Es war spät und Jenny sendete die Dokumente, die Sascha vom PC der Ermordeten gesichert hatte, auf ihr eigenes Laptop. Dann schickte sie Frank und Britta nach Hause und machte sich selbst auf den Weg in ihr neues Domizil. Während sie sich im Stau aus der Stadt quälte und dann auf der A61 hinter Lastwagen herzuckelte, fielen bei der Aussicht auf ihr Häuschen langsam Stress und Druck von ihr ab. Als sie durch Badenhard fuhr und in den unbefestigten Weg einbog, der sie zu ihrem Haus bringen würde, atmete sie erleichtert auf.
In den Fenstern der Ferienwohnung der Holländer hingen keine Gardinen mehr. Vielleicht waren sie endgültig abgereist. Jenny würde sie kaum vermissen und die Schafe, die, vermutlich in ihrer Einbildung, deutlich entspannter zu grasen schienen, auch nicht.
Kurz darauf parkte sie vor ihrem Haus, blieb einen Moment sitzen und drehte das Fenster ein Stück hinunter. Himmlische Ruhe, stellte sie zufrieden fest. Nur das Summen von Insekten und ein Flugzeug, weit entfernt und kaum hörbar.
Irgendwoher roch es nach Rauch und – sie schnupperte – nach Gegrilltem. Sie musste unbedingt einkaufen gehen. Hinter dem Haus hatte sie einen nagelneuen kleinen Holzkohlegrill entdeckt, und in der Abstellkammer stand ein Sack Holzkohle. Aber Moment, war hier im Ort nicht ein Metzger? Sie ließ den Motor wieder an, entschied sich dann jedoch anders. Es würde ihr gut tun, die paar Hundert Meter zu Fuß zu gehen. Zuerst brachte sie ihren Laptop ins Haus und holte einen Stoffbeutel, dann lief sie den Schotterweg zurück ins Dorf, ein Stück die Hauptstraße entlang und folgte anschließend einem Hinweisschild in eine kleinere Seitenstraße. Ziemlich am Ende befand sich die Metzgerei, deren Verkaufsraum kleiner als ihre Küche war. Trotzdem drängten sich drei Kunden darin und zwei weitere warteten vor der Tür.
„Gibt es etwas umsonst?“, fragte Jenny lächelnd in die Runde.
„Nee, wie immer halt“, erklärte eine stämmige Frau. „Die Leut kommen ja von überall her. Und jetzt bei dem schönen Wetter wollen alle grillen.“
„Die Würste von unserm Metzger sin halt die beste“, pflichtete ihr ein gutgekleideter Mann bei. „Ich komm extra aus Simmern her.“
Endlich war Jenny an der Reihe und betrachtete neugierig die kleine Auslage. Wenig später verließ sie die Metzgerei mit einer Tüte grober frischer Bratwürste, frischen Mettwürstchen zum roh essen und mehreren Wurstdosen und hatte dabei etwa die Hälfte dessen, was es in Frankfurt gekostet hätte, bezahlt.
Zurück in ihrem Häuschen zündete sie den Grill an und setzte sich, während die Kohlen langsam durchglühten, an ihren Laptop.
Zu Anfang fand sie in den Unterlagen aus dem PC der Esoterikerin nur nichtssagende Briefe an verschiedene Ärzte und Institutionen, die Schulmedizin im Allgemeinen und Chemotherapien im Speziellen anprangerten. Dann stieß sie jedoch auf einen Brief, der sie in seinen Bann zog und fast ihr Grillfeuer hätte vergessen lassen.
Widerstrebend legte sie ihn zur Seite und bestückte den Grill mit zwei Bratwürsten. Als sie fast fertig waren, fügte sie ein Stück Baguette vom Vortag hinzu und wenige Minuten später konnte sie sich zum Essen setzen. Nach dem ersten Bissen schloss sie die Augen. Sie hatte nicht gewusst, dass Bratwürste so gut schmecken konnten. Langsam aß sie weiter und kostete intensiv jeden Bissen. Obwohl sie nach zwei Würsten pappsatt war, sah sie bedauernd auf den Teller. Dann stand sie jedoch entschlossen auf, stellte ihn in die Spüle und wandte sich wieder den Unterlagen aus Frau Dittler-Zifurths PC zu.
Sie war gerade beim dritten Brief angelangt, einem wirren Sammelsurium aus Argumenten gegen Schutzimpfungen, als sie einen Wagen vorfahren hörte. Auf der Schotterstraße ein Auto zu hören, war an sich, wenn auch selten, nichts allzu Ungewöhnliches. Aufhorchen ließ sie jedoch, dass er vor ihrem Haus anzuhalten schien. Kurz darauf vernahm sie das Zuschlagen einer Wagentür.
Sie stand auf und sah aus dem Fenster. Da das Haus tiefer am Hang lag als die Straße, sah sie zunächst nur ein paar kräftige Männerbeine in schwarzen Jeanshosen. Dann erkannte sie, wer sie da besuchen kam. Sie ging rasch zur Tür und öffnete, bevor der Besucher klingeln konnte.
„Was machen Sie hier?“, fragte sie. „Woher wissen Sie, wo ich wohne?“
Dr. Wölter setzte sein charmantestes Lächeln auf und hielt zwischen Daumen und Zeigefinger eine Postkarte, mit der sie den Strom hatte ummelden wollen, in die Höhe.
„Die scheint Ihnen im Geschäftszimmer der Klinik heruntergefallen zu sein. Ich dachte, ich bringe sie Ihnen vorbei. Wo wir uns doch sowieso einmal treffen wollten.“
„Wollten wir das?“, fragte Jenny knapp, musste sich aber ein Lächeln verkneifen. Wie dreist konnte jemand sein? Dann schoss ihr ein anderer Gedanke durch den Kopf. Sie hielt Wölter bisher nicht für verdächtig, trotzdem konnte es sein, dass er ein Motiv hatte, das ihnen bisher noch nicht bekannt war. Unbehaglich war sie sich plötzlich der Einsamkeit ihres neuen Wohnortes bewusst. Niemand würde hören, wenn sie schrie. Niemand würde zur Hilfe kommen, wenn hier etwas passierte.
„Danke“, sagte sie deshalb knapp und streckte die Hand aus. „Dafür hätten Sie nicht extra herkommen müssen. Ich habe jetzt auch gar keine Zeit.“
Er reichte ihr die Karte, hielt sie aber noch einen Moment fest. „Wie schade. Sie haben es schön hier. Einsam. Wenn Ihnen einmal nach Gesellschaft ist … Sie wissen, wo Sie mich finden.“
Dann endlich ließ er los, und Jenny trat unwillkürlich einen Schritt zurück.
„Ich würde nicht damit rechnen“, erklärte sie kühl und verfluchte sich dann innerlich. Es brachte nichts, ihn zu provozieren.
„Schade“, sagte er nochmal und lächelte seltsam. Dann wandte er sich ab und stieg die Stufen zur Straße hinauf. Jenny folgte ihm mit ihrem Blick. Ein Sportwagen. Natürlich, was sonst. Schadenfroh überlegte sie, was die Schlaglöcher auf dem Weg seinen Stoßdämpfern wohl antun würden.
Erst als er losgefahren war und sie kein Motorengeräusch mehr hörte, schloss sie die Tür und kehrte zu ihrer Lektüre zurück.