Jenny und Britta waren kurz hinter Niedernhausen, als Jenny das Schweigen durchbrach. „Die Bemerkung im Café tut mir leid. Ich wollte mich nicht über dich lustig machen, schon gar nicht vor einem Kollegen. Du bist aber manchmal so …“ Sie suchte nach Worten.
„Verklemmt … humorlos … verbiestert?“, beendete Britta den Satz, ohne Jenny anzusehen.
„Was?“ Jenny sah nach rechts und schüttelte energisch den Kopf. „Natürlich nicht. Wie kommst du darauf?“
„Ich hör das nicht zum ersten Mal. Und ich weiß, dass du mich nicht als Kollegin willst.“
Jenny setzte den Blinker und bog auf den Parkplatz der Raststätte Medenbach. Sie parkte auf einem der PKW-Stellplätze, machte den Motor aus und drehte sich zu ihrer jungen Kollegin um.
„Sag mal, spinnst du?“, sagte sie verärgert. „Warum sollte ich dich nicht als Kollegin haben wollen? Ich kenne dich doch erst ein paar Tage.“
„Und warum hast du am ersten Tag Frank mitgenommen, statt mich?“
Jetzt wurde Jenny richtig sauer. „Wir sind doch hier nicht im Kindergarten? Es geht bei unserer Arbeit um lebenswichtige Dinge, oft genug um Leben und Tod, und du zickst rum wegen irgendwelcher zwischenkollegialer Eifersüchteleien?“
Britta, die zuvor auf das Armaturenbrett gestarrt hatte, blickte Jenny jetzt erschrocken an.
„Es tut mir …“
„Sag jetzt nicht, dass es dir leid tut“, warnte Jenny. „Ich bin sicher, du hast jedes Wort so gemeint.“
Zu Jennys Entsetzen schlug Britta die Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus.
Jenny wartete einen Moment, bis das Schluchzen abklang. Britta tat ihr leid, aber sie wollte endlich klären, was mit der jungen Kollegin los war. Bei wichtigen Ermittlungen konnten sie sich keine Unstimmigkeiten im Team erlauben.
„Ich wollte …“, begann sie endlich, immer noch unter Tränen. „Ich habe …“
Obwohl sie Britta am liebsten ungeduldig angefahren hätte, rang Jenny sich ein Lächeln ab.
„Also was jetzt? Ist es wirklich so schlimm? Erzähl mir, was mit dir los ist.“
„Wolli“, begann Britta, wurde jedoch von einem heftigen Schluckauf unterbrochen. „Oh nein“, stammelte sie. „Das dauert immer ewig bei mir.“
„Egal“, sagte Jenny. „Was ist mit Wolli?“
„Ich bin … ich bin …“
„Was denn nun? Verliebt? Schwanger?“
Als Britta kalkweiß wurde, wusste Jenny, dass sie ins Schwarze getroffen hatte.
„Ach du …“, murmelte sie leise. „Jetzt wird mir einiges klar.“
Britta schnäuzte sich die Nase und schluckste gleichzeitig. Immer noch liefen ihr Tränen übers Gesicht.
„Weiß er es?“, tastete Jenny sich vor.
„Klar!“, stieß Britta heraus. „Was glaubst du, warum er sich so schnell hat versetzen lassen. Wenn seine Frau davon erfährt, setzt sie ihn vor die Tür.“
„Und ihr hattet …?“, fragte Jenny vorsichtig.
„Einen One Night-Stand auf dem Betriebsausflug. Gerd von der Sitte hatte Caipis gemixt und ich war …“
„Sturzbetrunken?“, ergänzte Jenny hilfreich.
Britta nickte. „Es ist mir erst Wochen später klar geworden, dass ich schwanger bin. Ich hab es ihm natürlich gesagt.“
„Die Reaktion war nicht gerade positiv, vermute ich.“ Jenny seufzte innerlich. Die alte Geschichte.
„Er hat mich angebrüllt und mir gedroht, wenn ich es seiner Frau sagen würde oder sonst irgendwem, würde er mich fertigmachen!“
Jenny beugte sich vor. „Ach ja?“, sagte sie leise. „Fertigmachen? Wie denn?“
„Er will allen erzählen, ich würde es mit jedem treiben. Und als mein ehemaliger Vorgesetzter könnte er mir so schlechte Arbeit attestieren, dass ich mindestens versetzt werden würde. Er hat mich sogar direkt bedroht. Er würde so viele Leute aus dem Milieu kennen. Einer Frau könnte ja immer etwas zustoßen. Ganz zufällig.“
„Ganz zufällig, soso“, murmelte Jenny und umklammerte das Lenkrad. „Wollte er, dass du abtreibst?“
Britta nickte. „Ich konnte es nicht. Aber ich habe furchtbare Angst, was passiert, wenn er mitbekommt, dass ich es behalte.“
Jenny legte ihr die Hand tröstend auf den Arm. „Er wird dir nichts tun, dafür sorge ich.“
„Oh nein!“, rief Britta ängstlich. „Du darfst dich da nicht einmischen. Er ist skrupellos und gefährlich.“
„Mach dir mal um mich keine Sorgen“, sagte Jenny leichthin und ließ den Motor an. „Ich weiß schon, was ich mache.“ Und wenn ich mit dem Bürschchen fertig bin, dachte sie im Stillen, kann er froh sein, wenn er noch zwei gesunde Beine hat, geschweige denn einen Job.
Sie wandte sich noch einmal zu Britta. „Du hörst jetzt auf, dich von ihm einschüchtern zu lassen. Dazu gehören nämlich immer zwei. Auf meine Unterstützung kannst du zählen. Wie weit bist du?“ Sie sah prüfend an Britta herunter.
„Fünfter Monat. Ich weiß gar nicht, wie es weitergehen soll. Ich habe keine Familie …“ Ihre Stimme verklang, und sie knetete das feuchte Taschentuch in ihren Händen.
„Es gibt unzählige Hilfsangebote. Hast du dich da erkundigt?“ Britta schüttelte den Kopf.
Jenny seufzte innerlich.
„Wenn wir ins Präsidium zurückkommen, setzt du dich als Erstes mit der Beratungsstelle in Verbindung. Dann meldest du es offiziell der Dienststelle. Du solltest keinen Außendienst mehr machen.“ Sie hob die Hand. „Ich weiß, aber es ist zu gefährlich für dich und auch für die Kollegen, mit denen du Dienst machst.“
Britta nickte. „Das weiß ich ja“, sagte sie und ließ den Kopf sinken. „Aber ich mag meine Arbeit. Und mit dem Geld komme ich sowieso nur gerade so aus.“
„Sicher findet sich eine Lösung“, erklärte Jenny und startete den Motor. „Ich bin auf jeden Fall froh, dass du es mir gesagt hast. Und hab bloß keine Angst vor diesem Wolny!“
„Er hat so viele Freunde im Präsidium. Und auch sonst. Sie werden mir das Leben zur Hölle machen.“
Jenny schwieg. Sie wusste, wie es sein konnte, wenn eine Gruppe sich gegen einen einzelnen verschwor, unabhängig davon, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelte. Und hier war sie fremd, kannte die Strukturen und wer was zu sagen hatte noch nicht. Trotzdem würde sie die Angelegenheit nicht auf sich beruhen lassen.
Als sie zurück im Koblenzer Präsidium waren, rief sie jedoch zuerst Frank zur gemeinsamen Lagebesprechung. „Langsam kristallisiert sich ein gemeinsamer Nenner heraus. Alle Beteiligten haben etwas mit Chemotherapien zu tun. Eines unserer Opfer hat sie erhalten, das zweite sie angewendet und das dritte hat ihren Einsatz bekämpft. Darüber hinaus hat sie sich dafür interessiert, woher sie kommen. Ich will alles darüber wissen: Wo welches Krankenhaus sie herstellen lässt, wo Helmut Roths Arzt seine bestellt und so weiter. Ich übernehme die Klinik, in der Hirschhausen gearbeitet hat.“
Wieder fuhr Jenny zur Katherinen-Klinik, fragte aber diesmal an der Anmeldung nach der Krankenhaus-Apotheke. Kurz darauf stand sie im Keller des Gebäudes vor einer undurchsichtigen Milchglastür. Sie klingelte und nach einigen Sekunden öffnete ihr ein Mann, der so klein war, dass sie den Blick senken musste.
„Ja?“, fragte er überrascht, „Sie suchen?“
Jenny hielt ihm ihren Ausweis unter die Nase. „Ich möchte mit Ihnen sprechen.“
„Natürlich“, sagte er, öffnete die Tür, blieb dabei jedoch stehen. Auf seinem Namensschild stand U. Kröger. „Worum geht es denn?“
Jenny ignorierte die Frage und quetschte sich an dem kleinen Mann, der einen beachtlichen Körperumfang hatte, vorbei in den tristen Flur.
„Um Medikamente für Chemotherapien“, erklärte sie.
Widerwillig schloss er die Tür hinter ihr und machte eine Handbewegung, die alles hätte bedeuten können. Da er an ihr vorbei lief und eine offene Tür ansteuerte, ging Jenny davon aus, dass sie ihm folgen sollte.
Das Büro war vollgepackt mit Akten, Papierstapeln und dicken Büchern. Vieles war staubig, als wäre es lange nicht berührt worden. Er nahm eine Aktentasche vom Besucherstuhl und schob sie selbst hinter den überladenen Schreibtisch. „Setzen Sie sich. Wie kann ich helfen?“
Sie nahm vorsichtig auf der Kante der staubigen Sitzfläche Platz. „Ich wüsste gerne, woher Sie Ihre Chemotherapien beziehen.“
Er hob eine seiner struppigen Augenbrauen. „Wir stellen fast alle Chemotherapien, die in unserem Haus durchgeführt werden, selbst her.“
Er sah ihre Überraschung. „Wir haben ein Sterillabor. Die Rohstoffe kommen als Trockensubstanz vom Hersteller. Die Therapien werden dann von uns individuell angefertigt. Zusammengemischt“, verdeutlichte er mit einem Lächeln.
„Also sind die Mischungen für jeden Patienten anders?“
„Im Prinzip schon“, bestätigte er.
Jenny betrachtete ihre schmuddelige Umgebung. Kröger verstand ihren Blick richtig. „Kommen Sie“, sagte er statt einer Erklärung und hievte sich hoch. Er ging an ihr vorbei hinaus auf den Flur und steuerte eine Glastür an ihrem Ende an. Als er sie öffnete, blickte sie in eine Art Schleuse.
„Kommen Sie ruhig herein“, erklärte er. „Weiter können wir nicht, aber von hier aus haben Sie einen guten Blick auf das Labor.“
Hinter dicken Glasscheiben arbeiteten mehrere Menschen, die von Kopf bis Fuß in Schutzkleidung gehüllt waren. Überall standen technische Geräte und alles war in gleißendes Licht getaucht.
„Auf der anderen Seite befinden sich weitere Räume, eine ähnliche Schleuse und ein Nebenausgang aus dem Gebäude. Dort kommen die Rohstoffe an, werden einer Qualitätskontrolle unterzogen, dann in Lösung gebracht, gemischt und hier vorne zum Abschluss noch einmal getestet. Erst dann werden sie auf die Stationen gebracht oder in die Apotheke.“
„Stellt jedes Krankenhaus seine Chemotherapien selbst her?“
Er schüttelte vehement den Kopf. „Oh nein. Das ist heute eher die Ausnahme. Die meisten beziehen sie fertig von speziell darauf ausgerichteten Apotheken.“
Jenny überlegte einen Moment. „Können Sie mir eine hier in der Nähe nennen?“
Kröger nickte. „Natürlich. In unmittelbarer Nähe wüsste ich allerdings keine, aber doch zwei in der weiteren Umgebung. Eine davon, die Apostel-Apotheke, ist in Frankfurt-Fechenheim.“ Er überlegte kurz. „Ach ja, die andere befindet sich in Weiterstadt, das ist bei Darmstadt. Der Inhaber heißt, wenn ich mich recht erinnere, Rosenkranz.“
„Moment.“ Jenny zog ein kleines Notizbuch aus der Tasche und notierte die Namen und Orte. Dann fragte sie. „Aber wer kontrolliert, ob wirklich das Richtige in den Mischungen enthalten ist?“
Kröger sah sie überrascht an. „Das ist eine merkwürdige Frage. Die Apotheken werden natürlich von der Überwachungsbehörde zugelassen und überprüft.“
„Aber die einzelnen Therapien“, beharrte Jenny. „Was, wenn jemand etwas falsch mischt? Oder wenn ein Rohstoff nicht in Ordnung ist?“
Kröger hob die Schultern. „Die herstellenden Pharmafirmen haben natürlich auch eine Qualitätskontrolle. Ansonsten … würde man es wohl nur merken, wenn es nicht oder falsch wirkt.“
„Wenn es nicht wirkt …“, wiederholte Jenny leise und wandte sich zum Gehen. Dann drehte sie sich noch einmal um. „Gab es in letzter Zeit Beschwerden, dass Therapien nicht wie erwartet angeschlagen haben?“
Kröger Gesicht zeigte eine leichte Röte. „Nein, keine einzige. Was wollen Sie uns unterstellen?“
„Nichts“, beeilte Jenny, sich zu erklären. „Nur eine Routinefrage. Danke für Ihre Zeit.“
„Worum geht es denn überhaupt?“
Jenny fand, dass die Frage spät kam. „Nur um grundsätzliche Informationen. Nochmal danke.“
Sie ließ Kröger stehen, ging den Flur entlang und verließ die Apothekenabteilung. Mit dem Aufzug fuhr sie in den zweiten Stock und machte sich erneut auf die Suche nach Dr. Wölter.
Sie fand den Oberarzt in Professor Hirschhausens ehemaligem Büro. Eigentlich hatte sie nur kurz bei Frau Heidt hereinschauen wollen und perplex das neue Namensschild registriert.
„Das ging aber schnell“, grüßte sie die Vorzimmerdame, die verbissen auf ihre Tastatur einhackte.
Als Frau Heidt erschrocken aufblickte, sah Jenny, dass sie geweint hatte.
„Dabei ist Dr. Wölter nur kommissarischer Leiter“, flüsterte sie mit einem Blick zu der geschlossenen Bürotür. „Er hat darauf bestanden. Der Professor ist noch nicht einmal unter der Erde.“
Empört zerrte sie ein Papiertaschentuch aus einer Packung und schnäuzte sich die Nase. „Stimmt es, dass er ohne Kopf …?“
Zögernd erklärte Jenny. „Der Kopf ist getrennt vom Körper aufgefunden worden.“ Bevor die Frau weiterfragen konnte, sagte sie. „Ob ich Dr. Wölter wohl sprechen kann?“
Frau Heidt wies mit dem Kinn auf die Tür. „Gehen Sie einfach rein. Wenn er glaubt, dass ich jetzt automatisch …“
Jenny nickte verständnisvoll und ging zur Tür, die ins eigentliche Büro führte. Sie klopfte energisch und öffnete sie, ohne eine Antwort abzuwarten.
Wölter saß hinter dem Schreibtisch, die Füße auf dem Tisch und telefonierte. Als sie eintrat, sah er ärgerlich auf. Sein Gesichtsausdruck wandelte sich jedoch, als er erkannte, wen er vor sich hatte. Schnell beendete er das Gespräch und sagte: „Liebe Frau Kommissarin. Sie halten es wohl doch nicht ohne mich aus.“
„Ich hatte Schwierigkeiten, Sie zu finden“, erklärte Jenny mit einem betonten Blick zum Schreibtisch, der wenige Tage vorher noch Professor Hirschhausens Arbeitsplatz gewesen war.
„Ich bitte Sie!“ Er zeigte keinerlei Anzeichen von Verlegenheit. „Ich bedaure den Tod des Professors sehr“, erklärte er. „Aber deshalb warte ich nicht, bis jemand anderes kommt und mir die Position, die mir zusteht, wegschnappt.“
„Aber nur dadurch, dass Sie sein Büro besetzen, werden Sie doch nicht automatisch sein Nachfolger?“
„Ich habe es nicht besetzt!“ Er betonte das letzte Wort übertrieben. „Ich bin zum kommissarischen Leiter ernannt worden, und somit steht mir das Büro zu. Aber ich bin sicher, Sie sind nicht gekommen, um mit mir die Wahl meiner Arbeitsstätte zu diskutieren.“
„Nein. Natürlich nicht.“ Jenny stand etwas unbeholfen mitten im Zimmer.
„Aber ich bitte Sie. Setzen Sie sich doch. Einen Kaffee? Frau Heidt bringt uns sicher gerne zwei Tassen.“
Das bezweifelte Jenny und lehnte vorsichtshalber dankend ab.
Sie setzte sich und hielt sich nicht lange mit einleitenden Worten auf. „Gibt, vielmehr gab es in den letzten Monaten oder vielleicht auch Jahren Anzeichen, dass Chemotherapien nicht so gut angeschlagen haben, wie sie es hätten tun sollen?“
Wölter, der gerade noch ein charmantes Lächeln aufgesetzt hatte, wurde schlagartig ernst und beugte sich vor. „Ich glaube, ich verstehe die Frage nicht.“
„Ich habe mich doch klar ausgedrückt. Vermutlich führen Sie Statistiken, wenn ich recht informiert bin, fertigen Sie doch sogar eine Studie an. Ist die Heilungsrate schlechter, als sie es sein müsste?“
Jenny sah ihm an, dass er angestrengt nachdachte. Langsam sagte er. „Nicht, dass ich wüsste. Wie kommen Sie darauf? Hat es etwas mit dem Tod des Professors zu tun? Hat er irgendetwas mit den Medikamenten gemacht?“
„Nicht, dass ich wüsste“, wiederholte sie seine Worte. „Wie kommen Sie darauf?“
„Ich zähle einfach eins und eins zusammen. Immerhin ermitteln Sie in seinem Mordfall. Und jetzt kommen Sie zu mir und stellen kryptische Fragen über Krebstherapien. Sie vermuten offensichtlich einen Zusammenhang?“
Das Letzte klang wie eine Frage und Jenny überlegte, was sie darauf antworten sollte. „Ehrlich gesagt stochere ich noch im Nebel. Sicher ist, dass der Professor mit einem Patienten Kontakt hatte, bei dem die Therapie außergewöhnlich schlecht angeschlagen hat. Und es war kein Patient von ihm.“
„Das ist ja merkwürdig“, antwortete Wölter, der sich wieder sichtlich entspannt hatte. „Aber Sie müssen wissen, dass die Behandlung von Erkrankungen mit Chemotherapeutika viele Aspekte hat. Im Prinzip geht es darum, die sich schnell teilenden kranken Zellen zu töten, die gesunden dabei so weit wie möglich zu schonen, was aber nicht immer gelingt. So bedauerlich es ist, manchen Patienten geht es nach einer Chemo schlechter oder die Krebserkrankung verschlimmert sich sogar dramatisch, statt sich zu verbessern. Das ist aber normal und nicht zu verhindern. Zumindest nicht nach dem heutigen Stand der Wissenschaft.“
„Aber“, dachte Jenny laut. „In den meisten Fällen hilft die Therapie doch. Sonst würde man sie kaum anwenden. Bei wie vielen Patienten kommt es zu einer Verschlechterung? Ich meine nicht Nebenwirkungen. Ich meine Verschlechterung der Prognose.“
Wölter überlegte einen Moment. „Vielleicht bei fünf Prozent.“
„Würde es auffallen, wenn sich die Erkrankung plötzlich bei mehr Patienten verschlimmern würde statt üblich? Sagen wir, bei vierzig Prozent?“
„Sicher nicht sofort“, antwortete Wölter nach kurzem Nachdenken. „Es gibt ja immer mal wieder ungewöhnliche Häufungen. Aber nach einer gewissen Zeit würde es sicher auffallen. Ja“, bestätigte er noch einmal mit Nachdruck. „Zweifellos!“
Bevor Jenny etwas sagen konnte, schüttelte er den Kopf. „Sie sind auf dem völlig falschen Dampfer. Gerade weil der Professor in die Forschung involviert war, hat er akribisch alle Fälle dokumentiert und statistisch aufgearbeitet. Es gab keine ungewöhnlichen Statistiken, sonst wären sie mir aufgefallen oder er hätte mir davon erzählt.“
Nachdenklich ging Jenny zurück zu ihrem Wagen und blieb davor stehen. Hatte Sie Unrecht und war auf einer falschen Fährte? Oder hatte man sie angelogen?
Entschlossen stieg sie ein und bog auf die Straße Richtung Koblenz Innenstadt ab. Vielleicht hatten ihre Kollegen mehr herausgefunden.
Britta und Frank saßen sich mit missmutigem Gesichtsausdruck gegenüber und hielten beide ein Telefon am Ohr.
„Warteschleife“, flüsterte Frank und deutete überflüssigerweise mit dem Kinn auf den Hörer.
Jenny nickte und ging in ihr Büro, wo sie einen Zettel Sobottkis vorfand, der sie aufforderte, nach ihrem Eintreffen unverzüglich in seinem Büro zu erscheinen. Sie seufzte. Natürlich hätte sie ihn früher über die neuen Entwicklungen ihrer Fälle informieren müssen, aber sie war es so sehr gewohnt, selbstständig zu arbeiten, dass sie es schlicht und einfach vergessen hatte.
Sobottki sah auf, als sie mit einem Klopfen an den Türrahmen der offen stehenden Tür in sein Büro trat.
Immerhin war sein Lächeln freundlich, und auch seine Worte hatten nichts von der Schärfe, die Jenny weniger befürchtet als erwartet hatte.
„Frau Becker! Kaum sind Sie hier, da regnet es kopflose Leichen. Hätten Sie die nicht in Frankfurt lassen können?“
Er lachte über seinen eigenen Scherz, während Jenny das Gesicht verzog. „Ehrlich gesagt, hätte ich auch gut darauf verzichten können.“
„Das glaube ich“, sagte er und wurde ernst. „Wie kommen Sie mit dem Fall voran?“
Viel hatte Jenny nicht vorzuweisen. Das Wenige, das sie hatte, war in wenigen Minuten dargelegt.
Sobottki spielte nachdenklich mit einem Stift. „Brauchen Sie mehr Leute? Es wäre schwierig, aber bei einem solch aufsehenerregenden Fall sicher möglich.“
Jenny hob abwehrend die Hand. „Uns fehlt es momentan an Ansatzpunkten, nicht an Leuten. Und Britta und Frank machen ihre Sache gut.“
„Das bezweifle ich nicht“, erklärte Sobottki. „Wobei Frau Manger mir in letzter Zeit etwas angespannt erscheint. Was ist Ihre Meinung?“
„Das ist mir gar nicht aufgefallen“, erklärte Jenny mit unbewegter Miene. „Ihre Arbeit macht sie jedenfalls ausgezeichnet.“
„Nun gut“, winkte Sobottki ab. „Dann will ich Sie nicht länger aufhalten. Es wäre nett, wenn Sie mich auf dem Laufenden halten würden.“
„Auf jeden Fall“, versicherte Jenny und setzte im Stillen hinzu: „Zumindest, wenn ich daran denke.“
Im Büro waren die Gespräche offenbar erledigt. „Aufgegeben?“, vermutete Jenny.
„Ich hatte die Praxis, in der Helmut Roth behandelt wurde, am Telefon. Beziehungsweise die Dame von der Ansage. Nach einer halben Stunde habe ich es aufgegeben. Ich bin zwar zur Sprechstundenhilfe durchgedrungen, auf meine Erklärung hin hat sie mich aber immer in eine endlose Warteschleife gestellt. Das Spiel haben wir jetzt fünf Mal gespielt.“
Jenny musste ob seiner gerechten Empörung lächeln. „Und du?“, fragte sie Britta, die etwas auf ein Blatt schrieb.
„Ich hab was. Ich schreib es nur nochmal leserlich. Das Krankenhaus, in dem dieser Roth behandelt wurde, lässt seine Chemotherapien in zwei Apotheken herstellen. Ich habe hier die Adressen.“
„Sehr gut!“, lobte Jenny. „Ich habe auch zwei Namen, die wir abgleichen können. Dann haben wir wenigstens etwas. Überprüft, ob es Verbindungen der beiden anderen Opfer zu diesen Apotheken gibt. Ich weiß, wir stochern nur herum, aber irgendwie müssen wir weitermachen und irgendwann stoßen wir so vielleicht auf einen konkreten Hinweis.“
Sie ging an ihren eigenen Schreibtisch und wählte Logos Nummer. „Hey, ich bin‘s, wie geht’s?“, meldete sie sich, als sie seine Stimme hörte.
„Geht so. Und dir?“ Logo klang mürrisch wie so oft in letzter Zeit.
„Gut. Sag mal, du warst doch bei Helmut Roths Onkologen?“
„Erinnere mich nicht daran. Der Mann ist nicht gerade ein Sympathieträger.“
„Wir versuchen, herauszufinden, von wem er die von ihm angewandten Chemotherapeutika bezieht.“
Logo knurrte etwas Unverständliches.
„Was hast du gesagt?“, fragte Jenny nach.
„Du warst nicht gemeint. Sascha hat sich abgemeldet. Will Wolny das Präsidium zeigen.“
Es war einen Moment Stille in der Leitung. „Sind sie weg?“, fragte Jenny dann.
„Ja, sind beide die Tür raus, warum?“
„Magst du ihn nicht, oder bist du noch auf Sascha sauer?“
„Ich bin überhaupt nicht auf Sascha sauer!“, brauste Logo auf. „Nur weil er sich auf deine Stelle bewirbt? Kann er doch. Soll er doch. Ist mir doch egal.“
Jenny atmete tief durch. „Dann ist es euer neuer Kollege?“
„Ich weiß nicht …“, begann er, doch Jenny unterbrach ihn. „Logo …“
Er seufzte. „Also gut. Ich mag den Kerl nicht. Er hat irgendetwas Falsches an sich. Auch wenn du jetzt sagen wirst, dass ich Vorurteile gegen ihn habe, weil ich dich vermisse und ihm eine Chance geben soll und so weiter und so weiter. Ich kann dem Kerl nicht aufs Fell schauen.“
Jenny drehte sich von der offenen Bürotür weg und schirmte mit der Hand den Hörer ab. „Und du hast recht damit“, flüsterte sie. „Ich erklär’s dir später.“
Lauter sagte sie: „Tu mir den Gefallen und frag bei dem Arzt nach. Für dich ist es ein Katzensprung.“
Logo seufzte tief auf. „Dann hab ich aber einen riesengroßen Gefallen gut!“
Zu seiner Überraschung befand sich niemand im Wartezimmer des Onkologen. Nichts Gutes ahnend ging er mit großen Schritten auf den Empfang zu.
Dieselbe Frau, die ihn beim letzten Mal so lange hatte warten lassen, lächelte ihn jetzt süffisant an.
„Der Herr von der Polizei. Dr. Bahrami ist leider nicht da.“ Sie dehnte das ‚Leider‘ übertrieben in die Länge.
„Wo kann ich ihn finden. Oder wie erreichen?“, fragte Logo knapp.
„Er ist heute bei seinen Patienten in der Universitätsklinik.“
„Und anschließend Golf spielen“, setzte ein junges Mädchen, das neben ihr saß, hinzu, was ihr einen bösen Seitenblick einbrachte.
„Können Sie mir sagen, wo die von Ihnen angewandten oder verschriebenen Chemotherapeutika hergestellt werden?“, fragte Logo bemüht höflich.
„Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das sagen darf.“
Logos Geduldsfaden riss. „Es geht hier um Mord! Genauer gesagt um mehrere Morde. Ein bisschen Kooperation von Ihrer Seite aus könnte dazu beitragen, den Täter zu finden.“
Jetzt starrten ihn beide Frauen mit großen Augen an. „Mord? Wer ist denn …“
„Das darf ich Ihnen leider nicht sagen.“ Logo genoss es, das ‚Leider‘ ebenso zu betonen. „Bekomme ich jetzt die Auskunft?“
Er beugte sich vor, um das winzige Namensschild zu entziffern. „Frau Stoll?“
Sie nahm einen Zettel und schrieb etwas darauf. Dann reichte sie ihn über den Tresen. „Diese beiden Apotheken stellen die meisten Chemotherapeutika für uns her. Auch für die Uniklinik und das Sachsenhäuser Krankenhaus. Bei den anderen weiß ich es nicht.“
Logo bedankte sich und verließ schleunigst die Praxis. Dann rief er Jenny an und gab ihr Namen und Adressen durch.
„Die beiden wurden mir auch im Koblenzer Krankenhaus genannt“, sagte sie nachdenklich. „Gibt es eine Verbindung zu den Morden? In Hirschhausens Krankenhaus, das die meisten Medikamente selbst mischt, haben die Therapien laut Wölter gewirkt, in Frankfurt bei Roth nicht und die Dittler-Zifurth hält sie sowieso für Teufelszeug.“
„Selbst wenn sie nicht wirken“, gab Logo zu bedenken. „Warum bringt man dann den Patienten um? Dass jemand einen Hass auf den behandelnden Arzt hat, kann ich ja noch verstehen. Aber auf den Kranken?“
In Jennys Kopf machte sich eine Idee breit. „Vielleicht …“, begann sie langsam, hielt dann jedoch inne. „Ich würde gerne alles sichten, was ihr bei Helmut Roth sichergestellt habt. Vielleicht ist etwas dabei, das ohne das Wissen, was wir jetzt haben, gänzlich unverdächtig erschienen ist.“
„Sicher, Jenny. Gar kein Problem. Ich sag Sascha, er soll dir alles schicken. Viel ist es nicht. Oder kommst du her?“ Logos Stimme klang hoffnungsvoll.
„Nicht ins Präsidium“, sagte Jenny rasch. „Am liebsten würde ich mir auch Roths Wohnung persönlich ansehen. Meinst du, das kann man der Witwe zumuten?“
„Auch das solltest du Sascha fragen“, erklärte Logo. „Er ist bald wieder im Haus. Hat irgendwas von Arzttermin und Überstunden gemurmelt.“
Kaum hatte sie aufgelegt, wählte Jenny als nächstes Saschas Nummer. „Bist du krank?“, fragte sie nach der Begrüßung.
„Nein, ich war mit Lucy beim Tierarzt zum Durchchecken. Alles in Ordnung, außer dass sie alt ist.“
„Fein“, sagte Jenny und bat ihn, mit ihr in Roths Wohnung zu gehen.
„Ich habe alles gründlich durchsucht“, erklärte er verwundert. „Aber wenn du glaubst …“
„Ich weiß, wie gründlich du bist“, fiel sie ihm ins Wort. „Aber du wusstest damals nicht, wonach du suchen solltest. Ich will prüfen, ob es eine Verbindung zwischen Roth und der Apotheke gibt, die seine Chemotherapie hergestellt und geliefert hat.“
Es war einen Moment still am anderen Ende der Leitung. „Eine Verbindung?“
„Ich habe den Verdacht, dass Roth zumindest vermutet hat, dass etwas mit seiner Chemo nicht gestimmt hat. Vielleicht hat ihm die Dittler-Zifurth den Floh ins Ohr gesetzt. Wir wissen immerhin, dass sie Kontakt hatten.“
Sascha antwortete langsam. „Ich verstehe. Aber hat nicht die Auswertung seiner Anrufe etwas ergeben? Er hat doch mit einer Apotheke telefoniert.“
„Sie gehörte aber nicht zu denen, die Chemos herstellen. Britta hat angerufen. Er hat nur nach einem Schmerzmittel, das bestellt werden musste, gefragt.“
„Gut“, sagte Sascha. „Wenn du möchtest, sehen wir uns nochmal gründlich bei ihm zu Hause um.“
An diesem Tag war es jedoch zu spät, um noch etwas zu erreichen. Jenny wies ihre beiden Kollegen an, Feierabend zu machen. Sie wartete, bis sie weg waren und trat dann vor den kleinen Spiegel über der Mini-Spüle. Heute würde sie nicht sofort nach Hause fahren.
Zehn Minuten später betrat sie den Irish Pub in der Nähe des Präsidiums, von dem sie wusste, dass viele Kollegen ihn nach Feierabend aufsuchten.
Sie schlenderte zur Theke und sah sich dabei unauffällig um. Als sie ein bekanntes Gesicht entdeckte, steuerte sie einen Hocker in seiner Nähe an und nickte beiläufig.
„Ein Kilkenny“, bestellte sie, als der Barkeeper zu ihr kam.
Der Kollege, der, wie sie wusste, im Vermisstendezernat arbeitete, wandte sich ihr zu.
„Bist du nicht die Neue aus Frankfurt?“
Sie nickte und prostete ihm mit dem Glas, das gerade vor sie hingestellt wurde, zu. „Genau die.“
Er hob sein Guinness-Glas. „Na dann herzlich willkommen. Tut mir leid, dass Ihr unsre Arbeit machen müsst, aber bei uns hat die Hälfte die Grippe.“
„Seh ich da einen Anflug von Schadenfreude?“ Jenny milderte die Worte mit einem Lächeln ab.
Der Kollege lachte dagegen laut auf. „Nicht doch. Außerdem ist ja jetzt doch ein Mord daraus geworden. Spätestens jetzt hätten wir den Fall an euch abtreten müssen. Stimmt das, dass da Köpfe vertauscht wurden?“
„Der Flurfunk funktioniert hier offensichtlich genauso gut wie in Frankfurt.“
Er wollte etwas sagen, wurde aber in dem Moment von einem kräftigen Mann neben ihm angestoßen. „Willst mich nich mal bekannt machen?“ Das Bierglas in seiner Hand schien nicht sein erstes zu sein und, wie Jenny nach einem Blick auf seine rot geäderte Nase vermutete, wohl auch nicht sein letztes für heute.
„Sorry“, sagte ihr Nachbar und streckte die Hand aus. „Ich bin Matthias, der Dicke neben mir ist Fred und du bist …?“
„Jenny“, stellte sie sich vor und schüttelte erst seine Hand, dann die des Dicken.
„Wie ist es denn so in Frankfurt?“, wollte Matthias wissen. „Nur Mord und Totschlag?“
„Auch nicht anders als hier. Vielleicht etwas mehr Bandenkriminalität. Aber sonst nur entsprechend der Einwohnerzahl ein paar Morde mehr.“ Sie trank einen Schluck Bier und sagte beiläufig: „Ich hoffe, der Kollege, der mit mir getauscht hat, hat sich nicht mehr Aufregung versprochen.“
„Wolly?“, fragte Matthias. „Seltsam, dass er weg wollte. Hab ihn vorher nie davon reden hören.“
„Soviel ich weiß, will seine Frau dort die Buchhandlung ihrer Eltern übernehmen“, erklärte Jenny.
„Dann kann er sich ja zur Ruhe setzen!“, rief Fred und setzte dann an Matthias gewandt hinzu. „Rutsch doch mal. Ich muss sonst über dich drüber quatschen.“
Matthias verdrehte die Augen, zog aber seinen Hocker ein Stück nach hinten, sodass Jenny und Fred besser miteinander reden konnten.
Sie lächelte ihn an. „Zur Ruhe setzen? Ich dachte, er wollte Karriere machen?“
„Ja, am besten, ohne viel zu arbeiten!“ Freds Gesicht war rot und ein Speicheltropfen hing ihm am Mundwinkel.
„Fred“, sagte Matthias mahnend und wandte sich dann an Jenny. „Hör nicht auf ihn. Wir kennen Wolly nicht besonders gut. Andere Abteilung.“
„Gut genug“, brummelte Fred, ließ das Thema dann aber fallen. „Warum bist du aus Frankfurt hergekommen?“
„Ich brauchte mal Tapetenwechsel“, erklärte sie. „Dass ich hier gelandet bin, war eher Zufall. Wolly war der erste Kollege, der wechseln wollte und zwar möglichst sofort.“
Matthias sah sie nachdenklich an, doch es war Fred, von dem die Information kam, die sie wollte.
„Hab dem Kerl nie übern Weg getraut. N paar hat er ja eingewickelt, aber ich fand ihn irgendwie …“
„Jetzt reicht‘s aber, Fred!“ Matthias war aufgestanden und nahm seinem Kollegen das Glas aus der Hand. „Du solltest jetzt heimgehen. Ich bin heute mit Zahlen dran.“
Fred wollte aufbegehren, stellte dann aber sein fast leeres Glas ab und sagte mit einem Seitenblick zu Jenny. „Ist vielleicht wirklich besser. Tut mir leid. Schönen Abend noch.“ Er schwankte leicht, als er sich durch den jetzt recht vollen Pub den Weg zum Ausgang bahnte.
Matthias sah sie entschuldigend an. „Sonst redet er nicht so über Kollegen. Das gehört sich einfach nicht. Aber momentan … Seine Frau hat ihn gerade verlassen. Er trinkt zu viel, wie du ja sicher bemerkt hast, und weiß dann manchmal nicht, wann man aufhören sollte.“
„Aber man sagt ja: Trinkermund tut Wahrheit kund“, sagte Jenny mit einem, wie sie hoffte, charmanten Lächeln. „Ich habe immer gehört, Wolny wäre erfolgreich und beliebt gewesen?“
Ihre Frage war Matthias sichtlich unangenehm. „Da gab es mal eine unangenehme Geschichte mit einer Kollegin. Ist aber schon ewig her. Er wollte etwas von ihr, sie aber nicht von ihm.“
„Soll vorkommen“, warf Jenny ein.
„War wohl ziemlich aufdringlich. Deshalb wurde er zur Mordkommission versetzt.“
„Weggelobt?“, fragte Jenny fassungslos.
„Genau. Sobottki … versteh mich nicht falsch, er ist ein echt netter Chef … zu nett, wenn du mich fragst. Er hat ihn aufs Auge gedrückt bekommen.“
Jenny nickte nachdenklich. „Ich frag mich, wie es zu den Gerüchten über seine Beliebtheit gekommen ist.“
Matthias beugte sich zu ihr. „Wenn du es genug Kollegen erzählst, glaubt es irgendwann jemand.“
Jenny lächelte ihn strahlend an. „Noch ein Bier? Ich zahle.“
An diesem Abend war es spät, als Jenny den unbefestigten Weg zu ihrem neuen Domizil entlang holperte. Obwohl sie nach dem ersten Bier zu alkoholfreiem übergegangen war, fühlte sie sich merkwürdig beschwingt. Plötzlich wurde ihr klar, woran das lag. Sie hatte zum ersten Mal seit ewigen Zeiten mehrere Stunden nicht an Michael Biederkopf gedacht. Matthias war eine angenehme Gesellschaft gewesen, und später waren noch andere Kollegen dazu gekommen, die sie wie selbstverständlich in ihren Kreis aufgenommen hatten. Am meisten freute sie sich, dass Wolnys Reputation keinesfalls so war, wie er es Britta weisgemacht hatte.
Der Bewegungsmelder sprang an, als sie die Stufen zum Haus hinunterging und erhellte den Eingang. Jenny warf einen Blick über die Schulter in die Dunkelheit. Sie hatte ein merkwürdiges Gefühl. So, als würde sie jemand beobachten. Dann wandte sie sich jedoch entschlossen zur Tür und steckte den Schlüssel ins Schloss.
Obwohl sie gerade erst eingezogen war, fühlte es sich schon an, wie nach Hause kommen. Ob sie hier am Ende der Welt endlich Frieden finden würde?
Müde versammelte sie am nächsten Morgen ihr Team um sich. Diesmal wollte sie Frank zur Familie Roth mitnehmen. Britta sollte hierbleiben und die Namen auf Hirschhausens Liste überprüfen. Jenny hatte sich lange überlegt, wie sie an sie herantreten könnte. Immerhin konnte sie nicht einfach andeuten, dass mit ihren Medikamenten möglicherweise etwas nicht stimmte. Wenn sie an den Aufruhr dachte, den ein solcher Verdacht auslösen würde, schauderte ihr. Aber vielleicht fand sich etwas in sozialen Netzwerken, in Selbsthilfeforen oder Ähnlichem.
Gegen halb zehn trafen sie sich mit Sascha vor dem Wohnhaus der Roths im Gallusviertel.
Sascha hatte sie angekündigt. Frau Roth, die noch verhärmter aussah als vor ein paar Tagen, öffnete ihnen die Tür. Sascha stellte Jenny und Frank vor, und die Frau führte sie in das düstere Wohnzimmer, das, obwohl das Krankenbett fehlte, immer noch klein und voll wirkte.
„Sie haben doch schon alles durchsucht“, sagte sie mit dünner Stimme. „Das hat mir zumindest meine Tochter erzählt. Was wollen Sie denn hier noch finden?“ Sie sah von einem zum anderen. „Und noch dazu gleich zu dritt?“
„Es haben sich Verbindungen zu anderen Todesfällen ergeben“, erklärte Sascha nach einem fragenden Blick zu Jenny. „Wir wollen ganz sichergehen, dass Ihr Mann nicht doch irgendwo noch Unterlagen hat oder vielleicht ein Handy.“
Die Frau sah ihn verwirrt an. „Wozu denn? Andere Todesfälle? Aber wie …“
„Dürfen wir uns umschauen?“, unterbrach Sascha sie mit freundlicher aber fester Stimme. „Das letzte Mal habe ich mich nur oberflächlich umsehen können, und wir wussten noch nicht, wonach wir suchen sollten.“
Frau Roth hob resigniert die Schultern. „Aber natürlich. Ich wollte nur wissen … Aber es ist einerlei, oder?“ Sie hob den Blick zu Jenny und sah sie direkt an. „Er kommt ja doch nicht wieder.“ Dann, als besinne sie sich erst jetzt auf ihre Gastgeberpflichten. „Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?“
„Gerne“, sagte Jenny rasch und im Bewusstsein, die Frau würde damit beschäftig sein.
Mit einem Kopfnicken verschwand Frau Roth Richtung Küche und Sascha ließ seinen Blick durch das Wohnzimmer schweifen. „Unwahrscheinlich, dass er etwas hier versteckt hat, wo seine Frau es jederzeit hätte finden können. Am ehesten könnte es sein, dass ich im Keller etwas übersehen habe.“
Jenny, die Saschas Sorgfältigkeit kannte, sah ihn zweifelnd an. Bevor sie sich aufteilen konnten, kam Frau Roth aus der Küche. „Der Kaffee dauert noch einen Moment“, sagte sie entschuldigend. „Aber mir ist etwas eingefallen. Ich glaube ja nicht, dass mein Mann etwas vor mir versteckt hat, aber wenn, dann sicher nicht hier in der Wohnung.“
„Deswegen würden wir auch gerne in Ihren Keller“, sagte Jenny freundlich.
„Sicher, aber den meine ich nicht“, erklärte Frau Roth und knetete dabei ein Küchentuch in den Händen.
„Hinter dem Haus ist ein Gemeinschaftsgarten. Eigentlich mehr ein Abstellplatz mit ein paar Pflanzen. Aber jeder Mieter hat ein kleines Gartenhäuschen. Ich gehe da nie rein, da gibt es Spinnen und Mäuse.“ Sie schüttelte sich. „Aber mein Mann hat da ab und zu Sachen untergestellt.“
Aufregung erfasste Jenny. Würden sie hier endlich etwas finden, das Licht in die Sache brachte? „Danke, Frau Roth. Ist die Hütte abgeschlossen?“
„Gut, dass Sie es sagen. Ja sicher. Der Schlüssel hängt hier am Brett.“
Das „Gartenhäuschen“ war nicht mehr als ein Kunststoffschrank, der mit fünf anderen an der hinteren Seite des Hinterhofs stand. Der größte Teil des Areals war unregelmäßig gepflastert. An vielen Stellen kam Unkraut durch die Ritzen und kaputtes Spielzeug lag herum. An einer Seite war ein vielleicht zwei mal zwei Meter großes Stück braunfleckiger Wiese, auf der ein armseliges Bäumchen vor sich hin vegetierte.
Jenny sah zu, wie Sascha den Schrank öffnete. Erwartungsvoll beugte sie sich weit vor und konnte kaum erwarten, ins Innere zu sehen. Frank wippte neben ihr auf den Fußballen.
Auf den ersten Blick schien der Schrank leer zu sein. Dann griff Sascha jedoch in das obere Fach und brachte einen großen Umschlag zum Vorschein. Er überreichte ihn Jenny und tastete, ob es noch weitere Dinge enthielt, fand jedoch nichts.
„Das ist alles“, stellte er fest, schloss die Tür und verriegelte sie. „Schau rein“, forderte er Jenny auf.
„Hier?“, fragte Jenny und sah sich um. „Lass uns lieber woanders hingehen. Wer weiß, wer hier zuschaut.“
„Ins Präsidium möchtest du sicher nicht?“, fragte Sascha.
Jenny zögerte mit einem Blick zu Frank. Als er keine Anstalten machte, etwas beizutragen, schüttelte sie den Kopf. „Lass uns rüber ins Skyline Plaza fahren, da ist es immer leer und wir können irgendwo etwas trinken.“
Das 2013 eröffnete riesige Einkaufszentrum lag zwischen Hauptbahnhof und Messe und erforderte somit nur einen kleinen Umweg auf dem Weg zum Präsidium. Es hatte nie die erhofften Besucherzahlen anlocken können, und sie würden dort sicher ein ruhiges Eck finden.
Kaum fünf Minuten später liefen sie schon vom Parkhaus ins eigentliche Gebäude und steuerten ein fast leeres Café an. Während sie auf ihre Getränke warteten, versuchte Sascha, Konversation zu machen. „Wolny hätte sich sicher gefreut, dich zu sehen.“
Frank lächelte unsicher. „Ja, natürlich. Wie geht’s ihm denn in Frankfurt?“
„Ich denke, er wird sich hier wohlfühlen“, sagte Sascha. „Er wollte immerhin unbedingt hierher. Seine Frau hat auch eine Stelle in Aussicht.“
Frank hob verwundert den Kopf. „Ich denke, sie hat einen Buchladen geerbt?“
Jetzt sah Sascha verwirrt aus. „Davon weiß ich nichts.“
Jenny beobachtete die Unterhaltung amüsiert. Lügen hatten kurze Beine, das würde Kollege Wolny bald feststellen müssen.
Als die Bedienung ihre Getränke gebracht hatte, konnte Jenny endlich den Umschlag öffnen. Er war dick und schwer und mit zwei Klammern verschlossen.
Sie entfernte sie und schüttete den Inhalt auf den Tisch. Die Verpackung eines klobiges Handys fiel heraus, gefolgt von einem Ladegerät. Sie griff in den Umschlag und holte einen Stapel Papier heraus.
„Ich wusste es“, sagte Jenny tonlos, als sie das erste Blatt überflogen hatte.
„Was ist das?“, fragte Frank und versuchte, einen Blick auf das Blatt zu erhaschen. „Sind das ausgeschnittene Buchstaben?“
„Eine Kopie“, murmelte sie. „Er hat jemanden erpresst.“
„Wen?“, sagten Frank und Sascha wie aus einem Mund.
„Steht hier nicht“, erklärte sie und nahm das nächste Blatt.
Sascha griff sich einen Teil des Stapels und blätterte. Ab und zu überflog er ein Stück Text. „Er hat mit der Dittler-Zifurth und mit Professor Hirschhausen kommuniziert. Roth war sicher, dass bei seiner Chemo gepfuscht worden war und er deshalb sterben muss.“
Jenny dachte kurz nach. „Musste er vermutlich auch, aber anders, als er dachte.“
Frank hatte das Blatt mit dem Erpresserbrief zu sich gezogen und studierte es. „Er bestellt jemanden an den Goetheturm. Da wurde er doch umgebracht, oder?“
„Allerdings“, bestätigte Jenny. „Wir müssen herausfinden, wen er erpressen wollte, dann dürften wir auch den Mörder haben.“
„Ich hab‘s!“, sagte Sascha und tippte mit dem Zeigefinger auf ein Schreiben. „Roth vermutet, dass die Apotheke betrügt und die Medikamente für die Therapien falsch mischt. Er hat hier eine Liste aller in Frage kommenden Apotheken. Alle außer den beiden, die uns die Praxis Bahrami genannt hat, sind ausgestrichen. Aber welche hat er letztendlich erpresst? Hier steht nichts.“
Sie sahen noch einmal alle Blätter durch, fanden jedoch keine weiteren Informationen.
„Es geht doch sicher um die letzte Chemo, die er bekommen hat. Wir müssen einfach heraus finden, woher sie kam“, schlug Frank vor.
Sascha schüttelte den Kopf. „Soviel ich weiß, hatte er mindestens fünf Behandlungen. Vielleicht waren nur ein Teil davon für die Nebenwirkungen verantwortlich. Erst müssen wir abklären, ob sie alle aus der selben Apotheke kamen.“
Frank fragte. „Ich weiß nicht, ob ich alles richtig verstehe. Roth hatte den Verdacht, dass mit seiner Behandlung etwas nicht stimmt …“
„Die Dittler-Zifurth wird ihn darauf gebracht haben“, warf Jenny ein.
„Vermutlich“, sprach Frank weiter. „Er recherchiert in seinem Umkreis, der Selbsthilfegruppe zum Beispiel, und stößt auf andere Fälle. Dann kontaktiert er Professor Hirschhausen?“
„Zumindest hatten sie Kontakt“, bestätigte Jenny.
„Roth kommt dann aber auf die Idee, die Apotheke zu erpressen, statt weiter darauf zu dringen, dass alles aufgeklärt wird?“
„Vermutlich wollte er seine Familie abgesichert wissen“, sagte Sascha. „Sie waren in einer verzweifelten finanziellen Lage, und er hatte keine Lebensversicherung.“
Jenny führte den Gedankengang weiter. „Der Erpresste tötet ihn aber, statt zu zahlen. Irgendwie hat er erfahren, dass Professor Hirschhausen und die Esoterikerin Bescheid wussten oder zumindest einen Verdacht hatten, und tötet auch sie.“
Alle drei schwiegen eine Weile. Dann verzog Jenny das Gesicht. „Irgendwie kann ich nicht glauben, dass ein Apotheker, sei es auch ein krimineller, der Medikamente fälscht, drei Morde begeht, und das auch noch auf solch grausame Weise.“
„Aber eine solche Person muss doch absolut skrupellos sein“, sagte Sascha. „Überleg dir, wie viele Menschen er zum Tod verurteilt hat. Todkranke, deren einzige Hoffnung die Therapie war und die jetzt sterben, weil er ihre Medikamente gepantscht hat. Auf schreckliche Weise sterben.“ Er schluckte. Glücklicherweise wusste Jenny nicht, an wen er gerade im Speziellen dachte. Sobald ihre Sitzung fertig war, würde er Biederkopf informieren müssen. Vielleicht … Er verbot sich, weiterzudenken.
Jenny spürte eine leichte Übelkeit. „Natürlich stecken riesige Summen in diesem Geschäft, denn nichts anderes ist es ja. Ich möchte nicht wissen, wie viele Medikamente im Wert von jeweils mehreren Tausend Euro jeden Tag in einer dieser Apotheken über den Tisch gehen. Wenn zum Beispiel nur die Hälfte Wirkstoff enthalten ist … Mir wird schwindelig, wenn ich an die Summe denke.“
„Aber die Morde scheinen doch einen starken persönlichen Aspekt zu haben“, wandte Frank zögernd ein. „Warum wurden sie sonst so aufwendig inszeniert? Der Täter hätte sie als Unfall hinstellen können. Wahrscheinlich wäre dann niemand auf den Zusammenhang gekommen.“
Alle drei sahen sich ratlos an. Jenny ergriff das Wort.
„Lasst uns einfach weitermachen. Wir werden den beiden Apotheken jetzt einen Besuch abstatten. Und außerdem …“ Sie sah Frank an. „Kümmere dich bitte um einen Gerichtsbeschluss. Ich will, dass alle Medikamente, die in den Apotheken vorrätig sind, beschlagnahmt und überprüft werden. Die Krankenhäuser werden wir erst warnen, wenn sich der Verdacht bestätigt. Nicht auszudenken, was dort los sein wird, wenn Roth recht hatte …“
Als sie in Fechenheim vor den Glasfenstern der ersten Apotheke standen, fluchte Jenny laut. „Wegen Krankheit geschlossen? Soll das ein Witz sein?“
Sascha trat an die Scheibe, presste seine Nase dagegen und beschattete sein Gesicht mit den Händen. „Es dringt Licht aus dem hinteren Raum“, sagte er. „Jemand scheint also da zu sein.“
Jenny suchte nach einer Klingel, fand aber keine. Sie klopfte an die Glastür, wartete einen Moment und klopfte noch einmal.
„Hinten muss es noch einen Eingang geben.“ Ihre Kollegen folgten ihr um die Hausecke herum zu einer mit einer Alarmanlage gesicherten Tür. Jenny drückte den Klingelknopf, aber auch hier erfolgte keinerlei Reaktion. Sie drückte noch einmal und ließ diesmal den Finger mehrere Sekunden auf dem Knopf.
Als sie sich schon abwenden wollte, wurde die Tür geöffnet und das picklige Gesicht eines jungen Mannes spähte hinaus.
Jenny griff in die Tasche und schob ihm ihren Ausweis unter die Nase. Er wurde bleich und starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an. Statt sie herein zu lassen, riss er die Tür weiter auf, rannte los und rempelte Jenny so fest an, dass sie wenig elegant auf ihren Hintern fiel. Er sprintete an ihnen vorbei, Sascha direkt in die Arme.
„Nicht so schnell.“ Sascha legte ihm mit Franks Hilfe Handschellen an. Jenny hatte sich inzwischen aus ihrer würdelosen Lage befreit und klopfte sich die Hinterseite ab.
„Verdammt nochmal, was sollte das?“, herrschte sie den jungen Mann an.
Sein weißer Kittel bebte wie Espenlaub, so sehr zitterte er. „Ich …, ich …“
„Meine Güte, reißen Sie sich zusammen!“ Sie wandte sich angewidert ab, als er in Tränen ausbrach. „Setz ihn in den Wagen!“, wies sie Sascha an. „Vielleicht beruhigt er sich, und wir können noch etwas Vernünftiges aus ihm heraus bekommen.“
Sie wartete, bis Sascha wieder bei ihnen war, dann betraten sie zu dritt den Hinterraum der Apotheke.
Ein Flur schien sich über die gesamte Breite des Hauses zu erstrecken. Die Tür links musste zum Verkaufsraum führen. Jenny öffnete die gegenüber liegende Tür und stand vor einem hell erleuchteten Labor. Rechts an der Wand hing Schutzkleidung und vor ihr befand sich eine zweite Glastür, durch die man in das eigentliche Labor gelangte. Es war offensichtlich, dass hier gerade gearbeitet wurde. Unter einer Abzugshaube kochte etwas und überall standen offene Fläschchen herum. Anscheinend hatte der junge Mann, von dem Jenny bisher nicht einmal den Namen wusste, gerade etwas abgefüllt.
„Versuch, den Inhaber zu erreichen“, wies sie Frank an. „Er soll, wenn möglich, herkommen. Vielleicht kann er uns erklären, was hier vorgeht.“
Es dauerte einen Moment, bis Frank die Privatnummer des Inhabers herausgefunden hatte. Sie hörten zu, wie er ihm die Sachlage erklärte. „Er kann in zehn Minuten hier sein“, sagte er, nachdem er aufgelegt hatte.
„Gut“, antwortete Jenny. „Schau nach, ob sich der Junge jetzt soweit beruhigt hat, dass er uns wenigstens seinen Namen sagen kann und was er hier gemacht hat, dass er glaubt, abhauen zu müssen.“
Sascha nickte und holte den Festgenommenen, immer noch in Handschellen, aus dem Wagen.
Jenny trat auf ihn zu. „Wie heißen Sie?“ Dem Jungen lief die Nase und er hatte Schluckauf. Jenny seufzte. „Mach ihn los und gib ihm ein Taschentuch“, sagte sie leise zu Sascha, der schon in seinen Taschen kramte. Er öffnete die Handschellen, ließ sie jedoch am rechten Arm des Jungen und machte ihn an der Garderobe fest. „Hier“, sagte er und reichte ihm ein zerdrücktes Papiertaschentuch. „Und jetzt sag uns, wer …“ Auf einen Blick Jennys korrigierte er sich. „Und jetzt sagen Sie uns, wer Sie sind.“
Der Junge putzte sich geräuschvoll die Nase und stopfte das Taschentuch in die Hosentasche. Dann wischte er sich mit dem Handrücken die Augen. „Ich heiße Fritz Brettschneider und arbeite hier.“
„Und als was?“, hakte Jenny nach.
„Ich bin Auszubildender zum PKA.“ Er sah Jennys verständnislosen Blick. „Pharmazeutisch-Kaufmännischer Angestellter.“
„Kaufmännisch? Was machen Sie dann alleine im Labor. Und vor allem, warum laufen Sie von der Polizei weg?“ Sie sah interessiert, wie seine Gesichtsfarbe abwechselnd knallrot und blass wurde.
„Ich … ich …“, fing wieder das Stammeln an.
In diesem Moment öffnete sich die Außentür, und ein korpulenter Mann in Jeans und Polohemd kam herein. Er war sichtlich außer Atem.
„Guten Tag. Ich bin Heribert Klaasen. Was ist denn passiert?“ Sein Blick fiel auf den Jungen. „Fritz, was machst du denn hier? Wie bist du überhaupt hereingekommen?“
Jenny hielt dem Mann ihren Ausweis unter die Nase. „Sie wussten also nicht, dass er heute arbeitet?“
„Wieso arbeitet? Was soll er denn arbeiten? Die Apotheke ist zu. Was macht überhaupt die Polizei hier?“
„Ursprünglich wollten wir Sie zu der Herstellung von Chemotherapien befragen“, erklärte Jenny.
„Aber die Anfertigung ist eingestellt. Ich bin selbst … ich habe … egal. Ich werde aus gesundheitlichen Gründen die Apotheke schließen, beziehungsweise an einen Nachfolger übergeben.“
Er sah Jennys Blick. „Ich weiß, ich sehe kerngesund aus, aber das ist nur eine Phase. Sehr bald wird es mir schlechter gehen. Aber das tut nichts zur Sache und ich will jetzt wissen, was hier eigentlich vorgeht. Fritz?“
Der Junge antwortete nicht, sondern sah nur starr zu Boden.
„Lassen Sie mich in das Labor!“, forderte Klaasen und machte einen Schritt auf die Tür zu.
Sascha warf einen fragenden Blick zu Jenny und gab den Zugang frei.
Klaasen ging eilig hinein, hinter ihm drängten sich Jenny und Sascha in den Raum. Frank bewachte den jungen Fritz.
Der Apotheker blieb wie angewurzelt stehen und schnüffelte. Dann lief er zu einem der Tische, hob ein Fläschchen hoch und las das Etikett. „Du Volldepp!“, rief er lautstark und verfiel in breitesten hessischen Dialekt. „Wie kann mer nur so blöd sei. Jeder weiß doch, dass des ned geht!“
„Was denn?“, fragte Jenny und trat neben ihn.
„Es gibt seit einiger Zeit zugelassene Cannabis-Präparate zur Schmerzbekämpfung. Der Depp hat versucht, den Wirkstoff daraus zu extrahieren, um ihn in konzentrierter Form vorliegen zu haben. Sonst erzeugt er nämlich keinen Rausch. So ein Volldepp. Aber jetzt kann ich ihn endlich entlassen.“
Jenny seufzte. „Na gut. Wir nehmen ihn erst einmal mit, um die Personalien festzuhalten und seine Aussage aufzunehmen. Ich würde Sie ebenfalls bitten, heute oder morgen aufs Präsidium zu kommen. Er wird eine ordentliche Strafe mindestens wegen Einbruchs und Herstellung von Drogen bekommen.“
„Das schadet ihm nichts. So ein nichtsnutziger …“ Er hielt inne. „Aber was wollten Sie jetzt eigentlich von mir?“
„Es geht um einen Patienten, der vermutet, dass in seiner Chemotherapie nicht das war, was hätte drin sein sollen. Er …“
„Helmut Roth?“, fiel ihr Klaasen ins Wort.
„Richtig“, antwortete Jenny. „Er hat Sie also kontaktiert?“
„Kontaktiert ist nicht ganz das richtige Wort. Er kam hereingestürmt, hat ein Gespräch mit einem Pharmavertreter unterbrochen und mich beschuldigt, dass bei der Herstellung gepfuscht worden sei. Nein, warten Sie, das ist nicht korrekt. Er hat den Verdacht geäußert, wir hätten bewusst zu wenig Wirkstoffe beigemischt. Was natürlich Unsinn ist!“, beeilte er sich zu versichern.
„Wie sind Sie mit ihm verblieben?“
„Zum Glück konnte ich nachweisen, dass ich seinen Arzt zu der Zeit, wo er seine Therapie bekommen hat, gar nicht mehr beliefert habe. Auch das Sachsenhäuser Krankenhaus, in dem er ebenfalle behandelt wurde, habe ich schon seit zwei Jahren nicht mehr beliefert. Ich war damals gerade erkrankt und eine andere Apotheke hat die Produktion für uns übernommen. Ich habe danach nie mehr etwas von Roth gehört.“
„Und Sie sind der Sache nicht nachgegangen?“ Jenny hob fragend eine Augenbraue.
„Ich hätte das vielleicht tun sollen“, sagte Klaasen langsam. „Aber ich habe wirklich andere Sorgen. Außerdem habe ich die Vorwürfe nicht ernstgenommen, sondern angenommen, dass er verzweifelt war, weil ihm die Ärzte nicht mehr helfen konnten. Kommen Sie wegen Roth?“
Jenny ließ die Frage unbeantwortet. „Welche Apotheke hat Sie vertreten?“, fragte sie stattdessen gespannt.
An diesem Tag erledigten sie nichts mehr. Es war mittlerweile nach achtzehn Uhr und die Fahrt zurück nach Koblenz, wo Franks Wagen geparkt war, dauerte noch über eine Stunde. Schweigend fuhren sie die A3 entlang, die wie immer völlig überfüllt war.
„Dann müssen wir morgen früh wieder ins Rhein Main-Gebiet?“, fragte er irgendwann.
Jenny warf einen überraschten Seitenblick auf sein missmutiges Gesicht.
„Sieht so aus. Passt dir das nicht? Ich hätte gedacht, du brennst darauf, morgen früh die Apotheke zu besuchen. Immerhin ist der Apotheker jetzt unser Hauptverdächtiger. Wir können fast davon ausgehen, dass Roth ihn erpresst hat.“
„Ist doch eigentlich Sache der Frankfurter. Auch wenn Hirschhausen vielleicht vom selben Mörder umgebracht wurde.“
„Vielleicht? Ich würde sagen, davon können wir ausgehen, und damit ist es genauso unsere Sache.“
Sie wartete auf einen Kommentar, doch Frank sagte nichts mehr.
„Morgen kann Britta mitfahren. Sie freut sich sicher, rauszukommen.“ Sie fasste Franks Schweigen als Zustimmung auf. Mutete sie ihren Kollegen zu viel zu? Mit Logo und Sascha war es nie ein Problem gewesen. Sie waren mit Feuereifer bei jeder Ermittlung dabei, wohin sie sie auch führen würde. Jenny hatte angenommen, dass die Aussicht, einen Mordfall zu lösen, auch bei Frank und Britta Begeisterung hervorrufen würde.
Kurz vor Koblenz ergriff Frank noch einmal das Wort. „Klar wäre es klasse, den Mordfall aufzuklären. Es ist nur … Ich habe das Gefühl, du willst wieder nach Frankfurt zurück. Könntest du den Tausch mit Wolny eigentlich rückgängig machen?“
Jenny sah ihn entgeistert an. „Wie kommst du darauf? Ich will auf gar keinen Fall zurück. Die Gründe für meinen Weggang haben sich nicht geändert. Und so einen Tausch kann man auch nicht einfach rückgängig machen. Und überhaupt, würdest du dich nicht freuen, wieder mit Wolny zu arbeiten?“
Er zögerte. „Doch, schon. Aber ich arbeite wirklich gerne mit dir. Britta auch, auch wenn sie momentan nicht so gut drauf ist.“
„Dann ist ja alles gut. Denn für den Moment sieht es nicht so aus, als würdet ihr mich loswerden.“
An diesem Abend verbot sich Jenny jede weitere Beschäftigung mit dem Fall. Das Wetter war warm und sie erledigte einiges um das Haus herum. Nachdem sie bergeweise Unkraut gejätet und Treppenstufen von Moos befreit hatte, saß sie noch einige Zeit mit einem Glas Wein auf der Terrasse und ließ die Gedanken schweifen. Es war gut, dass in den letzten Tagen so viel zu tun gewesen war. Die Ermittlungen und der zweimalige Umzug hatten ihr keine Zeit gelassen, über den eigentlichen Grund ihres Weggangs aus Frankfurt nachzudenken. Doch jetzt, in diesem Moment der Ruhe, dachte sie an Biederkopf und fühlte plötzlich keine Wut mehr, sondern Einsamkeit, die sich wie ein erstickendes Kissen über sie senkte.
So schön es hier auch war, sie befand sich weit weg von ihren Freunden und ihren alten Kollegen, die für sie wie Freunde waren. In ihrer neuen Dienststelle fühlte sie sich noch nicht heimisch und so freundlich sie hier im Dorf auch empfangen worden war, so kannte sie doch noch niemanden näher. Natürlich brauchte sie nur den Telefonhörer abnehmen. Doch als sie auf die Uhr sah, war es schon fast zehn, keine Uhrzeit mehr, zu der ein Anruf üblicherweise willkommen war.
Seufzend stand sie auf und ging nach drinnen. Es war frisch geworden und ein kühler Wind wehte. Sie setzte sich an den Schreibtisch und tat, was sie immer tat, wenn sie sich schlecht fühlte. Sie ging die Unterlagen zum aktuellen Fall durch.