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er kennt sie nicht, diese gruseligen Zufälle des Lebens, die einen für einen kurzen Moment schockiert zurücklassen?
Wie zum Beispiel der Umstand, dass dein verdammtes Telefon klingelt und genau die Person anruft, an die du gerade gedacht hast. Okay. Vielleicht wäre der Zufall größer, wenn man bedeutend seltener an die besagte Person denken würde ... aber trotzdem.
Mein Herz hüpft mir in die Kehle, als ausgerechnet Timos Name auf dem Display meines Handys auftaucht und damit effektiv das Spiel unterbricht, mit dem ich mir gerade die Zeit vertrieben habe – um mich haargenau von diesem Kerl abzulenken.
Mission gescheitert, schätze ich.
Mein Finger schwebt über dem grünen Hörer. Soll ich den Anruf wirklich entgegennehmen, oder soll ich es lieber bleiben lassen? Den gesamten Tag habe ich gebraucht, um meine Gedanken zu ordnen und mich wieder in die Spur zu bringen. Die Angst, dass mich ein Gespräch mit Timo – möge es auch noch so kurz sein – wieder auf Null setzt, ist nicht unberechtigt. Andererseits hätte ich nichts dagegen, seine ruhige Stimme zu hören. Und wer weiß schon, was er von mir möchte?
Seufzend nehme ich den Anruf entgegen.
»Hallo Tasha.«
Bilde ich es mir nur ein, oder klingt er seltsam erleichtert? »Hey Timo. Alles klar?«
Ein Schnauben ertönt am anderen Ende der Leitung, doch mehr erstmal nicht. Ich erschaudere. Obwohl es sich merklich abgekühlt hat, habe ich mich vorhin mit meinem Abendessen und einem großen Glas Weißwein auf den Balkon gesetzt. Plötzlich quietschende Reifen lenken meine Aufmerksamkeit auf die Straße.
»Wo steckst du?« Dieses Mal klingt Timo alles andere als erleichtert, sondern eher total angespannt.
Ich beschließe, ihn ein wenig auf den Arm zu nehmen. »Ich brauchte noch ein bisschen frische Luft, also -«
»Ich bin in zwei Minuten unterwegs, Tasha -«
»Nein.« Ich lache auf. So weit will ich es dann doch nicht auf die Spitze treiben. »Ich sitze doch nur auf dem Balkon. Meine Güte, entspann dich!«
»Oh.« Timo gibt ein kehliges Geräusch von sich. »Entschuldige, ich dachte nur ... ach, keine Ahnung.«
Mein Herz zieht sich zusammen. Seine offenkundige Sorge um mich sollte mich erdrücken, aber eigentlich ... fühlt es sich irgendwie gut an. So schräg das auch ist. Freunde, rufe ich mir in Erinnerung. Wir sind Freunde. Das ist nicht unüblich. »Ich habe deine Worte ernst genommen«, erkläre ich ihm sanft. »Du musst dir keine Gedanken machen. Heute gibt es nur Kerzenschein auf meinem eigenen Balkon.« Ich pausiere. »Und ein Glas Wein.«
»Wie war dein Tag?«
Stirnrunzelnd richte ich meinen Blick in die Ferne. Irgendwo dort draußen befindet er sich. Wie er wohl wohnt? Wo genau? Er und die Jungs haben ein Haus gemietet, so viel ist mir klar. Aber ist er eher der Chaot? Minimalist? Das plötzliche Bedürfnis, mir sein Zimmer anzusehen, ist überraschend – und überwältigend. »Rufst du wirklich an, weil du Smalltalk führen willst?« Meine Stimme klingt viel defensiver als geplant, aber ich spüre, wie die merkwürdigen Empfindungen, die er in mir auslöst, meine Mauern hochfahren lassen.
»Nein, eigentlich nicht.« Er lacht unsicher. »Allerdings würde mich trotzdem interessieren, wie dein Tag war. Wie es dir geht. So etwas will man doch wissen, wenn man ... befreundet ist. Nicht wahr?«
Seine Worte schneiden wie Stahl durch meine Brust. »Ganz okay. Ich hatte heute frei und habe es ruhig angehen lassen. Und deiner?«
Gott, fühlt sich das schräg an.
»Auch ganz okay.« Er zögert merklich. »Wir haben beschlossen, am Wochenende ins Kino zu gehen, und die anderen, ähm. Also wir dachten, es wäre schön, wenn du mitkommst.«
Augenblicklich spüre ich ein Ziehen in der Brust. »So, so«, bringe ich rau hervor. »Ihr dachtet das also. In welchen Film soll es denn gehen?«
»Hast du von dem neuen Horrorfilm gehört, der anläuft? Diese Dämonengeschichte?«
Ich pruste los. »Sorry, aber irgendwie habe ich euch nicht so eingeschätzt. Ich hätte mehr mit einer Komödie oder einem Actionstreifen gerechnet.«
»Heißt das ja oder nein?«
»Wann genau wollt ihr denn gehen?« In Gedanken rufe ich meinen Dienstplan auf. Ich muss Samstag in der Mittagsschicht arbeiten und Sonntagabend, also vielleicht ...
»Samstag. Der Film läuft um neun. Ich könnte dich um kurz nach acht abholen, dann hätten wir noch genug Zeit, um uns mit Popcorn zu versorgen, oder was auch immer du brauchst, um im Kino glücklich zu sein.«
Ich suche nach den passenden Worten, unsicher, ob ich ihn nun aufziehen oder mich freuen soll. Offenbar deutet er mein Schweigen falsch, denn noch ehe ich die Chance bekomme, mich für eine Reaktion zu entscheiden, redet er weiter.
»Ich meine, wenn du nicht auf Horror stehst, kann ich das verstehen. Ich hätte vermutet, dass es dein Ding ist, aber du musst natürlich nicht mitkommen.«
»Was?« Ich lache so laut los, dass ich mir mit der freien Hand vor den Mund schlage. Muss ja nicht sein, dass ich meine Nachbarn wecke oder eine Anzeige wegen Ruhestörung kassiere. »Wieso zur Hölle hast du geglaubt, ich könnte auf Horror stehen?« Timo beginnt herumzudrucksen, und in diesem Moment glaube ich, nie etwas Niedlicheres gehört zu haben.
»Keine Ahnung, du scheinst mir nicht wie ein Liebesromanfan zu sein. Aber vielleicht irre ich mich ja auch. Sorry, ich wollte nicht -«
»Ich komme mit.« Lächelnd schließe ich die Augen. Meine Hand sinkt hinab zu meiner Brust, wo sie als Faust liegen bleibt. »Acht Uhr passt gut. Ich muss bis sechs arbeiten.«
»Du kommst mit?«
»Das habe ich gerade gesagt, ja.«
Ein tiefes Seufzen dringt durch den Hörer. »Das freut mich sehr. Uns. Die Mädels sind froh über Verstärkung.«
»Ja, klar. Die Mädels.« Ich schüttle sachte den Kopf. »Timo?«
»Ja?«
»Dir ist klar, dass du mich einladen wirst, oder?«
Er lacht leise auf. »Das ist doch Ehrensache.«
»Gut. Ich freue mich schon.«
Den Rest der Woche telefonieren wir ein paar Mal in den Abendstunden. Ich habe die heimliche Vermutung, dass Timo kontrollieren will, wo ich mich aufhalte, konfrontiere ihn aber nicht mit meinem Verdacht. Er meint es gut. Und mit jedem Telefonat, mit jeder Nachricht, die er mir schickt, schaffe ich es, mehr Abstand zu unserem merkwürdigen Gespräch am Sonntag zu kriegen. Im Laufe der Tage legt sich das komische, knotige Gefühl in meinem Magen, und ich schaffe es, die Dinge so zu betrachten, wie sie sind:
Realistisch.
Timo ist ein netter Kerl, mit dem man ganz gut Zeit verbringen kann. Er gehört definitiv nicht zu der Art von Mann, zu der ich mich hingezogen fühlen sollte, und er steckt selber noch mitten in seinen komplizierten Gefühlen für eine andere Frau fest. Dass er und ich Freunde sind – nicht mehr und auch nicht weniger – ist alles, was ich wissen muss. Das, was ich für ihn tue, ist nichts anderes als ein Freundschaftsdienst. Ich helfe ihm, sich von Helena zu lösen, den Konflikt in der Gruppe zu entschärfen und nicht länger der einzige Single zu sein. Zumindest vorerst. Solange ich es schaffe, das Spiel von der Realität zu trennen, ist alles in bester Ordnung.
Und je länger ich ihn nicht gesehen habe, desto leichter fällt es mir auch, daran zu glauben, dass ich es schaffe.
Dank unserer Telefonate weiß ich, dass die Jungs einen Dreh hatten. Ich kann es kaum erwarten, mir das neue Video anzusehen, doch als ich Timo frage, wann das soweit sein wird, lacht er nur. Offenbar unterschätze ich die Arbeit, die das Schneiden und Basteln solcher Clips macht, ein bisschen. Er vertröstet mich auf die kommende Woche, und ich habe das Gefühl, als wenn er irgendetwas erhofft, irgendeine Nachfrage meinerseits, aber ich will mich nicht noch weiter blamieren, also lasse ich das Thema fallen.
Und so schreitet die Woche voran.
Als ich am Freitagmorgen meine Augen aufschlage, bin ich erfüllt von einem Entschluss, der mich wie aus dem Nichts überfällt.
Es ist Freitag. Das heißt, heute Abend findet das offene Training statt. Und ich habe heute frei. Wenn das kein Zeichen ist, dass ich mir die Jungs mal in Action ansehen soll, dann weiß ich es auch nicht. So lächerlich ich am Anfang den Gedanken fand, dass sie sich selbst so via Youtube und bei öffentlichen Sessions darstellen – ich bin beeindruckt. Und außerdem ... kann ich auf dem Weg heute auch Timo sehen, der sonst in den Videos schändlich untergeht.
Voller Energie werfe ich meine Decke zurück und springe aus dem Bett, um mir eine ausgiebige Dusche zu gönnen. Während eine Haarkur einwirkt, lasse ich den harten Strahl auf meine Schultern prasseln und stöhne leise auf. Gedankenverloren fahre ich mit meinen Fingern über das kleine Tattoo, das sich direkt auf meinem rechten Hüftbein befindet. Es ist in mancherlei Augen vielleicht ein bisschen lächerlich, aber mir bedeutet es viel: Ein kleiner Kolibri, der aufgeregt flattert, von sämtlichen Fesseln befreit, die ihn zurückgehalten haben. Ich habe es mir stechen lassen, kurz nachdem ich hierhergekommen bin, und ich bereue es kein Stück. Noch niemand hat es zu sehen bekommen; niemand abgesehen von mir und dem Tätowierer.
Der Gedanke erfüllt mich seltsamerweise mit einer kribbelnden Aufregung. Nicht, dass ich in naher Zukunft etwas daran ändern will. Ich bin wirklich ziemlich schräg drauf.
Irgendwie zieht sich diese Stimmung durch den gesamten Tag. Ich nutze die seltsame Energie, um meine Wohnung auf Vordermann zu bringen. Jeder andere, normale Mensch hätte das schöne Wetter wahrscheinlich genutzt, um rauszugehen, vielleicht eine Runde zu shoppen oder in irgendeinem Park abzuhängen. Ich jedoch beschließe, dass es mal wieder Zeit wird für eine ausgiebige Putzorgie, und meinen Kleiderschrank kann ich auch ausmisten. Meine Dusche vom Morgen wird hinfällig, ich puste schweißfeuchte Strähnen aus meinem Gesicht und schmiere mir Staub auf die Wangen, aber am frühen Nachmittag bin ich erschöpft und zufrieden, und die rastlose Energie in mir ebbt ab.
Nun habe ich doch etwas von den spätsommerlichen Temperaturen: Ich mache mir einen großen Becher Kaffee, schnappe mir mein aktuelles Buch und verschwinde auf dem Balkon, um mir eine kleine Auszeit zu gönnen. Nachmittags scheint die Sonne voll auf diese Seite des Hauses, weshalb ich meine Sonnenbrille auf die Nase schiebe.
Dann versinke ich in der düsteren Stimmung meines Thrillers.
Um kurz vor sieben erreiche ich das weitläufige Unigelände, also beinahe pünktlich. Nun ist die Aufregung natürlich wieder da, und ich streiche unsicher über das Kleid, das ich mir spontan übergeworfen habe. Es fällt fließend bis zu meinen Knien, dunkelblau mit einem großflächigen, floralen Druck, der den Rosaton meiner Haare trifft. Als ich mich zuhause dafür entschieden habe, kam es mir sowohl feminin als auch bequem vor. Mittlerweile bin ich mir nicht mehr so sicher, ob es angemessen ist, auch wenn ich es mit meinen Birkenstocks sicher nicht allzu schick wirken lasse – immerhin bin ich nicht unterwegs zu einem Date, sondern zu einer Sportvorführung, sozusagen. Vielleicht wäre eine Jogginghose passender gewesen.
Nun, jetzt ist es zu spät.
Unschlüssig bleibe ich am Rand des Parkplatzes stehen und lasse meinen Blick schweifen. Ich habe nicht den geringsten Schimmer, wo ich hinlaufen soll, doch dann vernehme ich ein Geräusch, und danach ist es leicht, den Ort des Geschehens zu finden: Ein permanentes Summen von unterschiedlichen Stimmen lenkt meinen Weg.
Neugierig folge ich einem schmalen Weg, der mich zwischen zwei sehr hohen Gebäuden entlang führt. Durch die verglasten Wände zu meiner linken kann ich abertausende von Büchern entdecken, die sich in hohen Stahlregalen aufreihen. Ich hatte nie das Bedürfnis, zu studieren, doch als ich diese Unmengen an Wissen auf einem Haufen sehe, hätte ich nichts dagegen, mal in Ruhe dort stöbern zu können.
Mit jedem Schritt wird der Lärm deutlicher. Als ich zwischen den Gebäuden hervortrete, erreiche ich den oberen Rand einer Steintreppe. Vor mir öffnet sich ein großer Platz, der zum großen Teil asphaltiert ist, doch im Hintergrund sehe ich auch ein paar Grünflächen. Eine riesige, relativ abstrakte Figur dominiert das hintere Drittel der Fläche; daneben hat sich eine ziemlich große Menschentraube in einem unförmigen Kreis gebildet. Durch meine erhöhte Position habe ich einen ziemlich guten Überblick, und direkt auf den allerersten Blick mache ich bekannte Gesichter aus. Helena, Fee und Nathalie stehen direkt bei der Statue. Sie scheinen sich über irgendetwas extrem Lustiges zu unterhalten, denn Helena schmeißt den Kopf in ihren Nacken und lacht herzhaft, und auch die anderen beiden wirken belustigt, wenn auch deutlich zurückhaltender.
Der Anblick erzeugt einen sehnsüchtigen Stich in meiner Brustgegend, den ich verwirrt zur Kenntnis nehme.
Für einen kleinen Moment zögere ich. Keine Ahnung wieso, aber irgendwie habe ich das schräge Gefühl, eine weitreichende Entscheidung zu treffen, wenn ich jetzt dort runter gehe. All die Menschen. Die Mädels. JumpSquad. Das dort unten ist eine andere Welt. Eine, mit der ich bisher keine Berührungspunkte hatte, und ich bin unsicher, ob ich das wirklich ändern will. Bin ich schon dazu bereit, einen neuen Lebensabschnitt einzuläuten? Sind zwei Jahre genug, um mich neu zu finden und daran zu arbeiten, meine neue Existenz aufzubauen? Will ich jetzt wirklich so viele Menschen in mein Leben lassen – egal ob nur kurz oder vielleicht sogar langfristig – und damit die Chance erhöhen, wieder verletzt zu werden?
Während ich beobachte, wie Fee, Nathalie und Helena miteinander lachen, wird das Ziehen in meiner Brust stärker, und ich fälle eine Entscheidung.
Ich will. Ich bin die Einsamkeit leid. Außerdem glaube ich, dass diese Gruppe ... wirklich nett sein könnte. Selbst wenn ich Helena und Maik gegenüber Vorbehalte hege, sind diese Menschen mir sympathisch, und sie haben mich mit offenen Armen aufgenommen. Ich darf nicht näher darüber nachdenken, dass es nicht von Dauer sein kann, da ich mich ihnen mithilfe einer Lüge vorgestellt habe, und diese nicht fortbestehen wird. Aber so lange, wie wir dieses Spiel spielen, werde ich versuchen, die Zeit zu genießen.
Erfüllt mit bittersüßen Gefühlen will ich mich gerade in Bewegung setzen, als Helena ihren Kopf genau in meine Richtung dreht.
Unsere Blicke treffen sich.
Sofort weiten sich ihre Augen, und sie reißt beide Arme in die Höhe, um mir wie wild zuzuwinken. Den anderen beiden bleibt ihre Reaktion natürlich nicht verborgen. Sie folgen ihrem Blick, und als sie mich dort oben am anderen Ende der Treppe entdecken, beginnen auch sie zu winken und zu lächeln.
Gut, dass ich bereits beschlossen habe, es durchzuziehen, denn spätestens jetzt hätten sie mir wahrscheinlich keine andere Wahl gelassen.
Langsam erwidere ich ihren Gruß und setze mich in Bewegung. Helena beginnt, sich einen Weg durch die Menge in meine Richtung zu bahnen. Was ist? Glaubt sie, ich würde wieder verschwinden – oder mich ans andere Ende des Platzes stellen?
Ich verkneife mir ein Grinsen, das der Aufregung entspringt, die sich nun wieder schlagartig in mir ausbreitet, und steige die Stufen hinab.
Am Fuß der Treppe treffen wir uns.
»Tasha! Das ist aber eine schöne Überraschung!« Helena fällt mir praktisch um den Hals, und ich lege zögerlich meine Arme um ihren Rücken, überwältigt von ihrer herzlichen Begrüßung.
»Äh, hi.«
Sie schiebt sich weit genug von mir, um mir in die Augen blicken zu können. Helena ist ein gutes Stück kleiner als ich, aber ich glaube, ich habe noch nie einen Menschen kennengelernt, der mehr Energie ausstrahlt als sie. In diesem Moment fühlt es sich so an, als würde sie mich mit all dieser Kraft einhüllen und mich damit anstecken. Als würde auch ich direkt ein Stück wachsen. »Timo hat gar nicht gesagt, dass du auch kommen willst.«
»Timo hat ja auch keine Ahnung«, gebe ich trocken zurück.
Ein langsames, äußerst durchtriebenes Grinsen umspielt ihre Mundwinkel. »Nein. Also das ist ja mal eine coole Sache. Er wird Augen machen.« Begeistert hakt sie sich bei mir ein und beginnt, mich in Richtung der Menschenmenge zu ziehen. »Dann komm, es dürfte jeden Moment losgehen. Mal sehen, wann Timo dich entdeckt.«
Ich versuche, ihre Begeisterung zu teilen, aber mich überkommt eine Unsicherheit, die mich gleichzeitig mit Aufregung und Nervosität erfüllt. Was, wenn Timo nicht so begeistert ist, wie Helena sich erhofft? Würden wir dadurch unser Spiel riskieren?
Will er mich überhaupt hier sehen?
Ich schiebe die Gedanken eilig beiseite und versuche, mich ganz auf den Moment zu konzentrieren. Auf die Aufregung, die in mir schlummert, und die Spannung. Ja, verdammt, ich freue mich darauf, JumpSquad live zu sehen. Insbesondere Timo. Man könnte sagen, im Laufe der vergangenen zwei Wochen bin ich ebenfalls zu einem kleinen Fan geworden. Vielleicht auch zu einem mittelgroßen. Ihre Videos sind schon ziemlich cool.
»Tasha! Wie schön! Wenn wir gewusst hätten, dass du kommst ...«
Fee begrüßt mich ebenfalls mit einer Umarmung, wenn auch weitaus vorsichtiger und kürzer als Helena, und Nathalie folgt ihrem Beispiel. Ein fruchtig-süßer Hauch umhüllt mich, als die hochgewachsene Blondine mich drückt. Unwillkürlich muss ich daran denken, was Timo mir über Fee erzählt hat, und das Prickeln und Ziehen in meiner Brust wird stärker. Verflucht. Ich will sie nicht wie ein Opfer ansehen. Ich will sie nicht dadurch definieren, was ihr geschehen ist. Außerdem schätze ich, dass sie nicht sonderlich erfreut darüber wäre, wenn sie wüsste, dass ich bereits in Kenntnis gesetzt wurde. Also schüttle ich den Kopf, um die Gedanken loszuwerden, schenke Fee ein besonders breites Lächeln und räuspere mich. »Das war eine, na ja, spontane Entscheidung. Hi, Leute. Ganz schön viel los.«
Fee nickt voller Stolz. »Jepp. In den vergangenen Monaten ist die Menge stetig gewachsen. Ich weiß noch, als wir hier mit weniger als der Hälfte der Leute gestanden haben.«
»Lang, lang ist’s her«, grinst Helena. Dann stößt sie Nathalie den Ellenbogen in die Seite. »Du kannst da ja nicht mitreden, das war noch vor deiner Zeit.«
Nathalie verdreht ihre Augen, ein Hauch von Röte überzieht ihre Wangen. »Ich bin froh, dass du jetzt da bist, Tasha. Du löst meine Position als Neuling der JumpGirls ab. Du glaubst gar nicht, wie viele dumme Sprüche ich mir schon anhören musste.«
»JumpGirls?« Ich blicke sie mit hochgezogener Augenbraue an.
Nathalie stöhnt. »Frag nicht. Der Begriff kam letztens im Netz auf. Die weiblichen Fans sind nicht immer so glücklich darüber, dass die Jungs vergeben sind. Mal sehen, wann sie anfangen, über dich herzuziehen.«
»Was?« Ich starrte sie mit offenem Mund an. »Du machst Scherze, oder?«
»Leider nein.« Fees sanfte Stimme lenkt meine Aufmerksamkeit auf sie. Ihre Miene wirkt leidgeplagt. »Ich musste mir ziemlich viele Beleidigungen anhören. Daniel war wochenlang damit beschäftigt, Konten zu blockieren.«
Mir fällt nichts ein, was ich darauf erwidern könnte. Das klingt nach Hollywood und Film, aber doch nicht nach einer mittelmäßig bekannten, lokalen Sportgruppe, oder?
»Oh, bei dir bleibt es wenigstens anonym im Netz. Ich darf mir manche Sprüche live anhören.« Helena verdreht übertrieben die Augen, aber selbst ich kann erkennen, dass sie dieser Umstand nicht kalt lässt.
»Wie jetzt?«, hake ich erschrocken nach. »Du wirst offen blöd angemacht?«
Helenas Mundwinkel verziehen sich zu einem Lächeln, das irgendwie gequält wirkt. »Jepp. Selbst schuld, wenn man sich den heftigsten Womanizer der Gruppe aussucht. Wann immer ich einen gefüllten Raum betrete, in dem auch Maik ist, kann ich davon ausgehen, dass er mindestens eine Handvoll der Weiber bereits gevögelt hat. Er war ... kein Kind von Traurigkeit.«
»Mit Timo ist das alles aber etwas anders«, wirft Fee eilig ein. »Er ist der Ruhigste aus der Gruppe, hat nie großartig rumgevögelt, und ...« Ihre Stimme verläuft.
Ein schweres Gefühl breitet sich in meiner Brust aus. »Und er ist nicht so anziehend wie die anderen, willst du sagen?«
Ihre Augen werden groß. »So hätte ich das jetzt nicht formuliert -«
»Aber du meinst es.« Ich versuche, mich nicht von ihren Worten beeinflussen zu lassen. Sie sagt nur, was sie wahrgenommen hat, und gerade bei ihr nehme ich an, dass sie es wertfrei meint. Trotzdem: Zuzuhören, wie ein so netter Kerl wie Timo derart abgewertet wird, tut weh. Wahrscheinlich hätte es bei jedem anderen Menschen auch mein Bedürfnis geweckt, ihn in den Schutz zu nehmen, denn das hier, das ist bodenlos und ungerecht. Ich atme tief durch. »Nun ja, ist doch gut. So konnte ich mir Timo krallen, ohne dass sich mir jemand in den Weg gestellt hat. Die anderen Frauen spielen jetzt sowieso keine Rolle mehr.«
Ehe irgendjemand etwas erwidern kann, beginnt die Menge um uns herum zu johlen. Ich wende mich dem offenen Platz zu, nicht ohne Helenas Blick aufzufangen, der unverhohlen interessiert ist, und dann bleibt mein Herz für einen winzigen Moment stehen.
Dort sind sie.
Nacheinander betreten sie den Platz; in einer schrägen Linie, die eher lässig als absichtlich wirkt. Allen voran marschiert Daniel. Er hat seine wuschelige Mähne unter der schwarzen Wollmütze versteckt, die ich in all den Videos bereits gesehen habe. Offenbar sein unabkömmliches Markenzeichen. Jo hat seine Haare wie üblich zu einem festen Zopf zusammengebunden. Selbst auf die Distanz erkenne ich das lebensbejahende Funkeln in seinen Augen. Neben Timo ist er mir bisher mit Abstand am sympathischsten. Nach Jo kommt Maik. Jede Zelle seines Körpers strahlt seine »Fuck off«-Haltung aus, aber ich kann trotzdem nicht verhindern, dass ich seine rohe Attraktivität anerkenne. All die dunklen Linien, die seine freie Haut zieren, machen aus ihm ein Kunstwerk, das ich zu gerne studieren würde. Kein Wunder, dass er reihenweise Frauen flachlegen konnte. Er verkörpert dieses klischeehafte Bad-Boy-Image so sehr, dass ich ihn eigentlich lächerlich finden müsste. Aber merkwürdigerweise ... passt es. Und es ist wohl das größte Klischee der Geschichte, dass sich die kleine hübsche Brünette eher für den Arsch entscheidet, als für den Nerd ... der als letztes den Platz betritt und mein Herz hüpfen lässt.
Während Maik den Ghettoblaster auf den Boden stellt und an den Knöpfen herumfummelt – im Ernst, wer nutzt heutzutage noch so ein Ding? – konzentriere ich mich voll und ganz auf Timo. Er hat längst nicht so eine heftige Ausstrahlung wie Maik, eigentlich auch nicht wie die anderen, und trotzdem kann ich meinen Blick nicht von ihm lösen. Er hat sich einen Dreitagebart wachsen lassen, der seine weichen Gesichtszüge irgendwie kantiger wirken lässt, rauer. Seine Miene ist beinahe ausdruckslos, aber seine Augen wirken total lebendig, und ich bin mir absolut sicher, dass er gerade genau das tut, was er liebt. Mein Herz beginnt, völlig durchzudrehen, während ich beobachte, wie er seine Arme über den Kopf hinweg streckt und sich dabei sein dunkelblaues Muskelshirt weit genug hebt, um einen Streifen heller Haut von seinem Bauch zu entblößen. Das erste Mal sehe ich etwas mehr von seinem Oberkörper, und all meine Vermutungen werden bestätigt. Er ist durchtrainiert. Auf sehr schlanke, sehnige Art und Weise, aber top in Form.
Sexy.
Wer zur Hölle kann diesen Kerl einfach so in die Friendzone schieben? Friendzone ist für mich der Inbegriff von Waschlappen. Das da – das ist kein Waschlappen. Definitiv nicht.
Ich unterdrücke ein leises Stöhnen.
Die Mädels neben mir flippen plötzlich aus. Sie kreischen und jubeln, Helena steckt ihre Zeigefinger in den Mund und gibt ein schrilles Pfeifen von sich. Sofort richtet sich die Aufmerksamkeit der Jungs auf sie – und zwar die von allen. Maik schaut selbstzufrieden rüber, Daniel lächelt, Jo wirft sogar einen Handkuss in Nathalies Richtung ... und Timo erstarrt.
Jepp, er erstarrt.
Unsere Blicke treffen sich. Alles um mich herum verliert an Bedeutung, der Geräuschpegel verblasst, als würde jemand den Lautstärkeregler verstellen, während ich in seinen Augen nach irgendeinem Hinweis darauf suche, was er von meinem Erscheinen hält. Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit vergeht, wie lange ich darauf warte, eine Regung zu entdecken, die ich deuten kann. Ich fühle mich, als würde meine Brust aufreißen, und gleichzeitig überkommt mich ein ganz und gar unbekanntes Gefühl von Schüchternheit.
Dann beginnt er zu lächeln. Zuerst erkenne ich an seinen Augen, dass er sich freut. Sie erstrahlen, hüllen mich sofort in ein angenehmes Gefühl von Wärme. Als nächstes wandern seine Mundwinkel in die Höhe, immer weiter, bis er auf mich nicht nur glücklich, sondern total aufgekratzt wirkt. Er winkt mir zu, beinahe verhalten, aber es reicht, um mich endgültig in Euphorie zu versetzen.
Helena legt ihren Arm um meine Taille und zieht mich an sich. »Siehst du? Er ist außer sich.«
Ich lächle ihr zu. »Schwer zu übersehen.«
Ohne Zweifel: Es war verdammt nochmal die richtige Entscheidung, herzukommen.
Die nächste Stunde vergeht wie im Rausch. Als die Jungs alle begrüßt haben, erfüllt eine laute, rhythmische Musik den Platz. Sie nicken einander zu und springen schließlich im exakt selben Moment los, jeder in eine andere Richtung, und dann ... mir fehlen die Worte, es zu beschreiben. Es ist wie ein Tanz.
Obwohl es nicht vergleichbar ist mit den Videos, die beinahe wie einstudierte Choreografien wirken, erzeugen sie doch den Eindruck, eine Einheit zu sein. All ihre Bewegungen passen zueinander, selbst wenn es schwierig ist, jeden immer im Blick zu haben. Dafür breiteten sie sich viel zu schnell aus, zeigen in unfassbarer Schnelligkeit eine ganze Reihe von Stunts, die mich atemlos zurücklassen.
Zunächst scheinen sie sich aufzuwärmen. Sie sprinten, nur um dann wieder in ein gemächliches Joggen zu verfallen, machen ein paar simpel wirkende Sprünge über kleine Mauern, nutzen die Treppe, ein paar Bäume und Hecken und die Bänke, die in regelmäßigen Abständen überall verteilt stehen. Immer wieder huscht mein Blick zu den anderen, doch den Großteil der Zeit ist meine gesamte Aufmerksamkeit auf Timo fokussiert. Nur wegen ihm bin ich hier. All die Videos können nicht ausdrücken, wie kraftvoll die Jungs wirklich wirken, wie energetisch und männlich und einfach nur sexy, ja, aber Timo ...
Er ist in den wenigsten Videos zu sehen, und daher muss ich mich einfach persönlich davon überzeugen, wie auch er in dem Sport aufgeht.
Es ist eine Schande, dass er den Großteil der Zeit hinter der Kamera steht, verdammt.
Etwas in mir passiert, während ich zusehe, wie er den Jungs in nichts nachsteht. Er ist kraftvoll, ein pures Energiebündel, und er strahlt dabei so viel Lebensfreude aus, so als würde er seiner größten Leidenschaft nachgehen. Ein paar Mal treffen sich unsere Blicke, und jedes Mal zwinkert er mir zu. Einmal, während er auf die abstrakte Statue zu sprintet – und einfach mal ein Stück an ihr hoch rennt, nur um einen Salto zu drehen und dann wieder davonzulaufen. Er zwinkert mir zu, als er sich gerade abstößt, und ich habe eine Heidenangst, dass er sich nicht ausreichend konzentriert und auf dem Hintern landet – aber Pustekuchen. Unsere Blicke kreuzen sich noch ein paar Mal, während er über die Bänke springt, als würde er einen Minischritt machen, oder als er über das Geländer am Fuße der Treppe hüpft, einen Handstand macht, sich gekonnt abrollt und weiterläuft, als hätte er gerade ...
Mir fehlen die Worte.
Er ist echt beeindruckend.
Um mich herum ist die Menge permanent in Aufruhr. Ich höre Rufe, provozierende Sprüche. Einmal stöhnt die Runde auf, als Maik sich bei einem besonders draufgängerischen Move auf die Nase legt, doch er springt in die Höhe, als wäre nichts gewesen, und kurz darauf jubeln alle bereits wieder.
Ich beginne zu begreifen, warum so viele von ihnen Woche um Woche herkommen, wieso JumpSquad eine derartige Fangemeinde um sich schart, dass sie damit eine gesamte Kneipe füllen können – und noch mehr. Die Jungs übertragen ihre gute Laune mühelos auf die Menge. Obwohl wir nichts anderes tun, als zuzusehen, fühle ich mich total aufgekratzt und froh, hier zu sein. Ich tröste Helena, als Maik stürzt, ich zucke nicht zurück, als Fee nach meiner Hand greift, um sie zu drücken – und ich lache mit Nathalie, als Jo genau auf uns zu gerannt kommt und ihr einen weiteren Luftkuss zu haucht, ehe er davon sprintet.
Ich spüre überdeutlich, wie ich ein Teil des Ganzen werde. Es ist so erfüllend, dass es mir Angst macht, da ich weiß, dass es nur von begrenzter Dauer sein kann. Timo und ich werden nicht ewig etwas vorspielen können, und wenn es vorbei ist ... endet auch dieses Kapitel für mich. Es war ein Fehler herzukommen, und gleichzeitig die beste Idee überhaupt. Keine Ahnung, welches Gefühl wirklich überwiegt.
Schließlich werden die Jungs langsamer. Sie traben aus unterschiedlichen Richtungen zurück zur Mitte des Platzes, wo der Ghettoblaster nach wie vor fetzige Musik von sich gibt, und an der Art und Weise, wie sich der Geräuschpegel um uns herum verändert, entnehme ich, dass sich die Show dem Ende nähert.
Fee hakt sich bei mir ein, beugt sich zu mir rüber. »Und?«
Ich wende mich ihr zu, bin sicher, dass das Funkeln ihrer Augen sich in meinen widerspiegelt. »Wow.« Mehr bringe ich nicht hinaus, aber offenbar reicht es auch, denn sie nickt zufrieden.
»Das war’s schon wieder für heute«, ertönt Daniels volle Stimme über den Platz. Augenblicklich wird es leise. Selbst die Musik verstummt, weil Maik sich an dem Uraltding zu schaffen macht. »Wir freuen uns, dass ihr alle hergekommen seid, um uns beim Hopsen zuzusehen.« Ein Lachen geht durch die Menge. Hopsen? Ist klar. »Wie üblich finden wir uns nachher im Freudenhaus ein. Jeder von euch ist willkommen, das Wochenende mit uns einzuläuten! Ansonsten – bis nächste Woche!«
Das war’s. Ein bisschen Gemurmel von den Jungs, und die Menge beginnt, sich aufzulösen. Mich überkommt eine plötzliche Unsicherheit.
Und nun?
Ehe ich mich den Mädels zuwenden kann, beginnt die Truppe, sich in Bewegung zu setzen. Alle vier, geradewegs auf uns zu. Mein Herz bleibt stehen. Ich suche Timos Blick und bemerke, dass er sich voll und ganz auf mich konzentriert. Ein so strahlendes Lächeln erhellt seine Züge, dass ich gar nicht anders kann: Ich setze mich in Bewegung, laufe ihm entgegen. Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, dass die anderen mir folgen, doch ich blende sie aus.
»Du warst unglaublich«, rufe ich, als uns nur noch wenige Meter trennen. Die Energie der vergangenen Stunde setzt sich durch. Ich breite meine Arme aus, um Timo um den Hals zu fallen – scheiß auf den Schweiß, verdammt nochmal – und als wir einander berühren, passiert etwas total Komisches in mir.
Mich durchzieht ein so heftiger, kribbelnder Stoß, dass ich die Augen zusammenkneifen muss.
»Du bist gekommen.« Es ist keine Frage, aber auch keine richtige Feststellung. In Timos Stimme schwingt so viel kindliche Freude und Überraschung mit, dass ich mir selbst am liebsten auf die Schulter klopfen möchte. Er quietscht sogar ein bisschen! Ich löse mich weit genug von ihm, um ihm in die Augen zu blicken, und in diesem Moment setzt mein Hirn einfach aus. Seine Pupillen sind geweitet. Eine leichte Röte überzieht seine Wangen, Zeuge seiner sportlichen Betätigung, vielleicht auch seiner Aufregung. Es scheint, als würde ich alles von ihm in mir aufsaugen. Jede einzelne, für einen Mann unverschämt lange Wimper. Das kleine Muttermal auf seiner rechten Wange, eine helle Narbe am Kinn. Und seine vollen, leicht geöffneten Lippen, die von diesen rau aussehenden Stoppeln umrandet sind.
Vorsichtig fahre ich mit meinen Fingern über seine Wange, stelle fest, dass der Bart alles andere als rau ist, sich sogar weich anfühlt. Die kurzen Härchen streichen angenehm über meine Haut. »Der steht dir, Timo Zufall.«
Er saugt die Luft so scharf ein, als hätte ich ihn in eiskaltes Wasser getaucht. Etwas verändert sich in seinem Blick, etwas, das ich nicht näher definieren kann.
Und dann ... küsst er mich.
Ein Teil von mir scheint genau darauf gewartet zu haben. Anders kann ich mir nicht erklären, wieso ich sofort auf seine Berührung reagiere. Es fühlt sich natürlich an, normal, wie seine weichen Lippen sich auf meinen bewegen. Ohne zu zögern, teile ich meinen Mund, mache Platz für seine Zunge, die das Angebot sofort annimmt. Timo stöhnt tief auf – und ich glaube, ich tue es auch.
Ich habe allerdings keine Ahnung, weil ich mich vollends in diesem Kuss verliere.
Eine leise Stimme in meinem Hinterkopf beginnt zu diskutieren. Das hier geht zu weit – und es ist doch nur ein Spiel. Erst am Sonntag haben wir unsere Grenzen klar definiert – dies hier schreit förmlich nach einer Überschreitung.
Nicht wahr?
Aber, verdammt, es fühlt sich einfach so gut an.
Ich klammere mich an seinem Shirt fest, wodurch ich Timo einen weiteren kehligen Laut entlocke. Seine Hände umfassen meinen Kopf, als müsste er mich dirigieren, mich halten. Nicht, dass ich die Absicht hätte, dies hier so schnell zu beenden.
Irgendwo hinter uns wird applaudiert und gejubelt. Vage nehme ich wahr, dass es sich um sehr bekannte, männliche Stimmen handelt. Timos Lippen verziehen sich zu einem Lächeln, direkt an meinem Mund, und das Gefühl ist unbeschreiblich.
So entspannt und zufrieden habe ich ihn noch nicht erlebt, seit ich ihn kenne. Gut, das ist noch nicht lange – aber trotzdem.
Ich löse mich langsam von ihm, und unsere Blicke treffen sich erneut.
»Hi.«
Ich lache leise auf. »Hi, cooler Kerl.«
Seine Augenbrauen wackeln. »Nun, also daran könnte ich mich gewöhnen.«
Ich bin dankbar für unsere Neckerei. Sie verhindert, dass mich die Unsicherheit überwältigt, die sich bereits zum Ende des Kusses wieder in mir aufgebaut hat. Timo gibt mich frei, aber seine Finger umschlingen meine. Ich akzeptiere seine Berührung, als wäre sie das Normalste der Welt. Mit prickelnden Lippen wenden wir uns den anderen zu, die uns allesamt grinsend beobachten.
Na super.
Als hätten wir ihnen gerade irgendeinen wichtigen Beweis geliefert. Einen Beweis für ... ich habe nicht die geringste Ahnung.
Mein Herz stolpert erneut, und ich spüre, wie mich eine tiefe Verwirrung ergreift. Der Kuss war gut. Er war genau richtig. Wenn er es nicht getan hätte, vielleicht hätte ich dann den ersten Schritt gemacht.
Aber der Auslöser – über den muss ich nachdenken. Wenn ich nicht gerade in einem emotionalen Ausnahmezustand bin, so wie jetzt. Durchflutet von Endorphinen bin ich nicht gerade zurechnungsfähig, kann mich nicht sinnvoll mit dieser neuen Entwicklung auseinanderzusetzen. Da ich aktuell gar keine andere Wahl habe, tue ich also das, was am naheliegendsten ist: Ich spiele mit. Was auch sonst.
»Ist was?«, frage ich frech in die Runde. »Habt ihr noch nie gesehen, wie sich ein Pärchen küsst, oder wie?«
Timos Hand zuckt, quetscht meine Finger so sehr zusammen, dass ich ihm einen eiligen Seitenblick zuwerfe. Er mustert mich mit so großen Augen, dass ich für einen Moment ins Straucheln gerate. Offenbar ist er nicht minder überrascht über meine Worte wie auch ich. Zögerlich lächle ich ihm zu. »Tut mir leid, Schatz
. Ich dachte, die Jungs wären da ein bisschen entspannter.«
Diese Worte sind es, die die offensichtliche Starre zwischen uns lösen. Maik schnaubt laut los. »Oh, glaub mir, Schätzchen
, wir sind alle ziemlich entspannt – au!« Er funkelt Helena wütend an, die ihm einen beherzten Stoß in die Seite verpasst hat.
Daniel schüttelt den Kopf, ein kleines Grinsen umspielt seine Lippen, seine Augen sind fest auf mich gerichtet. »Wie Maik schon sagt, alles gut. Es ist nur neu und schön, Timo so zu sehen.«
Und Jo? Er mustert mich nachdenklich, zwirbelt an seinem Bart und wirkt, als müsste er das Ganze erst noch verarbeiten. Wieso auch immer. Sein Blick ist es, der mich am ehesten unbehaglich erschaudern lässt. Eilig schiebe ich das Gefühl beiseite.
»Ach ja?« Ich wende mich Timo zu. »Wie seht ihr ihn denn?« Jeglicher Witz verfliegt, als ich bemerke, mit welcher Intensität er mich mustert. Seine Lippen sind leicht geöffnet, und seine Brust hebt und senkt sich immer noch so heftig, als hätte er gerade eben erst seine Sporteinheit beendet. Er wirkt so ... glücklich, dass meine Kehle eng wird.
Das hier ist ein Spiel. Nichts weiter. Ich hoffe, dass er sich daran erinnert. Verflucht nochmal, ich selbst muss es mir dringend in Erinnerung rufen.
Sein Daumen beginnt, vorsichtig über meinen Handrücken zu streichen. Nun bin ich diejenige, die ihren Mund öffnet, einen kleinen Spalt nur, aber sein Blick wandert sofort hinab zu meinen Lippen, was erneut für ein Kribbeln in meiner Magengrube sorgt.
»Oah, nehmt euch ein Zimmer«, murrt Maik gut gelaunt.
»Aber nur, wenn du es bezahlst«, gibt Timo zurück, ohne seinen Blick von mir abzuwenden. »Vorerst würde ich aber vorschlagen, dass wir ins Freudenhaus gehen.« Er leckt sich über die Lippen. »Oder?«
Ich weiß genau, dass diese letzte Frage in erster Linie an mich gerichtet ist. Ich zögere nur einen winzigen Augenblick, ehe ich nicke. »Klingt nach einem Plan.«
Er lächelt mich an, löst seinen Blick noch immer nicht von mir. »Gut. Ihr habt sie gehört. Worauf warten wir noch?«
Das weitläufige Uni-Gelände befindet sich auf einem kleinen Hügel. Es ist eigenartig, mit so vielen Menschen runter Richtung Innenstadt zu laufen. Die Straße verläuft ein ganzes Stück gerade, ehe sie einen leichten Linksknick macht, und ich kann mehrere Hundert Meter weit kleine Grüppchen von Menschen erkennen, die bis eben noch dem Training von JumpSquad beigewohnt haben. Vermutlich wollen sie alle ins Freudenhaus.
Das ist ... krass.
Immer wieder drängen sich mir Erinnerungen an das Gespräch mit den Mädels auf. Dass sie alle in irgendeiner Weise online oder sogar von Angesicht zu Angesicht dafür angegangen wurden und werden, nur weil sie mit den Jungs zusammen sind, erscheint mir ziemlich übertrieben. Nicht, dass ich ihre Aussagen in Frage stelle – aber was stimmt mit den Leuten nicht, die so etwas tun?
Mein Blick schweift über die Händchen haltenden Pärchen vor mir. Sie sind doch nur stinknormale Menschen, so wie ich auch. Ein Teil von mir fühlt sich, als wäre er in eine Art Hollywood-Seifenoper gezogen worden, was natürlich absoluter Quatsch ist. Gott, diese Welt ist so fern von meinem Alltag. Es grenzt an ein Wunder, dass unsere Wege sich überhaupt gekreuzt haben -
»Woran denkst du?«
Timos Stimme reißt mich aus den Gedanken. Ich werfe ihm einen eiligen Blick zu und gerate ins Stolpern, da seine intensiven Augen mich tiefer berühren, als ich erwartet hätte.
Ich beschließe, ihm die Wahrheit zu sagen. Wir bilden den Abschluss der JumpSquad- und JumpGirl-Phalanx, und ich werde ein wenig langsamer, was Timo zum Glück direkt bemerkt und entsprechend seinen Schritt anpasst. »Ich hatte ein interessantes Gespräch mit Helena, Fee und Nathalie.«
»So?« Timos Augenbrauen wandern fragend in die Höhe. »Worum ging es denn? Ich hoffe, sie haben nicht über mich hergezogen -«
»Du Idiot!« Schnaubend ramme ich ihn mit meiner Schulter – nun ist er derjenige, der aus dem Gleichgewicht gerät. »Ich habe den Eindruck, dass niemand von ihnen auch nur ein schlechtes Haar an dir lassen könnte.«
»Oh, ich bin mir absolut sicher, dass Maik dir jetzt widersprechen würde.« Timo verzieht sein Gesicht, als hätte er auf eine Zitrone gebissen. Interessiert mustere ich die Falten auf seiner Stirn, schaffe es erst im letzten Moment, den Impuls zu unterdrücken, sie zu berühren.
»Wieso das? Also, abgesehen vom Offensichtlichen vielleicht. Aber ...« Ich beiße mir auf die Unterlippe, ehe ich weiter plappere und ihm womöglich weh tue. Ich bin hier, um ihn abzulenken. Nicht, um weiter Salz in seine Wunden zu streuen.
»Was? Du meinst, abgesehen davon, dass ich scharf auf seine Freundin war?« Er grinst mich gequält an.
Mir entgeht nicht, dass er in der Vergangenheitsform spricht, allerdings verkneife ich es mir, direkt darauf einzugehen. Stattdessen atme ich tief durch. »Ja, genau. Ist noch mehr zwischen euch gelaufen?«
»Na ja, womöglich habe ich eine kleine Schlägerei mit ihm angezettelt -«
»Nein!« Ich bleibe so abrupt stehen, dass Timo noch ein, zwei Schritte macht, ehe er es realisiert. Langsam dreht er sich zu mir um und mustert mich amüsiert.
»Was denn?«
Ich schüttle den Kopf. »Du? Entschuldige, aber ... du
?«
»Ich?« Nun wirkt er sogar beinahe irritiert. Aber nur beinahe. Seine Mundwinkel zuckten verdächtig. »Was denn? Kannst du dir etwa wirklich nicht vorstellen, dass jemand wie ich jemandem wie Maik eine runterhauen würde?«
Die anderen laufen weiter, bemerken gar nicht, dass wir stehengeblieben sind, aber das ist mir nur recht. Ich trete einen Schritt auf Timo zu, lege meine Hand gespreizt auf seine Brust und merke, wie er unter meiner Berührung zusammenzuckt. »Du, Timo Zufall, wirkst auf mich wie der netteste Kerl der Welt. Entschuldige bitte, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie du anderen eine runterhaust.«
»Ich dachte, wir wären mittlerweile beim ‚coolen Typ‘ angekommen«, stößt er mit rauer Stimme hervor, und nun bin ich diejenige, die zusammenzuckt. Sein Tonfall sorgt für ein Kribbeln in Körperregionen, die lieber still sein sollten.
Das hier wird immer komplizierter. »Ja, das stimmt. Gib mir Zeit, mich daran zu gewöhnen.« Ich will noch mehr sagen, aber irgendwie bleibe ich an seinen Lippen hängen. Lippen, die vorhin noch auf meinen gelegen und sich verdammt gut angefühlt haben.
»Pärchen also.« Timos Stimme ist nicht mehr als ein leises Murmeln, aber sie geht mir durch und durch.
Hitze entflammt auf meinen Wangen, und ich muss tatsächlich meinen Blick abwenden, zumindest, um mich ausreichend zu sammeln und mich darauf zu konzentrieren, dass dies hier nicht außer Kontrolle gerät. »Was sollte ich denn sagen? Sie haben alle so überrumpelt gewirkt.« Unwillkürlich erinnere ich mich an Fees Worte, und ich recke mein Kinn. »Ich tue das nur, um dir zu helfen. Du weißt schon, deine Attraktivität steigern und so.«
Erneut ist da dieser gequälte Ausdruck auf seinem Gesicht. »Attraktivität, klar.«
Ich nutze meine Hand, die noch immer auf seiner Brust liegt, um ihn zu schubsen. »Hör jetzt auf. Du bist sehr wohl attraktiv. Ich finde dich attraktiv. Lass dir nichts anderes einreden. Du bist ja schlimmer als jedes unsichere Schulmädchen.«
»Hey, alles klar bei euch?«
Helenas Stimme schneidet effektiv durch unsere Blase, die mich den Rest um uns herum hat vergessen lassen. Ich stolpere einen Schritt zurück und blicke über Timos Schulter. Helena ist stehengeblieben, mit Maik an der Hand, der jedoch aussieht, als würde er weiterlaufen wollen. Er zerrt ungeduldig an ihrer Hand, doch sie wirft ihm lediglich einen wütenden Blick zu, ehe sie uns wieder fixiert. Die anderen scheinen nach wie vor nichts zu bemerken oder sich nicht für uns zu interessieren. Ich winke ihr zu. »Japp, alles bestens. Wir eilen!«
Ohne zu zögern, greife ich nach Timos Hand, mime den Maik und ziehe ihn hinter mir her den Berg hinunter.
Ein Teil von mir ist froh über die plötzliche Unterbrechung. Das Gespräch hat sich in eine ungeplante Richtung entwickelt. Eine, für die ich mich nicht bereit fühle.
Nicht nach der aufwühlenden Show der Jungs – und nach diesem Kuss.
Verdammt, warum habe ich das Gefühl, als würde ich die Kontrolle über die Spielregeln verlieren?