Frau Dittler-Zifurth antwortete den ganzen Tag nicht auf ihren Anruf. Während Jenny und ihre Kollegen den Tag damit zubrachten, die restlichen Personen auf der Liste zu überprüfen, entschied sich Sascha gegen Mittag, der selbsternannten Heilerin noch einmal einen Besuch abzustatten. Am späten Vormittag hatten sie auch die Telefonverbindungen Roths erhalten, er hatte jedoch außer dem Professor nur seine Kinder, seinen Arzt und einmal die Wohnungsbaugesellschaft, bei denen sie zur Miete wohnten, angerufen.
Auf Saschas Bitte hin hatte sich Logo missmutig bereit erklärt, ihn zu begleiten und gegen fünfzehn Uhr fuhren sie die Friedberger Landstraße stadtauswärts.
Das Holzhaus lag still in der Sonne, als sie vor der Veranda hielten.
„Da steht ihr Auto, sie sollte also zu Hause sein“, erklärte Sascha, als sie ausstiegen.
„Auto nennst du das?“, brummte Logo und sah sich neugierig um. „Was ist das hier? Eine Szene aus den Waltons?“
„Ich mag diese Holzhäuser“, stellte Sascha fest und stieg die Stufen zur Veranda hoch. Das Windspiel klingelte leise, und wie schon beim ersten Besuch roch es nach Kräutern. Er klopfte an die Tür und wartete. Alles blieb still.
„Niemand da“, erklärte Logo und wandte sich ab. „Lass uns verschwinden.“
„Wo soll sie denn ohne Auto hin?“, fragte Sascha gereizt.
„Vielleicht spazieren und Kräuter sammeln?“ Logo stieg die Veranda herunter und kickte einen kleinen Stein beiseite. Gelangweilt spazierte er zu dem Käfer und sah, nachdem er mit dem Ärmel über die Scheibe gewischt hatte, hinein.
„Mit dem ist aber schon länger nicht gefahren worden“, rief er über die Schulter zu Sascha. „Komplett eingestaubt, sogar der Schaltknüppel!“
Sascha trat zu ihm. „Das ist ja merkwürdig. Es ist ganz schön schwierig, ohne Auto hier wegzukommen.“
„Ist sie auch nicht. Schau!“ Logo wies auf Reifenspuren, die am Haus vorbei führten und hinter ihm verschwanden. Sie wechselten einen Blick und folgten ihnen. Weit zurückgesetzt und verborgen hinter der Hausecke stand eine Garage, daneben ein Tor, das vermutlich in den Garten führte.
„Warte“, sagte Sascha und stieg noch einmal die Veranda hoch. Er betätigte den Klingelknopf und ließ ihn einige Sekunden gedrückt. Dann wählte er auf dem Handy die Nummer der selbsternannten Schamanin.
„Nichts.“
Logo nickte knapp, und beide gingen ums Haus herum. Logo griff nach der Klinke des Gartentors. Es öffnete sich lautlos. Vor einem Fenster in der Seitenwand der Garage blieben sie stehen. Logo stieß einen Pfiff aus. „Man scheint mit diesem Quatsch ganz gut zu verdienen!“, stellte er fest.
„Ein MX5?“, staunte Sascha.
„Sieht so aus. Jetzt haben wir schon zwei Wagen, und beide stehen hier. Merkwürdig. Leider haben wir ohne weitere Verdachtspunkte keine Berechtigung, uns hinter dem Haus umzusehen.“
In diesem Moment hörten sie ein Auto mit einem tiefen röhrenden Motorgeräusch vorfahren. Rasch gingen sie vors Haus und sahen, wie eine elegant gekleidete Frau mit einem winzigen Hund auf dem Arm aus einem Jaguar stieg. Sie ignorierte sie, stieg die Veranda hoch und klingelte.
„Frau Dittler-Zifurth scheint nicht da zu sein“, erklärte Logo und ging auf die Frau zu.
„Nicht da? Aber das kann unmöglich sein. Ich habe jetzt einen Termin.“ Sie klingelte noch einmal und sah Logo, als sich im Haus nichts tat, böse an. „Wo ist sie denn? Sie hat noch nie einen Termin ausfallen lassen. Ich komme extra aus Kronberg!“
„Ist Ihr Hund krank?“, wollte Sascha wissen.
Sie wandte sich ihm zu. „Marie Christine hat eine Imbalance ihres Chakras. Frau Dittler-Zifurth behandelt sie schon länger.“
Sascha und Logo warfen sich einen Blick zu. „Was kostet eine solche Behandlung denn?“, erkundigte sich Sascha beiläufig.
„Wer sind Sie überhaupt?“
„Wir interessieren uns sehr für die Arbeit von Frau Dittler-Zifurth“, erklärte Sascha.
„Natürlich. Frau Dittler-Zifurth ist eine Koryphäe auf ihrem Gebiet und die einzige, die Marie-Christine helfen konnte. Zugegeben, sie ist etwas teuer, aber ihre Fähigkeiten findet man sehr selten. Eine Behandlung kostet um die zweihundert Euro, je nachdem, wie gut Marie-Christine sich an dem jeweiligen Tag öffnet.“
Logo hustete. „Zweih …“
Sie sah ihn von oben herab an. „Wo ist Frau Dittler-Zifurth denn nun? Sie würde nie einen Termin mit mir verpassen.“
Das konnten Logo und Sascha sich gut vorstellen.
„Haben Sie auch einen Termin? Geht es um ein verstorbenes Tier?“
„Nicht direkt“, erklärte Sascha knapp. „Trotzdem suchen wir Frau Dittler-Zifurth.“
„Es muss ihr etwas passiert sein! Vielleicht sollte ich die Polizei rufen!“ Trotz ihrer Worte machte die Frau keine Anstalten, nach ihrem Handy zu greifen.
„Sie hat sicher nur den Termin vergessen. Oder hängt irgendwo im Stau“, beruhigte Sascha sie.
„So ein Unsinn!“, echauffierte sich die Hundebesitzerin und presste den winzigen Chihuahua so fest an ihre Brust, dass dessen sowieso schon vorstehende Augen noch weiter hervortraten.
Sascha sah nur noch eine Möglichkeit. Er holte seinen Ausweis heraus und wies sich als Polizeibeamter aus. „Wir möchten Frau Dittler-Zifurth nur etwas fragen.“
„Ist sie jetzt auch Sachverständige!“, rief die Dame aus. „Sucht sie verschwundene Personen für Sie?“
„Nein, wir befragen sie nur als Zeugin. Sie sollten jetzt besser nach Hause fahren und einen neuen Termin vereinbaren.“
„Aber …“
Logo nahm ihren Arm und führte sie sanft aber bestimmt zum Auto. „Einen schönen Tag noch!“
Kurz darauf fuhr der Jaguar mit aufheulendem Motor aus dem Hof.
„Zweihundert Euro“, sagte Logo kopfschüttelnd und starrte dem davon fahrenden Wagen hinterher. „Ich glaub mit deren Chakra ist auch einiges nicht in Ordnung!“
Sascha grinste. „Allerdings. Ich hab mir die Autonummer aufgeschrieben. Merkwürdig ist das Ganze schon. Ich würde sagen, es rechtfertigt in jedem Fall, dass wir uns hinter dem Haus umschauen.“
Als sie um die hintere Ecke des Hauses bogen, blieb Logo so plötzlich stehen, dass Sascha in ihn hinein rannte. Als er den Kopf reckte, sah er, was seinen Kollegen so überrascht hatte. Das von vorne so bescheiden wirkende Holzhaus sah aus dieser Perspektive völlig anders aus. Eine riesige Terrasse lag vor ihnen, in deren Mitte das Wasser eines Swimmingpools verlockend in der Sonne glänzte.
Die hintere Fassade des Gebäudes war bodentief verglast. Sascha trat an die Scheibe, legte die Hände links und rechts neben sein Gesicht und versuchte, hinein zu spähen.
Logo lief einmal um den Pool herum und blieb auf der anderen Seite stehen. „Sogar einen Jacu … wie heißen die Dinger?“
„Whirlpool“, sagte Sascha trocken, fügte dann aber, als er Logos Blick sah, hinzu: „Jacuzzi“.
„Ist aber zugedeckt“, ergänzte Logo. „Siehst du im Haus irgendetwas Verdächtiges?“
Sascha war an die Scheibe getreten und schirmte seine Augen mit den Händen gegen die Sonne ab. „Nur wahnsinnig teuer aussehende moderne Möbel. Das vordere Teil des Hauses scheint nur Fassade zu sein.“
„Wie auch immer. Sie scheint nicht hier zu sein. Und wir haben auf keinen Fall genug in der Hand, um das Haus öffnen zu lassen. Schließlich gibt es keine Vermisstenmeldung. Die Einzige, die sie vermisst, ist diese schräge Kundin.“
„Wir sollten herausfinden, ob sie Verwandte hat oder wenigstens enge Freunde.“
Beide wandten sich zum Gehen, Sascha zögerte jedoch. Etwas ließ ihm keine Ruhe.
„Was ist?“, drängte ihn Logo. „Können wir?“
„Gleich“, sagte Sascha und zögerte. „Lass mich noch etwas nachschauen. Ich hab da so ein komisches Gefühl.“
Er spürte mehr, als er es sah, dass Logo die Augen verdrehte. „Du und deine …“
Doch Sascha war schon um den Pool herum gegangen und starrte auf den in den Boden eingelassenen Whirlpool, der mit einer dicken, isolierenden Matte abgedeckt war.
Er kniete sich hin und hob die Matte, die sich festgesaugt hatte, mühsam hoch. Dann ließ er sie abrupt los. „Logo! Ruf die Spurensicherung.“