Jenny erlaubte dem Mann, seine Arbeit wieder aufzunehmen, ließ sich jedoch die Namen der Computertechniker geben. Sie standen noch einen Moment im Flur und sahen zu, wie er die Schleuse betrat und den Schutzanzug anlegte, bevor sie durch die Tür in den Verkaufsraum gingen, wo Jenny wie angewurzelt stehenblieb.
„Was zum …?“, murrte Logo, der in sie gelaufen war, hielt jedoch inne, als er den Grund sah.
Am Verkaufstresen stand Michael Biederkopf und sprach mit dem Verkäufer, der sie nach hinten gebracht hatte.
Jenny war wie im Schock und starrte ihn zunächst sprachlos an. Sie wollte sich gerade abwenden und zurück in den hinteren Bereich des Gebäudes flüchten, als er den Blick hob und sie ansah.
Seine Augen weiteten sich und flackerten hin und her, als würde auch er einen Fluchtweg suchen.
Jennys Blick erforschte sein Gesicht und wanderte an seinem Körper herab. „Was …?“, formte ihr Mund unhörbar.
In diesem Moment händigte der Verkäufer das Wechselgeld aus. Biederkopf nahm die Tüte, die auf dem Tresen lag, wandte sich um und verließ fluchtartig die Apotheke. Jenny stand eine Weile reglos da, setzte sich dann in Bewegung und lief hinter ihm her. Als sie aus der Tür trat, sah sie nur noch seinen Wagen wegfahren. Hilflos starrte sie hinterher.
Logo und Britta waren neben sie getreten. „Wer war das?“, wollte Britta wissen. Logo bedeutete ihr mit einem Kopfschütteln, zu schweigen.
Jenny drehte sich schwer atmend zu ihm um. „Hast du gesehen, wie er aussah? Was ist los mit ihm?“
Logo hob die Schultern. „Keine Ahnung. Sah irgendwie krank aus.“
Britta sagte leise. „Schwer krank.“
„Aber …“, begann Jenny hilflos. „Ich muss wissen, was mit ihm ist. Was mach ich jetzt bloß?“ Sie drehte sich um und lief zurück in den Laden. Die Verkäuferin, die den Staatsanwalt bedient hatte, schrak zurück, als Jenny ihr ihren Ausweis unter die Nase schob. „Der Kunde eben … Was hat er gekauft?“
„Ich weiß nicht …“, begann die junge Frau zögernd.
„Was?“
„Ein Mittel gegen Übelkeit“, gab sie nach.
Jenny dachte einen Moment nach. „Kennen Sie ihn? Haben Sie eine Kundenkartei, in der ich sehen kann, was er sonst gekauft hat?“
„Das darf ich wirklich nicht …“
„Ich kann mir auch einen Gerichtsbeschluss besorgen!“, bluffte Jenny, merkte jedoch sofort, dass sie zu weit gegangen war.
„Dann tun Sie das bitte“, war die ruhige Antwort. Die Verkäuferin wandte sich demonstrativ ab und begann, etwas ins Regal hinter ihr zu räumen.
Wortlos wandte Jenny sich ab und nickte Logo zu, der mit ihr zurück in den Laden gekommen war. „Komm!“
„Biederkopf scheint nicht unbedingt mit dir oder uns reden zu wollen“, bemerkte er überflüssigerweise, als sie draußen waren. Diesmal war es Britta, die ihm einen mahnenden Blick zuwarf.
„Vielleicht war er einfach überrascht, uns hier zu sehen“, sagte sie rasch. „Wer …?“
„Mein Ex-Freund“, sagte Jenny tonlos. „Lasst uns hier verschwinden.“
Sie entschlossen sich, die Fahrt gemeinsam in Logos Wagen fortzusetzen. Auf dem Rücksitz versuchte Britta telefonisch, aus den Technikern, die Rosenkranz’ Medikamentencomputer gewartet hatten, Informationen herauszubekommen. „Es besteht der Verdacht, dass die Anlage sabotiert wurde. Wir brauchen die Bestätigung. Entweder Sie stellen uns Ihre Ergebnisse freiwillig zur Verfügung oder wir beschlagnahmen sie.“ Sie lauschte einen Moment. „Ich komme gerne persönlich vorbei und weise mich aus. Gleich jetzt?“
Logo sah über die Schulter und hob den Daumen. „Gib’s Ihnen“, flüsterte er kaum hörbar. Mit einem Seitenblick zu Jenny meinte er. „Ganz schön energisch!“
Sie nickte. Kein Wort hatte sie von dem, was Britta gesagt hatte, mitbekommen. Ihre Gedanken kreisten vollständig um ihre Begegnung mit Michael Biederkopf. Was für ein unglaublicher Zufall, ihm ausgerechnet dort zu begegnen. Oder war der Zufall gar nicht so groß? Es gab nur wenige Apotheken im Rhein Main-Gebiet, die Chemotherapien herstellten. Und er hatte sehr, sehr krank ausgesehen. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Hatte er deshalb so überstürzt und scheinbar grundlos mit ihr Schluss gemacht? Aber warum? Wollte er sie nicht an seiner Seite, wenn er den Kampf gegen die Krankheit aufnahm? Waren Partner nicht dazu da, auch schwere Wege gemeinsam zu gehen? Sie wurde abrupt aus ihren Gedanken gerissen.
Logo tippte sie an. „Was?“, fragte sie unwirsch.
„Ich habe dich jetzt schon zweimal gefragt, ob wir zu dieser Computer-Firma fahren sollen, die die Probleme in der Apotheke behoben hat.“
„Jetzt? Haben die ihren Firmensitz in der Nähe?“
„In Langen“, sagte Britta vom Rücksitz. „Telefonisch wollten sie mir nichts sagen, aber sie werden uns persönlich Auskunft geben.“
Logo zwinkerte Britta über die Schulter zu. „Du hast ihnen ganz schön Feuer unter dem Hintern gemacht.“
Jenny versuchte, ihre Verwunderung zu verbergen. Britta? Die kaum den Mund aufbekam?
Die Wartungsfirma für medizinische Geräte hatte eine Zweigstelle in Langen in der Nähe des Paul Ehrlich-Instituts. Ein weißer Flachbau quetschte sich zwischen eine Autowaschanlage und einen Bauhof.
Sie traten durch die Eingangstür und standen in einem Büro, in dem zwei Schreibtische mit den Rückseiten zueinander positioniert waren. Links tippte eine sehr junge Frau ohne aufzusehen verbissen in ihren PC, rechts hielt ihre weißhaarige Kollegin in ihrer Arbeit inne und sah sie an. „Sie sind sicher die Herrschaften von der Polizei?“
Jenny stellte sich und ihre Kollegen vor. „Wir bräuchten Auskunft über eine Reparatur.“
Die Frau war langsam aufgestanden und zu ihnen getreten. „Ja, das haben Sie ja schon am Telefon gesagt. Kommen Sie.“
Durch eine Tür im Hintergrund führte sie sie in eine große Werkstatt, die allerdings sauberer war, als jede andere, die Jenny je gesehen hatte. Maschinen liefen, doch es war so leise, dass man sich noch problemlos unterhalten konnte.
„Adil?“, rief die Frau, deren Namen Jenny nicht wusste.
Ein junger, südländisch wirkender Mann sah von einem PC hoch und nickte. Er machte noch einige Eingaben und kam dann auf sie zu.
„Das ist Hasan Adil, unser Werkstattleiter.“
Erstaunt sah Jenny den jungen Mann an, der kaum älter als zwanzig zu sein schien.
„Er ist Anfang dreißig“, bemerkte die Frau mit einem schiefen Lächeln. Jenny fühlte sich ertappt und lächelte verlegen zurück.
„Sie sind nicht die erste, die ihn jünger einschätzt. Ich lasse Sie alleine. Kommen Sie einfach wieder durch die Tür, wenn Sie fertig sind.“
„Herr Adil“, begann Jenny, nachdem er vor sie getreten war und alle der Reihe nach begrüßt hatte. „Es geht um eine Reparatur, die Sie vor wenigen Tagen in der Apotheke Rosenkranz in Weiterstadt ausgeführt haben.“
Er nickte. „Ich erinnere mich. Ich war selbst dort. Was ist damit?“
„Waren Sie alleine vor Ort?“, fragte Jenny.
„Nein, mit einem Kollegen. Er hat heute frei.“ Er sah fragend von einem zum anderen, wobei sein Blick etwas länger auf der blonden Britta zu liegen schien.
„Was war denn mit den Geräten los?“
„Vermutlich ein Virus, das die Software infiltriert und dazu geführt hat, dass sich die Anlage, die die Medikamentenmischungen regelt, ausgeschaltet hat und nicht mehr neu zu starten war.“ Er sprach mit einer ruhigen Selbstsicherheit, um die Jenny ihn beneidete. In ihrem Kopf ging alles durcheinander und sie hatte Mühe, sich auf das Gespräch zu fokussieren.
„Passiert das oft?“, fragten sie und Logo genau zeitgleich.
Adil lächelte und Jenny registrierte, dass er extrem gut aussah. Er wandte sich jetzt Logo zu, wie um ihn ins Gespräch einzubeziehen. „Sehr selten und nur, wenn die üblichen Sicherheitsvorkehrungen eklatant vernachlässigt werden. Die Anlagen sollten gar nicht mit dem Internet vernetzt werden und wenn, muss unbedingt ein sehr guter Virenschutz installiert werden.“
„Und Sie konnten es richten?“, fragte Jenny.
„Leider nein. Wir konnten das System nur neu aufsetzen.“ Er sah ihren fragenden Blick. „Quasi den Computer neu starten. Die Daten waren alle verloren.“
„Kommt das häufig vor?“, fragte Jenny.
„Nie“, sagte Adil entschieden. „Zumindest habe ich es noch nicht erlebt.
„Und wieso war es hier der Fall? Ein technisches Problem?“, fragte Jenny.
Er schüttelte entschieden den Kopf. „Wenn Sie mich nach meiner Einschätzung fragen, wurde die Anlage absichtlich sabotiert. So nachlässig kann man gar nicht sein, dass man alle Sicherheitsvorkehrungen so vollständig außer Acht lässt. Warum allerdings jemand so etwas machen sollte …“
„Haben Sie mit jemandem darüber gesprochen? Mit Dr. Rosenkranz zum Beispiel? Er hat doch sicher gefragt, wo das Problem lag?“
„Erstaunlicherweise nicht“, gab Adil als Antwort. „Er schien gar nicht interessiert und wies mich nur an, alles schnellstmöglich in Ordnung zu bringen. Ich habe nach den Sicherungen gefragt und mich erboten, sie aufzuspielen, aber auch das wollte er nicht. Er würde sich selbst darum kümmern.“
„Es gibt keine Sicherungen“, warf Logo ein.
Adil wandte sich ihm zu. „Das ist nicht möglich. Das System sichert automatisch und die Datensicherung war von dem Crash nicht betroffen. Wenn es keine Sicherungen gibt, müssen sie gelöscht worden sein.“
Jenny sah ratlos zu ihren Kollegen. „Wir haben nur die Aussage des Mitarbeiters der Apotheke, dass keine Sicherungen vorliegen. Da fehlt mir jetzt das Fachwissen.“
Logo nickte, Britta jedoch räusperte sich. „Könnten Sie im Nachhinein kontrollieren, ob Sicherungen angefertigt wurden?“
„Nein“, sagte Adil bedauernd. „Dr. Rosenkranz hat den Wartungsvertrag gekündigt. Er gab uns die Schuld an dem Vorfall und sagte, er wolle eine andere Firma beauftragen.“
Jenny wechselte einen Blick mit Britta und Logo. „Wirklich interessant“, sagte sie langsam. „Ihr Kollege kann Ihre Angaben bestätigen?“
„Natürlich“, bestätigte Adil und hob eine Augenbraue. „Warum sollte ich mir so etwas ausdenken?“
Jenny wechselte noch einen Blick mit den Kollegen. „Darum ging es mir nicht“, sagte sie dann ernst. „Bitte kommen Sie morgen ins Frankfurter Polizeipräsidium und bringen Sie, wenn möglich, Ihren Kollegen mit. Kommissar Stein …“ Sie wies mit dem Kinn auf Logo. „… wird Ihre Aussage schriftlich aufnehmen.“
Logo nickte missmutig. Vermutlich würde eher Sascha oder womöglich Wolny die Aufgabe übernehmen, dachte Jenny. Aber das ging sie nichts mehr an.
Sie verabschiedeten sich und blieben an ihrem Wagen auf dem Parkplatz der Werkstatt stehen.
„Ich denke, wir können davon ausgehen, dass Rosenkranz die Sicherungen vernichtet hat, um zu vertuschen, was er mit den Medikamenten angestellt hat“, stellte Jenny fest.
„Vermutlich hat er sie verdünnt“, warf Britta ein. „Stellt euch die Gewinnspanne vor, wenn er aus einer Portion zwei macht.“
„Oder noch mehr“, ergänzte Logo. „Das stinkt zum Himmel. Rosenkranz hat sehr offensichtlich dafür gesorgt, dass wir seine Arbeit nicht mehr überprüfen können. Ich glaube, wir haben den Täter.“
„Den Täter?“, fragte Jenny abwesend. Dann riss sie sich zusammen. „Glaubst du, er hat nur die Medikamente gepantscht, oder hältst du ihn auch für den Mörder?“
„Beides“, sagte Logo entschieden. „Helmut Roth ist ihm auf die Schliche gekommen und wollte ihn erpressen. Bevor er umgebracht wurde, hat er die Dittler-Zifurth und Professor Hirschhausen informiert. Vermutlich haben sie ebenfalls Kontakt zu Rosenkranz aufgenommen, und er hat sie nicht nur umgebracht, um seine Pantschereien zu vertuschen, sondern auch, um nicht des Mordes an Helmut Roth verdächtigt zu werden.“
„Das klingt schlüssig“, antwortete Jenny nachdenklich, „aber ich kann ihn mir nicht als Mörder vorstellen, der Köpfe abtrennt und sie vertauscht.“
„Ich kann mir niemanden vorstellen, der so etwas macht!“, ließ sich Britta vernehmen.
Jenny war schon dem einen oder anderen fantasievollen Serienmörder näher gekommen, als ihr lieb war. Sie behielt diesen Gedanken jedoch für sich.
„Wir müssen Rosenkranz festnehmen und befragen. Zuerst müssen wir jedoch die Zuständigkeiten klären. Es ist offensichtlich, dass unsere Fälle zusammenhängen. Rosenkranz arbeitet in deinem Gebiet, Logo. Vermutlich wirst du dich bei der Staatsanwaltschaft um einen Haftbefehl kümmern müssen.“
„Ist gut“, brummte Logo mit wenig Begeisterung.
„Was ist? Kommst du mit …“ Sie stockte, bevor sie den Namen aussprach. „… seinem Nachfolger nicht klar?“
„Nachfolgerin“, korrigierte Logo missmutig. „Nicht besonders.“
Jenny seufzte unhörbar. So kompetent Logo war, die Schwierigkeit, sich auf andere Menschen einzustellen, würde ihn möglicherweise die Stelle des Dienstgruppenleiters kosten. Aber sie glaubte auch nicht, dass man ihm den jüngeren Sascha vor die Nase setzen würde. Doch was war die Alternative? Jemand von außen? Dass Wolny auch nur in Betracht gezogen würde, würde sie zu verhindern wissen.
„Wohin soll ich fahren?“, unterbrach Logo ihren Gedankengang.
Jenny sah auf die Uhr. „Setz uns bitte an meinem Wagen ab. Heute bringen wir doch nichts mehr zustande. Bis Britta und ich in Koblenz sind, ist es nach achtzehn Uhr.“
Die Rückfahrt verlief schweigend, bis Britta sich vernehmlich räusperte. Jenny, deren Gedanken um Biederkopf und ihr unvorhergesehenes Wiedersehen kreisten, schrak zusammen.
„Hast du lange mit Logo zusammen gearbeitet?“
Jenny warf einen Blick zur Seite und sah überrascht, dass die Wangen ihrer jungen Kollegin gerötet waren.
„Ja, schon. Mehr als fünfzehn Jahre.“
„Er ist … nett.“
Jenny mochte Logo ausgesprochen gerne, nett war jedoch nicht der Ausdruck, der ihr als erstes eingefallen wäre, um ihn zu beschreiben.
„Er ist in Ordnung“, sagte sie deshalb vorsichtig.
Sie fühlte, dass Britta gerne weiter gefragt hätte, sich aber nicht zu trauen schien.
„Logo scheint oft ein bisschen ruppig, hat aber ein großes Herz.“
„Das merkt man sofort!“, bestätigte Britta und bekräftigte die Aussage mit einem energischen Kopfnicken. „Man kann sich sicher auf ihn verlassen.“
Im Gegensatz zu Wolny, vervollständigte Jenny in Gedanken den Satz und seufzte. Sie verstand die merkwürdige Anziehungskraft, die da zwischen Britta und Logo zu herrschen schien, nicht. Beide hatten genug eigene Probleme und Sorgen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass etwas Gutes daraus entstehen konnte, wenn sich zwischen ihnen eine Art Beziehung entwickeln würde. Andererseits … erstens ging es sie nichts an und zweitens, wer wusste schon, was die Zukunft bringen würde.
Ihre Gedanken wanderten wieder zurück zu Michael Biederkopf. Ob es für sie noch eine gemeinsame Zukunft gab? Ihr wurde eiskalt. Ob es überhaupt noch eine Zukunft für ihn gab? Sie musste unbedingt mit ihm sprechen. Aber offensichtlich wollte er das nicht, war sogar vor ihr weggerannt, quasi geflüchtet. Wäre es anständiger, ihn in Ruhe zu lassen? Aber was, wenn … Sie drehte sich im Kreis. Sie würde verrückt werden, wenn sie ihn nicht zumindest fragen würde, herausfinden, was hinter dem allen und besonders hinter seinem Verhalten ihr gegenüber steckte.
Sie verabschiedete sich am Präsidium von Britta und setzte sich in ihren eigenen Wagen. Es kostete sie alle Kraft, nicht den Weg nach Bad Soden einzuschlagen, sondern die A61 Richtung Badenhard.
Sie sah weder nach links noch nach rechts, als sie die Stufen zur Haustür hinuntereilte, sie öffnete und im Inneren gleich ihre Tasche fallen ließ. Neben dem Telefon in der Diele blieb sie stehen, streckte die Hand aus, hielt jedoch inne. Nervös leckte sie sich über die Lippen. Sie atmete tief ein und aus, zwang sich, ihren Blick vom Telefon abzuwenden und in die Küche zu gehen. Mit zitternder Hand nahm sie ein Glas aus dem Hängeschrank und füllte es mit Wasser. Durstig trank sie es halb leer, betrachtete es einen Moment, ohne es wirklich wahrzunehmen, und ging zurück in die Diele.
Diesmal nahm sie den Telefonhörer, trug ihn an die Brust gepresst ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch.
Dann wählte sie.
Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als es läutete. Einmal, zweimal … Beim dritten Mal wurde abgehoben und sie hörte Biederkopfs tiefe Stimme. „Ja?“
Sie setzte zweimal zu sprechen an, doch es kam kein Ton.
„Hallo?“, sagte Biederkopf. „Wer ist da?“ Und dann: „Jenny?“
Sie atmete scharf ein. „Ja“, sagte sie endlich. „Ich bin es. Und ich möchte sofort wissen, was los ist.“
„Los?“, antwortete er kurz. „Nichts ist los. Ich weiß nicht, was du meinst.“
„Ich habe dich heute gesehen“, sagte sie und war froh, dass ihre Stimme einigermaßen fest klang. „Also erzähl mir nicht, dass nichts los ist. Du sahst grauenhaft aus.“
„Vielen Dank auch“, antwortete er. „Das hört man doch gerne.“
„Also, was ist mit dir?“, fragte Jenny. „Und erzähl mir keinen Mist. Das habe ich nicht verdient. Und wenn du dabei bist, mir die Wahrheit zu sagen, kannst du gleich damit weitermachen, mir zu erklären, warum du dich wirklich von mir getrennt hast.“
Es blieb kurze Zeit still. In Jenny regte sich Ärger, der ihr half, ihre Angst zu unterdrücken. Als sie Michael gerade anblaffen wollte, begann er mit leiser Stimme zu sprechen. „Ich bin krank … sehr krank. Ich wollte nicht, dass du das miterleben musst. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.“
„Ich hätte dazu einiges zu sagen“, setzte Jenny mit belegter Stimme an. „Aber meine Meinung zählt wohl nicht.“
Ihr Herz verkrampfte sich, als sie die Antwort hörte, die sie erwartet und mehr noch, befürchtet hatte.
„Nein.“ Ohne ein weiteres Wort beendete er das Gespräch.
Jenny starrte noch eine Zeit lang auf den Hörer, dann legte sie wie in Zeitlupe auf. Widerstreitende Gefühle ließen sie wie gelähmt sitzenbleiben. Nach einer Minute, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, siegte der Ärger über den Schmerz.
„Vollidiot!“ Sie sprang auf und lief hin und her. Was sollte sie bloß tun? Michael … todkrank. Allein das war so schrecklich, dass ihr Verstand es kaum fassen konnte. Aber dass er sie wegstieß, anstatt den Kampf gegen die Krankheit mit ihr gemeinsam aufzunehmen, schmerzte unerträglich. Wie sollte sie ihn überzeugen, sich von ihr helfen zu lassen? Und sei es nur, dass … Der Gedanke war zu schrecklich, um ihn fertig zu denken. Aber es war klar, dass er nicht davon ausging, jemals wieder gesund zu werden. Vielleicht musste sie ihm Zeit geben und dann noch einmal Kontakt aufnehmen. Zu ihm gehen. Ihn zwingen, ihr alles zu erzählen. Er würde sie wohl nicht aus dem Haus werfen. Oder doch? Sie seufzte. Sie würde verrückt werden, wenn sie weiter darüber nachdachte. Stattdessen suchte sie in einer Schublade nach einem Block und einem Kuli. Sie würde alle Eckpunkte und Fakten des aktuellen Falles aufschreiben. Auf dem Papier sah manches anders aus und die handschriftlichen Aufzeichnungen halfen ihr oft, Zusammenhänge neu zu sehen.
Lange hatten sie keinen derart merkwürdigen Fall auf dem Schreibtisch gehabt. Die Beziehungen der beteiligten Personen waren nebulös, und immer noch war kein konkretes Motiv, die Opfer auf so verrückte Weise zuzurichten, in Sicht.
Erst listete sie in den vier Ecken des Blattes die Opfer auf: Hirschhausen, Roth, Dittler-Zifurth, der Obdachlose, der noch immer nicht identifiziert werden konnte.
Dann zog sie da Linien, wo es Verbindungen gab. Die wenigsten führten zu dem Obdachlosen. Sie ging davon aus, dass er ein reines Zufallsopfer war, eine Art Ablenkungsmanöver. Trotzdem versah sie ihn mit einem Fragezeichen. Jeder der drei anderen hatte mit den jeweils anderen beiden in Verbindung gestanden. Immer war es um Chemotherapien gegangen. Doch niemand von ihnen hatte sie hergestellt. Hirschhausen hatte sie zwar angewandt, doch nur selten persönlich.
Sie setzte den Apotheker Rosenkranz in die Mitte. In Gedanken spielte sie ein mögliches Szenario durch.
Rosenkranz hatte Therapien verdünnt und sowohl an verschiedene Krankenhäuser als auch an Ärzte und Patienten direkt verkauft. Frau Dittler-Zifurth schöpfte Verdacht und informierte sowohl Roth als auch Hirschhausen. Roth erpresste Rosenkranz und wurde von diesem getötet. Um Mitwisser zu beseitigen, tötete Rosenkranz danach Hirschhausen und Dittler-Zifurth.
Sie sah einen Moment auf das Blatt, auf dem sich mittlerweile Linien wild kreuzten.
Im Prinzip wäre dieses Szenario so möglich, doch Jenny konnte sich den Apotheker nicht als perfiden Mörder vorstellen, der Köpfe vertauschte und zu diesem Zweck einen vermutlich unschuldigen Obdachlosen tötete. Andererseits erkannte man Psychopathen nur selten, wie Jenny zu gut wusste. Meist versteckten sie sich hinter der Fassade des Normalbürgers und hatten ihre Emotionen, wenn diese überhaupt vorhanden waren, auch bei Befragungen perfekt im Griff.
Ihr Telefon klingelte und sie schrak zusammen. Hatte er es sich anders überlegt? Sie meldete sich rasch und war enttäuscht, als eine andere Stimme ihr einen guten Abend wünschte.
„Dr. Wölter“, sagte sie und versuchte nicht einmal, freudige Überraschung vorzutäuschen. „Was kann ich für Sie tun?“
„Ich wollte nur hören, wie Ihre Ermittlungen verlaufen“, sagte er. „Und wie es Ihnen geht. So eine Mordermittlung geht Ihnen doch sicher an die Nieren. Oder gewöhnt man sich mit der Zeit daran?“
Das Letzte, das Jenny wollte, war, ihren Gemütszustand mit Wölter zu bereden. „Ich kann über laufende Ermittlungen nicht sprechen, und das wissen Sie sicher auch.“ Sie ließ ihre Stimme bewusst kühl klingen.
„Außerdem würde ich Sie gerne zum Abendessen ausführen“, sprach er unbeirrt weiter.
„Mir ist heute leider nicht nach Ausgehen. Ein andermal vielleicht.“
„Möglicherweise ist mir ja noch etwas eingefallen, was Ihnen helfen könnte.“ Er gab seiner Stimme einen flirtendem Unterton.
Jenny verdrehte genervt die Augen. „Dann heraus damit. Sie wollen bei etwas so Ernstem wie dem Tod Ihres Kollegen sicher keine Spiele spielen.“
Das nahm ihm anscheinend den Wind aus den Segeln. „Ich habe von einem Frankfurter Kollegen erfahren, dass Professor Hirschhausen sich mit ihm in Verbindung gesetzt und merkwürdige Fragen gestellt hat“, sagte er jetzt mit normaler Stimme.
Jenny zog Block und Stift heran. „Um welchen Kollegen handelt es sich?“
„Um Dr. Schmidt aus dem Sachsenhäuser Krankenhaus. Ich kann Ihnen seine Nummer geben.“
Jenny notierte die Nummer, bedankte sich und verabschiedete Wölter knapp.
Dann wählte sie die Frankfurter Telefonnummer. Schmidt nahm den Anruf sofort entgegen. Er schien zu kauen und im Hintergrund waren die Geräusche von klapperndem Geschirr zu hören.
„Moment, ich gehe kurz nach draußen“, sagte er, nachdem sie sich vorgestellt hatte.
Kurz darauf wurde es ruhiger. „Ja, Wölter hat mich angerufen. Wir sind Studienkollegen. Professor Hirschhausen hat vor etwa einer Woche nachgefragt, wie unsere Erfahrungen bei bestimmten Krebserkrankungen sind.“
„War das ungewöhnlich?“, fragte Jenny.
„Etwas schon. Ich meine, er ist eine Koryphäe auf dem Gebiet der Onkologie und hat überall, wenn sie den Ausdruck erlauben, die Finger drin, aber dass er mich persönlich anruft und so konkrete Fragen stellt, war schon ungewöhnlich.“
„Was hat er denn genau gefragt?“, wollte Jenny wissen.
„Welche Therapien wir einsetzen, wo sie hergestellt werden und wie die Erfolgsquote ist. Insbesondere wollte er wissen, ob sie schlechter geworden ist und ob vermehrt Nebenwirkungen aufgetreten sind.“
„Und? Wie war Ihre Antwort?“
Er zögerte. „Wissen Sie, das ist schlecht zu sagen. Ob eine Therapie gut oder schlecht oder im schlimmsten Fall gar nicht anschlägt, hängt von derartig vielen Faktoren ab, dass es immer wieder Schwankungen gibt. Momentan haben wir recht viele Fälle, die nicht darauf ansprechen, aber das wechselt oft monatlich.“
„Es gibt also keinerlei Anzeichen, dass etwas mit den Medikamenten nicht in Ordnung sein könnte?“, sagte Jenny vorsichtig.
Am anderen Ende der Leitung herrschte lange Stille. Jenny wollte schon nachhaken, als er endlich antwortete. „Wie kommen Sie auf so etwas?“ Seine Stimme war eisig. „Natürlich werden Medikamente vielfach überprüft. Es ist undenkbar, dass etwas mit ihnen nicht in Ordnung sein könnte.“
Denkst du, dachte sie. „Ich wollte es nur ausschließen“, beschwichtigte Jenny ihn. Sie stellte noch einige allgemeine Fragen und legte dann auf. Der Anruf hatte bestätigt, was sie bereits wussten. Hirschhausen hatte denselben Verdacht wie Roth und Dittler-Zifurth gehabt und war ihm offensichtlich nachgegangen. Wem war er dabei zu nahe gekommen? Rosenkranz, wie es momentan den Anschein hatte?
Sie gab in die Suchmaske ihres Browsers verschiedene Stichpunkte zum Thema ein, erhielt jedoch unzählige Suchergebnisse. Deshalb begrenzte sie die Suche, indem sie die Namen aller beteiligten Krankenhäuser hinzufügte.
Nachdem sie sich durch etliche Beiträge gearbeitet hatte, stieß sie auf einen, der sie überrascht innehalten ließ.