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Tasha
M ittlerweile sind vier Tage vergangen, seitdem ich Timo an meinen geheimen Ort geschleppt und ihn zum Reden gebracht habe. Drei Tage, seit wir gemeinsam frühstücken waren und er mir von seinem Hobby erzählt hat.
In drei – beziehungsweise vier – Tagen kann man eine Menge tun. Man kann sich zum Beispiel mehr als vierzig Videos ansehen, die über einen Zeitraum von mehreren Jahren hochgeladen wurden. Videos, in denen ich vornehmlich drei Jungs dabei beobachte, wie sie wilde Kapriolen durch unsere Stadt schlagen. Meist auf dem Gelände der Uni – nicht, dass ich mich dort auskennen würde, aber der Schriftzug taucht oft im Hintergrund auf –, aber auch überall sonst. Im Zentrum, im Industriegebiet. Am Flusslauf. In den Vororten, am Rathaus. Einmal sogar in relativer Nähe des verlassenen Fabrikgeländes.
Im Prinzip wiederholen sich die Inhalte ständig. Sie springen über Geländer, vermeintlich in die Tiefe. Schock, Schock für die Zuschauer. Ein Auge fürs Drama hat Timo auf jeden Fall, zumindest an seinen Schnitten gemessen. Sie hüpfen über Kanten, Mauern, Absätze, Absperrungen, Pylonen. Nutzen Mauern oder Bäume, um an ihnen Saltos zu vollbringen. Springen über Abgründe – und in den neueren Videos sogar direkt hinab. Zumindest der eine Typ, der bis zum Hals tätowiert ist und diese wilde, ungezähmte Aura ausstrahlt.
Das Arschloch, wie ich ihn taufe, denn er scheint maßgeblich an der Laune meines neuen, halbunbekannten, irgendwie mysteriösen Freundes Schuld zu sein.
Und dann gibt es noch eine Handvoll Videos, in denen besagter Freund ebenfalls auftaucht. Sie sind anders, unruhiger, viel mehr in Bewegung. Die Aufnahmen wackeln deutlich heftiger, weshalb mir vom Zusehen schlecht wird, aber dafür sehe ich ihn . Und, um ehrlich zu sein, er ist es schließlich, der mich interessiert. Auch wenn die anderen Jungs sicherlich eine Augenweide sind, kenne ich sie nicht, habe nicht gerade das Bedürfnis, etwas daran zu ändern.
Ich bin schwer beeindruckt davon, wie flink und gleichzeitig kraftvoll Timo sich mit den anderen bewegt. Nie im Leben würde man vermuten, dass er normalerweise der Nerd hinter der Kamera ist. Verdammt, es ist eine Schande, dass er nicht häufiger mitmachen kann. Ich persönlich würde seinen knackigen Hintern gerne regelmäßiger durchs Bild laufen sehen.
Seufzend schließe ich das aktuelle Video auf meinem Laptop, starre noch ein paar Sekunden auf den Desktophintergrund und klappe ihn schließlich zu.
Drei Tage ist es her, dass ich ihm meine Handynummer gegeben habe, und bis heute habe ich nichts von ihm gehört. Nicht, dass ich damit gerechnet hätte, dass er mich sofort zutextet. Er ist nichts weiter als ein Kerl mit gebrochenem Herzen, der sich bei mir hat ablenken lassen. Ohne Verpflichtungen. Ohne Abmachungen.
Und doch ... muss ich häufig an ihn denken.
Weil er mir so leidtut, rede ich mir ein. Weil ich hoffe, dass er sich nicht unterkriegen lässt von dieser Helena und seinem Kumpel, der sich über seine Gefühle hinweg gesetzt hat. Und nicht, weil ich das verrückte Gefühl habe, zwischen uns wäre irgendeine Art von Verbindung.
Dummerweise wecken die Gedanken an ihn andere, tiefer vergrabene. Timo ist einer von den guten Jungs, und genau deshalb habe ich jeden Grund, bei ihm vorsichtig zu sein. Die guten Jungs sind es nämlich, die einen richtig tief in die Scheiße reiten können. Die guten Jungs sind es, die einen in Sicherheit wiegen, nur um einem dann den Boden unter den Füßen hinweg zu reißen. Erst geben sie dir das Gefühl, ihre Königin zu sein. Und dann? Bist du nichts weiter als der wertlose Müll vom Vortag, langweilig und uninteressant.
So wie bei Paul ...
Ehe ich mich noch tiefer in diesen Gedankenstrudel hinabreißen lasse, klingelt mein Handy. Der unerwartete Klang lässt mich zusammenzucken, und ich werde von einem blöden Gefühl der Hysterie erfüllt. Ein Teil von mir erwartet bereits, dass sich endlich Timo meldet. Dass er irgendwie gespürt hat, was mir durch den Kopf gegangen ist, doch auf dem Display sehe ich das Foto meiner Mom, das ich an meinem letzten Tag aufgenommen habe, ehe ich mit all meinen Sachen quer durch Deutschland gefahren bin, um mein altes Leben hinter mir zu lassen.
Ich zögere nur wenige Sekunden, ehe ich den Anruf entgegennehme.
»Hey.«
»Hallo Schätzchen.« Wie üblich klingt ihre Stimme leicht erstickt. Auch jetzt, zwei Jahre später, kann sie meinen Entschluss, alles zurückzulassen, noch nicht gut verkraften. »Wie geht es dir?«
Ich klemme das Handy zwischen Kopf und Schulter ein, greife meine halbvolle Kaffeetasse und mein Buch und schlendere dann in mein Schlafzimmer, von wo aus ich den winzigen Balkon betreten kann. »Ganz gut soweit, und dir? Ich habe heute frei und genieße einen faulen Tag.«
Sie gibt ein kleines Geräusch von sich, das beinahe traurig klingt. Dann räuspert sie sich laut. »Wann hast du denn das nächste Mal ein paar Tage am Stück frei? Vielleicht könntest du mich mal wieder besuchen kommen -«
»Mom!«
» - oder ich komme zu dir?«
Ich stutze. Das ist neu. Nicht, dass sie nicht bereits hier gewesen wäre - aber bisher hat sie immer versucht, mich nach Hause zu locken. Vermutlich, damit ich von Heimweh erfasst werde und beschließe, doch wieder zurückzukommen. Vielleicht aber auch nur, weil die Fahrt für sie eine Zumutung ist. Auto ist sie noch nie gerne gefahren; Zug macht sie nervös. »Du möchtest mich besuchen kommen?«
Sie schnalzt mit der Zunge. »Wieso nicht, Natasha? Du klingst so ungläubig.« Ihre Stimme wird sanft. »Ich vermisse dich. Das letzte Mal ist fünf Monate her. Ich möchte nicht bis Weihnachten warten, ehe wir uns wiedersehen.«
Meine Kehle wird eng. Es ist nicht so, dass ich meine Mutter nicht liebe. Deshalb habe ich mein altes Leben ganz sicher nicht hinter mir gelassen. Mein Blick wandert in die Ferne, über Dächer hinweg und einen kleinen Park, ungefähr in jene Himmelsrichtung, aus der ich ursprünglich stamme.
»Ich müsste ja nicht bei dir unterkommen. Ich weiß doch, wie klein deine Wohnung ist. Ich dachte eher an eine hübsche Pension oder ein Hotel in deiner Nähe. Wir könnten gemeinsam zu Abend essen, Filme schauen oder quatschen.« Ihre Stimme hat nun einen so hoffnungsvollen und gleichzeitig sehnsüchtigen Klang angenommen, dass ich gar keine andere Wahl habe, als nachzugeben.
»Okay. Gerne. Ich bekomme nächste Woche meinen neuen Dienstplan für den kommenden Monat. Sobald ich den habe und weiß, welches Wochenende frei ist, sage ich dir Bescheid. Was hältst du davon?«
Eine Weile herrscht Schweigen. Ich bin unsicher, was es zu bedeuten hat, halte instinktiv die Luft an. Als ich höre, wie meine Mutter leise schnieft, bin ich regelrecht entsetzt. Mich überkommt eine heftige Welle des schlechten Gewissens ihr gegenüber. Ich hatte meine Gründe abzuhauen, und ich ziehe sie nicht in Zweifel, allerdings ist es auch nicht leicht, zu spüren zu bekommen, wie sehr ich andere Menschen damit verletzt habe.
Erst recht, wenn es wirklich keinen ernsthaften Grund dafür gibt, wieso genau wir uns vor fünf Monaten das letzte Mal gesehen haben. Dass meine Mutter bereit ist, zu mir zu fahren, spricht Bände.
»Gerne«, sagt sie schließlich. »Ich habe Zeit. Für dich habe ich immer Zeit, Schätzchen. Ich kann es kaum erwarten.«
Jepp. Mein schlechtes Gewissen explodiert. Aber ein kleiner Teil von mir beginnt schon jetzt, sich auf den Besuch zu freuen.
Immerhin etwas.
Auch wenn es kleinlich ist, kann ich nicht verhindern, langsam ärgerlich zu werden, als ich auch am Freitag noch nichts von Timo gehört habe. Er war kein einziges Mal im Restaurant, weder alleine noch mit neuem Date, und er hat sich nicht bei mir gemeldet. Nicht, dass er das muss. Nicht, dass ich eine gewisse Erwartung damit verknüpft habe, als ich ihn an jenem Abend aus dem Restaurant gerettet habe. Wenn Oswald mich nicht darum gebeten hätte, wäre ich gegangen, ohne darüber nachzudenken, was aus ihm wird. Aber ich hatte wirklich den Eindruck, dass wir uns zumindest nicht unsympathisch waren, und ich hatte Timo als einen netten Kerl eingestuft.
Und ein netter Kerl würde sich doch nochmal melden, oder? Zumindest mit einem weiteren »Dankeschön« oder so?
Außer natürlich, die ganze Sache ist ihm peinlich – was nicht vollkommen unrealistisch wäre.
An dieser Stelle war ich schon. Mehrfach. Meine Gedanken drehen sich im Kreis, und ich kann nichts dagegen tun. Ziemlich frustrierend.
Ich verbringe eine weitere Schicht in der Trattoria , während der ich immer wieder nach einem bestimmten Braunschopf Ausschau halte, serviere Pasta und Pizza, Bruschetta und Knoblauchbrot, Salate und Desserts, und ignoriere Oswalds Frage, ob ich mit dem »Suffkopf« eigentlich noch Kontakt hätte. Das hat er mich bei jeder einzelnen, gemeinsamen Schicht gefragt.
Und jedes Mal bin ich einfach nicht darauf eingegangen.
Immerhin sind heute einige sehr spendable Gäste da. Mein Trinkgeld summiert sich und lenkt mich von der ominösen schlechten Laune ab, die mich im Griff hat, obwohl ich keinen richtigen Grund dafür habe – und die mich alleine deshalb schon tierisch nervt.
Die Zeit verfliegt einigermaßen.
Gegen acht Uhr übernehme ich einen Tisch, an dem sich ein junges Pärchen niedergelassen hat – oder eines, das ein solches werden will. Ich sehe eine Menge heimlicher Blicke, Tuscheleien und gerötete Wangen, und komme nicht umhin, sie um die Leichtigkeit des Kennenlernens zu beneiden. Gleichzeitig komme ich mir bei ihrem Anblick sehr, sehr alt vor.
Ich nehme ihre Bestellung auf und bringe ihnen ihre Getränke, ohne sie wirklich aus ihrer Turtelei zu reißen. Anschließend kümmere ich mich um eine Familie und einen älteren Herrn, der bereits seit über einem Jahr jeden Freitagabend alleine her kommt, um seine Linguine al Salmone mit einem Glas Weißwein zu genießen, all das erfüllt mit dem bittersüßen Gefühl, das von dem jungen Pärchen in mir ausgelöst wurde.
Als ich ihnen schließlich ihr Essen bringe – eine Salamipizza für ihn, einen Salat für sie – halte ich kurz vor ihrem Tisch erschrocken inne. Beinahe gleitet mir die Pizza zu Boden, während ich zu verarbeiten versuche, wie mich ihr neues Gesprächsthema aus dem Gleichgewicht gebracht hat.
Es geht um JumpSquad.
Zum Glück haben sie meine Entgleisung nicht bemerkt; ich atme einmal tief durch, ehe ich mich erneut in Bewegung setze und serviere.
»Das Training heute war wieder echt spitze. Wir gehen doch gleich noch ins Freudenhaus, oder?«
Es ist das Mädchen, das vor Aufregung auf ihrem Stuhl hin und her rutscht. Eine niedliche Röte hat ihre Wangen überzogen, und sie schenkt mir ein dankbares Lächeln, als ich den Salat vor ihrer Nase platziere.
»Klar, was auch immer du willst«, brummt der Kerl zur Erwiderung. Ob er wirklich Lust hat? Oder ist er gar irritiert von ihrem Enthusiasmus? Möglich wäre es. Ich an seiner Stelle würde mir Gedanken machen, wenn mein Date so offenkundig strahlen würde, wenn es um andere Jungs geht. Aber ich habe ja keine Ahnung.
Auf jeden Fall ist es ziemlich befremdlich zuzuhören, wie die beiden die Gruppe wie Helden verehren. Bei dem Gedanken, dass einer dieser Helden letzte Woche ziemlich betrunken auf meinem Cordsofa gesessen und Trübsal geblasen hat, möchte ich beinahe schmunzeln.
Aber nur beinahe.
Timos Schmerz ist mir dafür noch viel zu sehr in Erinnerung geblieben – und alles andere als lustig.
Auch der Junge beweist Höflichkeit, indem er sich bei mir bedankt, ehe er sich wieder ganz auf das Mädchen konzentriert. Ich habe keinen Grund, länger an ihrem Tisch zu verweilen. Widerwillig drehe ich mich um, nicht ohne noch mitzubekommen, wie sie aufseufzt und beginnt, davon zu schwärmen, wie ein gewisser Daniel einen bestimmten Stunt gemacht hat.
Mein Blick schweift über die Tische, für die ich zuständig bin, aber niemand scheint mich aktuell zu brauchen, und neue Kundschaft ist auch nicht aufgetaucht. Kein Grund also, mich weiter im Gastraum aufzuhalten.
Kurz darauf bin ich in der Küche, seltsam aufgewühlt.
Ich beschließe, eine Pause zu machen, eile in den Mitarbeiterraum und sinke dort auf die Couch.
Sie sind also im Freudenhaus. Das ist eine kleine, verrückte Kneipe unweit des Restaurants. Ich hätte sie eher als subkulturell eingeschätzt, definitiv kein Ort, den ich einfach so aufsuchen würde. Merkwürdigerweise passt er jedoch zu der Truppe, wenn ich mir dieses Urteil erlauben darf.
Der Gedanke, dass Timo dort mit seinen Freunden abhängt, wühlt mich auf, dabei kann ich nicht einmal sagen wieso.
Wir haben eine Nacht miteinander verbracht, wenn auch in getrennten Räumen und ohne jegliche Anziehungskraft. Wir haben miteinander geredet, mehr nicht, waren am nächsten Morgen noch zusammen frühstücken. Timo hat darauf bestanden, mich einzuladen – und hat sich seitdem nicht mehr gemeldet, obwohl ich ihm meine Nummer gegeben habe. Vermutlich war das seine Art, mit mir abzuschließen, seine Schuld zu begleichen. Ich war nicht mehr als ein Mittel zum Zweck an jenem Abend; jemand, von dem er danach nichts mehr wissen wollte, weil ich ihn immer an seinen Fehltritt erinnern würde. Ein sauberer Schnitt. Immerhin habe ich ihm meine Nummer regelrecht aufgedrängt, nicht er hat darum gebeten.
Und wer weiß – vielleicht hat ja auch nichts gestimmt von dem, was er mir erzählt hat. Von wegen Liebeskummer und so weiter. Vielleicht ist er gar nicht so ein guter Kerl, hat nur nach einen Grund gesucht, der ihn nicht wie einen sinnlosen Säufer dastehen ließ -
Nein. So etwas – die Traurigkeit, die ihn bereits nüchtern begleitet hat – kann niemand spielen. Sie war echt.
Und es ist wahrscheinlich nicht viel mehr als mein Ego, das sich verletzt fühlt, weil er so offensichtlich kein Interesse an mir zeigt.
Wütend über mich selbst ziehe ich mein Handy aus der Tasche, checke es nach eingegangenen Nachrichten (»Hey, wir sind im Freudenhaus, willst du vielleicht rumkommen?«, zum Beispiel), aber als mich gähnende Leere erwartet, pfeffere ich es zurück und beschließe, an die Arbeit zurückzukehren.
Es hat nicht den geringsten Zweck, weiter hier zu versauern und mich in meine Irritation hineinzusteigern. Ich muss diesen Kerl abhaken. Muss aufhören, auf JumpSquad zu reagieren, sobald irgendjemand sie erwähnt. Vorher habe ich doch auch nie etwas von ihnen gehört. Und gibt es nicht den geringsten Grund dafür, Erwartungen zu hegen und zu nähren.
Wo nichts ist, muss auch nichts entstehen – und fertig.