Kapitel 29

Logo hatte sich ins Haus verkrümelt, sobald der Fotograf und die Spurensicherung angekommen waren. Sascha konnte es ihm nicht verdenken. Was sie in dem aufgeheizten Whirlpool gefunden hatten, war nichts für schwache Gemüter, und Logos sensibler Magen war legendär.

Selbst Sascha, der sich für unempfindlich gegenüber dem Anblick und Geruch von Leichen hielt, hatte schlucken müssen und war zunächst einen Schritt zurückgetreten. Dafür stand er jetzt in vorderster Reihe und sah den Mitarbeitern der Spurensicherung über die Schulter.

„Mensch Sascha“, raunzte ihn der eine an. „Willst du vielleicht mit in den Pool?“

„Holt sie lieber endlich da raus!“, konterte er mit einem Grinsen. Gleich darauf wurde er jedoch ernst. Was mit der Esoterikerin geschehen war, war furchtbar. Sascha wusste noch nicht, wie sie gestorben war, hoffte jedoch, dass sie erst nach ihrem Tod in das fast vierzig Grad warme Wasser gelegt und dort langsam gar gekocht worden war.

Natürlich wusste er auch, dass die Leiche so lange im Pool bleiben musste, bis der Gerichtsmediziner angekommen und sie untersucht haben würde.

Und wenig überraschend hörte er vom Weg, der ums Haus herum führte, schon die durchdringende Stimme des Profs, der sich wie üblich über etwas beschwerte.

„Wie staubig das hier ist. Dass die Leute ihre Wege nicht in Ordnung halten können.“ Er kam heran gestampft, sah – wie üblich – aus wie aus dem Ei gepellt. Vor dem Whirlpool blieb er wie angewurzelt stehen. „Das ist ja widerlich. Wie soll ich denn da etwas untersuchen? Sieht ja wie Eintopf aus.“

Tatsächlich hatte sich das Wasser trübe verfärbt und Gewebefetzen schwammen darin herum.

„Na dann wollen wir mal“, erklärte er und stellte seinen Koffer ab. „Hilft ja nichts. Hat jemand ein Sieb dabei? Ein großes Sieb? Nein? Nun, dann besorgen Sie eins. Die Leiche scheint weich gekocht zu sein. Wenn wir sie anfassen, zerfällt sie vermutlich.“

Die Spusileute sahen sich an. „Vielleicht in der Küche …“, schlug einer von ihnen vor.

Sascha sah, wie der Prof Luft holte, und kam ihm zuvor. „Die Feuerwehr hat solche großen Drahtkörbe, um Wasserleichen zu bergen.“

Dr. Schwind schluckte hinunter, was er offensichtlich hatte sagen wollen, und nickte. „Endlich jemand, der mitdenkt. Sie da, rufen Sie dort an, aber pronto. Ich will hier nicht den ganzen Tag zubringen. Und Sie, Herr Meister, Sie verschwenden Ihre Talente. Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht beruflich verändern, was sage ich … verbessern wollen? In der Gerichtsmedizin wäre noch ein feiner Platz für Sie frei.“

Zu seinem Ärger merkte Sascha, wie er rot wurde. Der Prof teilte selten Komplimente aus, und noch nie hatte Sascha gehört, dass er jemandem, wenn vielleicht auch im Scherz, eine Stelle angeboten hatte.

Er räusperte sich. „Das Angebot ehrt mich“, begann er und löste damit ein Grunzen beim Prof aus. „Aber leider macht mir meine Arbeit großen Spaß.“

„Hmmph“, war die Antwort. „Wenn Sie es sich anders überlegen, sagen Sie mir Bescheid. Aber überlegen Sie es sich nicht zu lange! Und jetzt setze ich mich drüben auf die Hollywood-Schaukel, bis sie dieses Sieb herbringen. Und ich will nicht gestört werden!“

Sascha telefonierte, und der Kollege bei der Feuerwehr versprach, sofort jemanden mit besagter Konstruktion zu schicken. In der Zwischenzeit trieb die Leiche von Frau Dittler-Zifurth weiter in der leichten Strömung, die im Whirlpool herrschte. Einer der Spusimitarbeiter hatte die Pumpe abstellen wollen. Ein ärgerliches „Wehe!“ des Profs hatte jedoch dafür gesorgt, dass er sich schnell anderen Tätigkeiten zuwandte.

Endlich kam ein schmächtiger Mann in Feuerwehruniform um das Haus herum und sah sich suchend um, bis sein Blick auf den Whirlpool fiel. Er erblasste, blieb wie angewurzelt stehen und hätte fast die Schleifkorbtrage fallen gelassen. Sascha sprang auf und fing sie gerade noch auf, bevor sie auf den mittlerweile matschigen Boden fallen konnte.

Der Prof war von seiner Hollywood-Schaukel hochgeschossen und eilte mit großen Schritten auf sie zu. „Endlich! Das wurde ja auch Zeit! Wo haben Sie das Teil geholt? Aus Timbuktu?“ Er riss Sascha die Trage aus der Hand und stürzte zum Pool. „So, dann wollen wir mal. Ist alles bereit?“ Prüfend ließ er den Blick über den schwarzen Leichensack gleiten, der offen auf dem Boden lag und auf die Überreste der Esoterikerin wartete. Dann hob er die Trage und schob sie schräg in den Pool unter die schwammige Leiche, die gerade noch so zusammen zu halten schien.

Fasziniert beobachtete Sascha, wie sich bei Berührung ein Stück der Gesichtshaut löste und in der leichten Strömung davontrieb. Ein würgendes Geräusch hinter ihm ließ ihn vermuten, dass Logo aus dem Haus gekommen war, doch als er sich umdrehte, sah er den Feuerwehrmann, der die Hand vor den Mund gepresst, davon taumelte.

„Nicht in den Garten!“, brüllte ihm einer der Spusimänner hinterher.

Der Feuerwehrmann verschwand um die Hausecke, und Sascha wandte sich wieder dem Pool zu. Geschickt schaffte es der Prof, die Leiche fast unversehrt auf die Trage zu bugsieren. „Fassen Sie mal mit an!“, befahl er und Sascha, der sich wohlweislich Handschuhe angezogen hatte, griff ein Ende der Trage. Gemeinsam hoben sie die tote Frau aus dem Pool, warteten, bis das Wasser abgelaufen war, und legten sie dann neben dem Leichensack ab.

Der Prof richtete sich auf und rieb sich das Kinn. „Wie bekommen wir sie jetzt da rüber? Die Gute ist ja fast Matsch.“

„Wir könnten den Sack auf sie legen und das Ganze dann umdrehen. Dann liegt sie zwar auf dem Bauch …“

„… aber wenn wir es in der Gerichtsmedizin ähnlich machen, zum Beispiel mit einem Laken, liegt sie wieder genau richtig!“, vervollständigte der Prof den Satz. „Ich sag doch, Sie wären bei uns viel besser aufgehoben!“

Wenige Minuten später hatten sie die Leiche auf den schwarzen Leichensack bugsiert und in eine Zinkwanne gelegt. Sascha sah dem davon fahrenden Leichenwagen nach und nickte dem Prof zum Abschied zu.

Dann ging er endlich ins Haus, wo Logo auf ihn wartete.

„Schau dir das an!“, sagte er mit einer ausladenden Handbewegung, bevor Sascha den Mund öffnen konnte. „Kannst du dich noch erinnern, wie es vorne im Haus aussah? Alles kitschig und alternativ. Und hier? Luxus vom Feinsten! Ich frag dich, wie kann die sich das leisten?“ Bevor Sascha antworten konnte, hob er die Hand. „Sag nichts. Ich weiß. 200 Euro fürs Chakra gerade richten.“

Sascha verzog genervt das Gesicht. „Können wir deinen Sozialneid mal beiseiteschieben? Hast du irgendeinen Hinweis auf ihren Mörder gefunden?“

„Neidisch? Auf so eine Verrückte? Siehst ja, was sie davon hat. Ich musste warten, bis die Spurensicherung fertig war. So auf den ersten Blick ist hier nichts auffällig. Außer die Tatsache, dass sie offensichtlich der Welt zwei Gesichter gezeigt hat.“

Sascha sah sich nachdenklich im Raum um. Durch die nächste Tür klangen die Stimmen der Spusileute. Er streckte den Kopf in ein riesiges hochmodernes Badezimmer mit Designer-Armaturen, für die man, wie er vermutete, wahrscheinlich eine Gebrauchsanweisung benötigte, um warmes Wasser zu bekommen. „Irgendwas Interessantes?“, fragte er.

Eine der in weiße Overalls gekleideten Gestalten drehte sich um. „Ne Menge Pillen“, sagte er kurz.

„Pillen?“, wiederholte Sascha ungläubig. „Das Opfer war gegen jede Chemie.“

„Ist auch lauter Kräuterzeugs. Wir nehmen es mit zur Analyse.“

„Wo seid ihr schon fertig?“, fragte Sascha.

„Nebenan im Arbeitszimmer. Wir dachten, da wollt ihr als erstes rein.“

Sascha dankte ihm und drehte sich mit einem fragenden Blick zu Logo um. „Warum hast du noch nicht im Arbeitszimmer angefangen?“

„Bist du jetzt mein Chef?“, brauste Logo auf. „Muss ich mich vor dir rechtfertigen?“

Sascha sah ihn einen langen Moment an und ging dann durch den großen Raum zu der Glastür, die ins Arbeitszimmer der Esoterikerin führte. Er ignorierte Logo, der ihm folgte und in der Tür stehen blieb.

„Ich schaue mir den Schreibtisch an“, erklärte Logo barsch. „Du nimmst dir den PC vor!“

Sascha verkniff sich ein spöttisches Lächeln. Jeder wusste, dass die Bedienung von Computern nicht gerade zu Logos Stärken zählte.

Er setzte sich vor den Bildschirm und startete das Gerät. Es handelte sich nicht um einen Laptop, sondern um einen ungewöhnlich großen Tower, was vermutlich erklärte, dass der Täter ihn nicht mitgenommen hatte. Sekundenlang starrte er auf die Passwortabfrage, dann tippte er Passwort ein. Nichts. Wäre ja auch zu schön gewesen. Er versuchte Chakra, 12345, das Geburtsdatum, das sie in ihren Unterlagen hatten, dann gab er es auf.

Logo hielt ihm einen eleganten Taschenkalender vor die Nase. Die Seite mit den Telefonnummern war aufgeschlagen.

„Was?“, fragte Sascha und scannte die Namen. In diesem Moment sah er es und lächelte. Es war erstaunlich, wie viele Menschen Pin-Nummern in Telefonnummern versteckten. Hier war es jedoch offensichtlich ein Passwort, das die Esoterikerin zwischen den Namen von Friseuren, Nagelstudios und sonstigen Kontakten zu verstecken versucht hatte.

„Niemand heißt Frodo55“, erklärte Logo überflüssigerweise. „Versuchs damit!“

Sascha tippte schon. „Großes F“, mahnte Logo, der ihm über die Schulter schaute.

„Jaja“, murmelte Sascha und korrigierte sich. „Bingo!“

Es erschien ein Startbildschirm, dessen Hintergrund eine Lotosblüte zeigte.

Auf dem Desktop waren mehrere Ordner abgelegt. Einer davon hieß Hirschhausen. Sascha interessierte jedoch mehr der Button daneben.

„Helmut“, sagte er nachdenklich und fuhr mit dem Mauszeiger darüber. „Ob das unser Opfer ist?“

„Roth?“, meinte Logo. „Möglich. Wir wissen doch schon, dass sie Kontakt hatten. Oha“, ergänzte er, als der Ordner sich öffnete. „Das sind mindestens zwanzig Dokumente.“

Sascha zog einen USB-Stick aus der Tasche. „Das schauen wir uns in Ruhe auf dem Präsidium an.“

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Es war später Nachmittag, bis Sascha alle Dokumente gespeichert, ausgedruckt und zumindest überflogen hatte. Logo war verschwunden, ohne ihm mitzuteilen, wohin. Sascha lehnte sich zurück und ließ den Blick auf dem Stapel Papier auf seinem Schreibtisch ruhen.

Er verstand einfach nicht, wo hier der Zusammenhang lag, wo das Motiv für den Mord. Langsam nahm er das Telefon in die Hand. Pflichtbewusst rief er zuerst Logo an, der jedoch nicht abhob. Dann wählte er Jennys Handynummer.

Sie meldete sich nach dem ersten Klingeln, im Hintergrund hörte er Autogeräusche.

„Die Esoterikerin wurde ermordet“, fiel er mit der Tür ins Haus.

„Was? Wie? Wann?“, rief sie überrascht.

„Das sind ja drei Fragen auf einmal“, spielte er grinsend auf die alte Fernsehwerbung an, wurde jedoch sofort wieder ernst. In knappen Worten erzählte er ihr, was sie bis jetzt herausgefunden hatten.

„Ich habe massenhaft Dokumente auf ihrem PC gefunden, die sie mit Hirschhausen und unserem Goetheturm-Opfer Roth in Verbindung bringen. Ich schicke dir alles, aber wir sollten uns unbedingt zeitnah zusammensetzen.“

„Auf jeden Fall“, stimmte Jenny zu. „Soll ich nach Frankfurt kommen? Was ist mit Logo?“

Sascha zögerte. „Er ist mittags abgehauen, ohne zu sagen, wohin. Seit dieser Bewerbungsgeschichte dreht er komplett am Rad. Hätte ich mich nur nie beworben.“

„Das hast du völlig richtig gemacht. Es ist sein Problem, wenn sein Ego nicht damit zurecht kommt. Treffen wir uns morgen zum Frühstück?“

„Klar, gerne. Wo?“

„Können wir uns in Hofheim treffen? Dann muss ich nicht ganz nach Frankfurt rein, und für dich ist es auch prima zu erreichen. Ich bringe eventuell einen meiner Mitarbeiter mit.“

„Geht klar“, antwortete Sascha „Ich bringe Logo nicht mit. Es sei denn, du möchtest es.“

Jenny lachte. „Das macht mal unter euch aus. Ich hab euch lange genug die Hand gehalten.“

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„Es ist erledigt.“

„Wollen wir hoffen, dass die Sache damit abgeschlossen ist. Haben Sie ihren Computer vernichtet?“

„Das wäre sinnlos gewesen. Sie hat alle Daten in der Cloud gespeichert.“

„Was? Verdammt, um die Daten ging es doch. Woher wissen Sie das überhaupt?“

„Sie bezahlen mich, damit ich so etwas weiß.“

„Also gut. Wir überweisen Ihnen Ihr Geld. Aber es könnte sein, dass wir noch ein Ziel für Sie haben. Bei dem muss es aber wie ein Unfall aussehen. Sind Sie diesmal diskreter vorgegangen?“

„Sie wissen, wie Sie mich erreichen.“