz darauf zogen alle ab. Endlich war sie in ihrem neuen Häuschen, das sie bisher nicht einmal bezahlt hatte, alleine. In Frankfurt hätte so ein Hauskauf Wochen gedauert, hier bekam man einfach auf Handschlag den Schlüssel ausgehändigt.
Sie räumte noch die Sachen in die Schränke, bezog das Bett frisch und setzte sich dann, ein Bier in der Hand, auf die Terrasse. Himmlische Ruhe umgab sie. Nur Vögel zeterten in den dichten Büschen am Grundstücksrand, und Jenny nahm sich vor, baldmöglichst ein Futterhäuschen zu kaufen. Sie stand auf, ging noch einmal ins Haus und holte sich die Unterlagen, die sie bei Hirschhausen sichergestellt hatten.
Britta war bei der Sichtung der Unterlagen nicht allzu weit gekommen, sondern hatte vor der Masse der medizinischen Fachausdrücke kapituliert. Zudem waren die meisten Patientennamen geschwärzt. Jenny nahm sich die Akten noch einmal vor und legte besonderes Augenmerk auf die Namen auf der Liste, die sie in Hirschhausens Mantel gefunden hatte. Schon beim ersten Lesen hatte sich eine Erinnerung in ihr geregt, die sich aber zu ihrem Ärger nicht greifen ließ. Einen der Namen hatte sie schon einmal irgendwo gehört oder gelesen. Sie prüfte die Akten akribisch, drehte die Blätter einzeln um und hielt sie gegen das Licht, konnte aber keinen der Patientennamen entziffern. Hoffentlich gab es im Krankenhaus Kopien oder digitalisierte Akten.
Als es draußen dunkel wurde, machte sie die Lampe an der Hauswand an, flüchtete aber kurz darauf nach drinnen, weil die Stechmücken gleich scharenweise über sie herfielen.
Mitten in der Nacht schreckte sie hoch. Jetzt wusste sie, woher sie den Namen kannte. Helmut Roth war das Opfer vom Goetheturm, Saschas Fall! Sie griff nach ihrem Handy, legte es aber schnell wieder hin. Natürlich konnte sie Sascha nicht um drei Uhr morgens anrufen. Auch wenn es ihr noch so sehr in den Fingern juckte. Sie stand auf, trank einen Schluck Wasser und starrte einen Moment aus dem Fenster in den dunklen Wald. Irgendwann legte sie sich wieder hin und schlief tief und traumlos, bis am Morgen der Wecker klingelte.