Als sie am nächsten Morgen das Büro betrat, brüteten Frank und Britta schon über dem Bericht des vorangegangenen Tages. „Alles deutet auf Rosenkranz hin“, stellte Britta fest. „Aber es reicht einfach noch nicht, um ihn festzunehmen.“
Jenny nickte nachdenklich. „Wir müssen irgendeinen Beweis finden. Wenn ich an die Opfer denke … Es wäre tragisch, wenn man im Nachhinein nicht mehr feststellen kann, welcher Kranke zu wenig Wirkstoff bekommen hat. Wir müssen die Krankenhäuser anweisen, alle Therapien, für die die Medikamente von Rosenkranz geliefert wurden, zu wiederholen. Falls das überhaupt geht.“ Ihr Blick wurde abwesend. Ob Michael auch … Sie musste ihn noch einmal anrufen. Und wenn er auflegte, würde sie zu ihm fahren und so lange an der Tür klingeln, bis er mit ihr redete. Nicht auszudenken, wenn er auch zu den Opfern zählen würde.
Schmidt musste ausgerufen werden, und Jenny wartete mehrere Minuten, bis er ans Telefon kam. Man hörte seiner Stimme an, dass er ärgerlich war, von seiner Arbeit weggeholt worden zu sein. Seine Antwort auf ihre Frage fiel dementsprechend knapp aus.
„Natürlich kann man Krebstherapien nicht einfach beliebig wiederholen. Patienten vertragen oft nicht einmal eine Anwendung.“
„Und wenn der Verdacht bestünde, dass die Medikamente nicht ausreichend dosiert gewesen wären?“
Er schwieg lange. „Wie sollte das … Bei einigen Präparaten könnte man es noch mehrere Wochen am Blutspiegel nachweisen. Besteht denn ein solcher Verdacht?“
„Ja“, sagte Jenny und setzte damit eine ganze Kette von Ereignissen in Gang. „Das könnte gut sein.“
„Ich werde sofort die Medikamente überprüfen lassen“, sagte er.
„Das wird nichts bringen. Wenn unser Verdacht richtig ist, sind die verdünnten Medikamente bis vor etwa zwei Wochen ausgeliefert worden. Soweit ich weiß, werden sie sofort verabreicht und es dürften keine mehr auf Lager sein.“
„Im Prinzip ist das richtig, Frau Kommissarin“, sagte Schmidt, „aber auf meiner Station sind zwei Patienten überraschend verstorben und ich weiß, dass ihre Medikamente noch auf der Station lagern, weil sie Standardmischungen enthalten und eventuell anderen Patienten verabreicht werden können.“
„Sorgen Sie dafür, dass niemand sie anfasst! Ich schicke sofort jemanden, um sie sicherzustellen.“
Sie rief Logo an, der sich umgehend darum kümmern wollte. Nachdem sie aufgelegt hatte, stieß sie die Faust in die Luft. „Jetzt haben wir ihn. Aus der Nummer kommt er nicht mehr raus! In wenigen Stunden müssten die Ergebnisse da sein.“
Während sie redete, signalisierte ein Ton das Eingehen eines Faxes. Frank holte es, warf einen Blick darauf und zog scharf die Luft ein. Er trat zu Jenny und reichte es ihr. „Wir haben ihn so und so. Sowohl auf der Leiche Hirschhausens als auch auf der aus dem Teich befand sich Rosenkranz’ DNA.“
Jenny sah ihn überrascht an. „Wirklich? Natürlich hat er ein Motiv, aber ich hätte ihm diese kranke Vorgehensweise nicht zugetraut.“
„Jemand, der Schwerkranken ihre Medikamente vorenthält, muss doch selbst krank im Kopf sein“, stellte Frank fest.
„Ja, schon“, sagte Jenny zweifelnd. „Ich rufe nochmal Logo an und lasse ihn festnehmen.“
Während sie etwas später an ihrem Schreibtisch einen Schluck Kaffee trank, sah sie durch ihre Bürotür, wie Britta, die gerade telefonierte, aufsprang und anfing, ihr hektische Zeichen zu geben.
„Rosenkranz ist tot!“, rief sie, sobald sie den Hörer hingelegt hatte.
„Was?“, fragte Jenny perplex und ging zu ihren Kollegen ins Büro.
„Suizid“, erklärte Britta etwas ruhiger. „Hat sich in seinem Labor erhängt. Wenn das kein Geständnis ist …“
„Aber warum?“, warf Frank mit blassem Gesicht ein. „Wir konnten ihm doch bis eben gar nichts nachweisen.“
„Er konnte sich denken, dass es nicht lange dauern würde, bis wir Beweise finden“, sagte Jenny nachdenklich. „Vor allem, wenn er so unvorsichtig war, DNA auf den Leichen zu hinterlassen.“
„Bestimmt hatte er Schuldgefühle“, sagte Britta.
„Eher Angst vor dem Gefängnis. War das Logo?“, wollte Jenny wissen und begann bereits, zu wählen.
Belustigt sah sie, dass ihre junge Kollegin errötete. „Ja, aber dein anderer Kollege ist am Tatort, also am Ort des Leichenfundes, meine ich.“
Jenny überlegte, ob sie schon wieder nach Frankfurt fahren sollte, sah aber keinen Grund, der das rechtfertigen würde. Es schien kein Hinweis auf ein Verbrechen vorzuliegen, und selbst dann hätte sie Sobottkis Okay gebraucht, um sich in die Ermittlungen dieses neuen Todesfalles einzuklinken. Außerdem wusste sie, dass Sascha den Todesfall kompetent untersuchen und sie auf dem Laufenden halten würde.
Widerwillig nahm sie deshalb erneut den Hörer auf und wählte Saschas Nummer.
„Hi Jenny“, meldete er sich. „Ich wollte dich gerade anrufen.“
„Handelt es sich wirklich um Selbstmord?“, fragte sie.
„Sieht zumindest so aus. Der Prof ist gerade weg. Nach der Obduktion wissen wir mehr.“
Jenny erzählte ihm von den DNA-Spuren.
„Das ist ja ein Ding“, meinte er. „Auf Roths Leiche waren keinerlei Spuren, aber die war auch in so schlechtem Zustand, dass sie vermutlich durch das Feuer vernichtet worden sind. Oder er war da vorsichtiger.“
„Ganz erschließt sich mir noch nicht, wie er es gemacht hat. Ich meine, Rosenkranz war nicht gerade athletisch gebaut. Vielleicht hat er die Opfer betäubt. Ist die Toxikologie von Roth schon fertig?“
„Morgen“, antwortete Sascha. „Im Labor geht die Grippewelle um. Als Apotheker hatte er ja zu allem Zugang.“
„Das ist wohl wahr“, bestätigte Jenny. Sie erzählte ihm noch von den Medikamenten, die gerade im Sachsenhäuser Krankenhaus untersucht wurden, dann legte sie auf. Kurz darauf kam das Ergebnis der Untersuchungen der zwei nicht eingesetzten Chemotherapien. Beide enthielten nur etwa ein Drittel der Wirkstoffmenge, die angegeben war.
„Jetzt hätten wir ihm den Betrug nachweisen können. Ich frage mich, welche Straftatbestände hier eigentlich vorliegen. Körperverletzung? Fahrlässige Tötung?“
„Für mich ist das vorsätzlicher Mord“, sagte Britta. „Er wusste doch, dass die Therapie für viele Patienten über Leben und Tod entscheiden würde.“
„Und niemand kann ihn jetzt noch zur Verantwortung ziehen“, sagte Jenny frustriert. Sie instruierte ihre Kollegen, machte einen Abstecher zu Sobottki und informierte ihn über den Stand der Ermittlungen. Nachdem er ihr zur Überführung des Täters gratuliert hatte, überraschte sie ihn mit der Bitte um einen freien Nachmittag.
„Nun, auch wenn ich angenommen hätte, dass Sie mit Hochdruck am Zusammentragen von Beweisen gegen Rosenkranz arbeiten würden, steht Ihnen natürlich nach der hervorragenden Arbeit, die Sie und Ihr Team geleistet haben, ein freier Nachmittag zu.“ Neugierig sah er sie an, doch sie schwieg, dankte ihm freundlich und verabschiedete sich.
Eine dreiviertel Stunde später bog sie in die Bad Sodener Seitenstraße, in der Michael Biederkopfs Haus stand.
Sie wusste, dass sie, wenn sie nur eine Sekunde zögern würde, abdrehen und zurückfahren würde. So parkte sie direkt vor der Garage und stieg aus, bevor der Motor noch richtig zur Ruhe gekommen war. Ohne Umstände marschierte sie direkt zur Eingangstür und klingelte. Das Haus schien seltsam unbewohnt, der Blumenkübel neben der Tür war leer und zwischen den Platten kamen Unkrautsprösslinge hervor.
Einen Moment erfasste sie Angst, Michael könnte nicht da sein. Vielleicht hatte er ins Krankenhaus gemusst oder … Doch da öffnete sich die Tür, und er stand vor ihr. Seine Miene war verschlossen und es war für sie nicht zu erkennen, ob er überrascht war oder ihr Erscheinen erwartet hatte.
Bevor sie etwas sagen konnte, öffnete er den Mund. „Geh bitte“, sagte er tonlos.
Sie zuckte zusammen. Ein Teil von ihr wollte sich abwenden und diesen Mann, der sie so offensichtlich nicht an seiner Seite haben wollte, hinter sich lassen. Der Teil von ihr jedoch, der normalerweise siegte, hob trotzig den Kopf.
„Ich werde nicht gehen, bevor du mit mir geredet hast!“ Sie funkelte ihn herausfordernd an.
In der langen Stille, die darauf folgte, musterte sie sein Gesicht. Es war eingefallen und grau. Alle Lebensfreude war daraus verschwunden.
Endlich öffnete er wortlos die Tür ein Stück, wandte sich ab und ging voran. Im Wohnzimmer blieb er stehen, drehte sich zu ihr um und sah sie scheinbar emotionslos an. „Also?“
Jenny, die ihm gefolgt war, musste jetzt plötzlich nach Worten suchen, obwohl sie sie schon unzählige Male in den letzten Stunden formuliert hatte.
Sie sah nach links und schluckte. Kurz verspürte sie den Impuls, einfach zu ihm zu gehen und sich in seine Arme zu werfen, aber sein eisiger Ausdruck hielt sie davon ab.
Statt der vielen emotionalen Erklärungen, die sie geplant hatte, fragte sie ebenso kühl. „Ich vermute, du hast Krebs? In welchem Krankenhaus hast du deine Chemotherapie bekommen?“
Biederkopf schien überrascht angesichts ihrer Frage. „Äh … was?“
„Sagst du es mir?“, hakte sie nach.
„Im Höchster Krankenhaus.“
Sie atmete auf. „Wir bearbeiten einen Fall, in dem es um gepantschte Medikamente geht. Es scheint, als ob die meisten der in den letzten Monaten verabreichten Medikamente stark verdünnt gewesen wären. Sie konnten nicht wirken. Du musst dich sofort im Krankenhaus melden und fragen, ob die Therapie noch einmal wiederholt werden kann.“
Er starrte sie verständnislos an. „Was sagst du da? Bist du deshalb hier?“
Sie hob die Schultern. „Du weißt, warum ich hier bin. Aber das ist wichtig. Vielleicht verbessert es deine Heilungschancen.“ Sie hörte, wie belegt ihre Stimme klang, fuhr aber trotzdem fort. „Und vielleicht lässt du mich dann wieder in dein Leben. Ich habe doch richtig verstanden, dass du mich nur wegen deiner Krankheit weggeschickt hast? Oder gab es andere Gründe? War sonst irgendetwas zwischen uns nicht in Ordnung? Ich weiß, manches war schwierig …“ Ihre Stimme brach. Zu ihrem Entsetzen merkte sie, wie ihr Tränen in die Augen stiegen.
Die Zeit schien stillzustehen. Biederkopf war sichtlich überfordert mit der Situation, und sie … sie versuchte krampfhaft, ihre Fassung wieder zu erlangen. Ihr kam es wie Stunden vor, aber wahrscheinlich waren nur Sekunden vergangen, als ein Ruck durch Biederkopf ging. Langsam setzte er einen Fuß nach vorne, dann den anderen, bis er direkt vor ihr stand. Mit einem tiefen Seufzen, das seinen ganzen Körper erschaudern ließ, öffnete er die Arme und zog sie an sich.
„Alles war in Ordnung“, sagte er mit zittriger Stimme. „Mein Gott, ich hatte so lange gekämpft, mit dir zusammen sein zu können. Und dann kam die Diagnose. Zuerst war die Prognose gut, aber nach der ersten Behandlung … Ich wollte dich beschützen, dir nicht noch mehr Leid zufügen. Du hast weiß Gott schon deinen Teil davon abbekommen. Aber du Sturkopf lässt dich ja nicht beschützen.“ Jetzt waren seine Augen ebenfalls feucht. „Ich habe dich so vermisst. Bitte bleib bei mir. Ich brauche dich.“
Das waren die Worte, die Jenny hatte hören wollen … hören müssen. Sie presste sich an ihn. „Ich bin da. Immer.“
Einige Minuten später saßen sie eng umschlungen auf der Couch, und Jenny erzählte ihm detailliert von ihren Ermittlungen. Irgendwann rückte Biederkopf ein Stückchen von ihr ab. „Ich bin derartig wütend. Wenn du wüsstest, wie viel Leid ich in den letzten Wochen mitbekommen habe. Und dieser Typ ist schuld daran! Wenn er noch leben würde …“
„Der Feigling hat sich davon gemacht und ich kann nur hoffen, dass sich im Nachhinein klären lässt, wer nicht richtig therapiert worden ist. Vielleicht kann man einigen noch helfen.“ Sie schwiegen einen Moment.
„Weißt du, ich könnte mich operieren lassen“, sagte er dann. „Die Chemotherapie zuvor sollte die Grundlage schaffen, das hat aber nicht geklappt. Ich habe einen zweiten Versuch abgelehnt. Aber wenn jetzt … Ich wage gar nicht, mir Hoffnung zu machen.“
„Wir werden kämpfen“, erklärte Jenny entschieden. „Du wirst wieder gesund werden!“
Er lachte, zog sie an sich und küsste sie. „Weißt du, was ich jetzt gerne würde?“ Er knabberte an ihrem Hals.
Sie zog ihn ein Stück weg. „Erst, wenn du wieder gesund bist.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Dann hast du gleich noch mehr Motivation!“
„Schläfst du trotzdem heute hier?“ Sein Blick war hoffnungsvoll.