Jenny hatte mehrfach versucht, Dr. Wölter telefonisch zu erreichen, war jedoch nur von einer Station zur nächsten verbunden worden, um dann letztlich mit der Information, er sei im OP, abgespeist zu werden. Gegen halb zwölf setzte sie sich kurz entschlossen ins Auto und fuhr zur Klinik.
Am Empfang fackelte sie nicht lange, zeigte ihren Ausweis und verlangte, den Oberarzt zu sprechen.
„Ich weiß nicht, wo er ist“, erklärte die phlegmatisch wirkende ältere Frau, die zur Einrichtung zu gehören schien. „Da gehen Sie am besten ins Stationszimmer, Station B3 im zweiten Stock.“
Jenny bedankte sich und trat wenige Minuten später aus dem Treppenhaus in einen Flur, der mit hässlichem hellgrünem Linoleum ausgelegt war. Sie atmete schwer und nahm sich vor, unbedingt mehr Sport zu machen.
Das Stationszimmer war leer und Jenny blieb wartend in der Tür stehen. Von Ferne war Geschirrklappern und Türenschlagen zu hören, vermutlich wurde das Mittagessen ausgeteilt.
Ungeduldig tappte sie mit dem Fuß. Nach einigen Minuten wurde ihr das Warten zu lang und sie ging den Gang hinunter in Richtung der Geräusche.
Als sie um eine Ecke bog, stand sie vor einem großen Wagen, auf dem Tabletts gestapelt waren. Eine blutjunge Schwester versuchte gerade, drei davon gleichzeitig zu tragen, die sich allerdings in gefährlicher Schieflage befanden. Jenny griff zu und rettete das Oberste vorm Abstürzen.
„Danke“, lächelte die junge Frau. „Dumm von mir. Es geht so wohl auch nicht schneller.“
„Ich suche Dr. Wölter“, erklärte Jenny und stellte das Tablett auf den Wagen.
„Er müsste gerade aus dem OP gekommen sein. Vermutlich zieht er sich um. Gleich ist Visite. Probieren Sie es in Raum 216, noch ein Stück den Gang hinunter.“
Jenny bedankte sich und stand kurz darauf vor dem Raum mit dem Schild Umkleideraum Ärzte.
Sie klopfte und lauschte. Zuerst tat sich nichts. Dann hörte sie Stimmen, und unmittelbar darauf wurde die Tür aufgerissen. Zu ihrer Überraschung kam eine junge Schwester aus dem Zimmer, grüßte sie mit abgewandtem Gesicht und hastete den Gang hinunter.
Hinter ihr erschien Wölter und schob gerade den zweiten Arm in einen weißen Kittel.
„Frau Kommissarin! Haben Sie den Chef inzwischen gefunden?“
„Bedauerlicherweise ja“, antwortete sie trocken. „Können wir uns irgendwo unterhalten?“
„Ich habe gleich Visite und nicht viel Zeit“, erklärte er und warf einen Blick über die Schulter. „Hier passt es wohl eher nicht. Kommen Sie, lassen Sie uns in den Aufenthaltsraum gehen.“
Er schloss die Tür hinter sich und führte sie den Gang hinunter in einen kleinen Raum, in den ein Tisch und mehrere Stühle gequetscht waren. Auf einem Beistelltisch stand eine Kaffeemaschine, und auf der Fensterbank fristete eine kümmerliche Pflanze ihr kärgliches Dasein.
Eine Schwester saß am Tisch und las in einem Roman.
„Schwester Frieda, würden Sie uns bitte alleine lassen?“, sagte Wölter.
Die Schwester sah auf, lächelte strahlend und nickte. „Natürlich, Herr Doktor.“
Jenny sah ihr nach, wie sie aus dem Raum eilte. Dann setzte sie sich an den Tisch. Wölter stellte ungefragt einen Kaffee vor sie.
„Also“, begann er und sah sie intensiv an. „Was ist jetzt mit unserem allseits geliebten Chef?“
„Er wurde ermordet!“, erklärte sie und betrachtete ihn ebenso eindringlich.
Wenn er geschockt war, zeigte er es nicht. Nur ein leichtes Verengen der Augen drückte seine Überraschung aus. „Ermordet? Wer sollte denn den Professor ermorden?“
„Sagen Sie es mir“, konterte Jenny. „Hatte er irgendwelche Feinde?“
Wölter lächelte. „Sie meinen mich. Sicher haben Sie inzwischen erzählt bekommen, dass ich nur darauf warte, dass der Professor endlich seinen Platz räumt. Das ist wahr. Wissen Sie, wie oft er in den letzten Monaten tatsächlich als Arzt hier im Haus tätig war? Ganze fünf Tage. Und nur, wenn es sich um besondere Fälle oder prominente Patienten handelte, sodass er den Erfolg der Behandlung für seine öffentlichen Auftritte ausschlachten konnte. Die tägliche Arbeit durften wir anderen machen. Deshalb ermorde ich ihn aber nicht.“
Jenny dachte einen Moment über das Gesagte nach.
„Wer könnte noch ein Motiv haben? Gibt es noch andere, die einen Vorteil von seinem Verschwinden hätten?“
Wölter lächelte. „Außer mir hat niemand eine Chance auf die Stelle des Klinikleiters.“
„Ein unzufriedener Patient vielleicht? Ein Angehöriger, der nicht damit umgehen kann, dass dem Patienten nicht geholfen werden konnte?“
Der Oberarzt legte die Stirn in angestrengte Falten. Jenny wartete.
„Nicht dass ich wüsste“, erklärte er schließlich. „Natürlich können wir nicht jedem helfen. Genauer gesagt, ist es ein großer Teil, den wir nicht heilen können. Und sicher hat der eine oder andere seinen Zorn gegen den behandelnden Arzt gerichtet. Das erleben wir immer wieder. Aber den Professor deshalb umbringen? Außerdem ist die Zahl der Patienten, die er persönlich behandelt hat, sehr gering.“
„Ist es möglich, zu erfahren, wer seine Patienten waren?“
Er verzog bedauernd das Gesicht. „Arztgeheimnis. Sie wissen sicher besser als ich, welche Beschlüsse Sie brauchen, um Einblick zu bekommen. Ich kann Ihnen da leider nicht helfen.“
„Gut.“ Jenny machte Anstalten, aufzustehen.
„Leben Sie schon lange hier?“, fragte er und ließ sie innehalten. „Ihr Akzent.“
„Akzent?“, fragte sie und ließ sich wieder zurücksinken.
„Dialekt trifft es wahrscheinlich eher. Hessisch?“
„Ich bin erst vor Kurzem hergezogen.“ Warum erzählte sie ihm das überhaupt. Er war … Nein, Unsinn, er war kein Verdächtiger. Sie glaubte nicht im Mindesten, dass er wegen der Position des leitenden Direktors den Professor, der sich sowieso mit Riesenschritten dem Rentenalter genähert hatte, umgebracht hatte. Schon gar nicht auf so bestialische Weise. Nein, hinter diesem Mord musste ein starkes persönliches Motiv stecken. Nur Hass brachte jemanden dazu, so brutal vorzugehen. Ihre Gedanken waren so weit abgedriftet, dass sie seine nächsten Worte nicht verstanden hatte. „Wie bitte?“, musste sie nachfragen.
Er sah betont auf ihre Hand, die keinen Ring trug. „Ich sagte, ich führe Sie gerne einmal herum, um Ihnen Koblenz oder die Umgebung zu zeigen. Waren Sie schon am Deutschen Eck?“
„Nein“, sagte sie und stand auf. „Leider geht das nicht. Ich sollte als Ermittlerin keinen näheren Kontakt mit Personen haben, die in die Fälle, die ich bearbeite, involviert sind.“ Außerdem, dachte sie bei sich, falle ich wohl kaum in dein Beuteschema, das sich offensichtlich mehr auf junge Schwestern bezieht.
„Bin ich denn wirklich verdächtig?“, fragte er mit einem offenen Lächeln, das, wie Jenny zugeben musste, sehr charmant wirkte. Überhaupt sah er gut aus und passte durchaus in ihr eigenes Beuteschema. Sie wunderte sich, dass sie überhaupt Gedanken in diese Richtung hatte. Seit Biederkopf … Zum ersten Mal weckte der Gedanke an ihn nicht nur Trauer, sondern auch Wut. Wie konnte er es wagen, sie so einfach abzuservieren? Kurz nachdem er sie noch gebeten hatte, bei ihm einzuziehen.
„Na gut“, hörte sie sich plötzlich sagen. „Irgendwann einmal. Frau Heydt hat meine Nummer.“
Bevor sie ging, zog sie die Liste, die Hirschhausen von Frau Dittler-Zifurth zugeschickt bekommen hatte, aus der Tasche. „Natürlich achte ich das Arztgeheimnis“, sagte sie und versuchte dabei, charmant zu lächeln. „Trotzdem können Sie mir vielleicht sagen, ob Ihnen irgendein Name auf dieser Liste bekannt vorkommt. Und ich gehe wirklich nicht davon aus, das es sich um Patienten von Ihnen handelt.“
Bereitwillig nahm er die Liste und studierte sie. „Nein“, sagte er abschließend. „Ich kenne keinen der Namen.“
Jenny hatte es nicht anders erwartet. Sie streckte die Hand nach der Liste aus, doch er hielt sie fest. „Wie ist eigentlich Ihr Vorname?“
„Kommissarin“, konterte sie, zwinkerte ihm dabei jedoch zu.
Er lachte, ließ das Blatt los und deutete eine Verbeugung an. „Ich werde Sie anrufen!“