13
Timo
D ie kommende Woche verfliegt nur so.
Tasha muss viel arbeiten, ihre freie Zeit kollidiert mit einem Dreh und unserer Trainingszeit. Leider schafft sie es am Freitag nicht, zur Uni zu kommen, nicht einmal später ins Freudenhaus. Ein Teil von mir hat bis zum Schluss gehofft, dass sie doch noch auftaucht, obwohl sie mir nichts dergleichen versprochen hat.
Vermutlich ist es gar nicht so verkehrt, ein wenig Abstand zu haben, denn am vergangenen Wochenende ist ziemlich viel durcheinandergeraten. Schon alleine der Umstand, dass es mich hart trifft, sie im Freudenhaus nicht an meiner Seite zu haben, während die anderen alle versammelt sind, sagt ausreichend über meine Gefühlslage aus.
Es ist auch nicht gerade hilfreich, dass die anderen so oft nach Tasha fragen. Ich könnte fast schon beleidigt sein, weil sie sich so für sie interessieren, anstatt sich damit zufriedenzugeben, dass immerhin ich dabei bin, aber ich weiß es besser.
Tasha hat sie beeindruckt, so wie sie mich beeindruckt hat.
Und damit muss ich zurechtkommen.
Am Samstag mache ich mich schon früh auf den Weg nach Hause. Obwohl mir danach gewesen wäre, mich zu betrinken, habe ich mich am Vorabend zurückgehalten, weil ich genau wusste, dass ich es heute bereuen würde. Als ich mich vorhin durch das leer wirkende Haus geschlichen habe, um meine Freunde nicht zu wecken, habe ich mir mental auf die Schulter geklopft, obwohl ich es gestern noch beschissen gefunden habe, standhaft zu bleiben. Dafür bin ich jetzt fit, wenn auch müde.
Die Voraussetzungen für den Tag sind also gar nicht so schlecht.
Während ich mein Auto aus der Ausfahrt lenke, spiele ich am Radio herum, bis ich bei einem lokalen Sender lande, der einen Gute-Laune-Hit spielt. Der Moderator kündigt einen sonnigen Samstag an, mit Musik aus den 90ern und einigen One-Hit-Wondern. So werde ich die Fahrt gut überstehen können.
Knapp zwei Stunden bin ich unterwegs. Zunächst auf der Autobahn, die zum Glück noch recht leer ist und mir deshalb erlaubt, aufs Gas zu treten, ohne dabei waghalsig zu werden, aber das letzte Stündchen fahre ich über Landstraßen, an malerischen Feldern vorbei, durch Ortschaften, die immer kleiner werden, bis ich schließlich jenes Dorf erreiche, in dem ich aufgewachsen bin.
Wie immer spüre ich ein aufgeregtes Kribbeln, wenn ich durch die Straßen fahre, in denen ich aufgewachsen bin. Sofort flutet mich eine Unmenge an Erinnerungen, der Großteil von ihnen schön. Auch wenn ich mir manches Mal abgeschieden vorkam, die Anbindung an die nächstgrößere Stadt (immer noch winzig) mehr schlecht als recht war und ich mit meiner Faszination für Film und Kamera irgendwie eine Art Alien inmitten all dieser einfachen, zufriedenen Leute darstellte, bin ich gerne hier aufgewachsen.
Für mich ist meine Kindheit ein Ort der Idylle, an den ich gerne gedanklich zurückkehre. Oder sogar tatsächlich, so wie heute, da wir den fünfundfünfzigsten Hochzeitstag meiner Großeltern feiern wollen.
Meine Schwestern sind bereits am Vorabend eingetrudelt – zumindest die, die nicht mehr Zuhause wohnen. Lisa hat gerade erst ihr Abitur gemacht und arbeitet ein Jahr lang freiwillig in einer sozialen Einrichtung, um sich zu orientieren, da sie noch nicht weiß, was sie mit ihrem Leben anstellen soll. Hanna ist vergangenes Jahr ausgezogen, allerdings nur in die nächstgrößere Stadt, um dort eine Ausbildung bei der Bank zu machen. Die beiden sind die Küken, jünger als ich, und das nutzen sie ganz gerne aus, um mich dazu zu bringen, Dinge für sie zu tun, die ich normalerweise niemals tun würde.
Aber ich mache es gerne.
Dann sind da noch Joanna, 26, und Kati, 28, die beide mit ihren Männern zusammenleben. Meine Eltern warten sehnsüchtig darauf, dass sich an dieser Front mehr entwickelt. Ein kleiner, funkelnder Verlobungsring, zum Beispiel. Oder eine Wölbung ihrer flachen Bäuche. Ein weiterer Schritt auf dem Weg des Erwachsenseins.
Wir fünf sind so unterschiedlich, und doch merkt man deutlich, dass wir Geschwister sind. Seit unsere Wege sich getrennt haben, sind wir nicht mehr allzu häufig alle auf einem Haufen. Umso mehr freue ich mich, dass sich endlich wieder ein Grund dafür ergeben hat.
Lächelnd parke ich hinter dem kleinen Fiat von Hanna, bleibe noch kurz sitzen und starre an der Fassade des großen Fachwerkhauses hinauf, in dem ich aufgewachsen bin, genieße die Flut an Erinnerungen und Wehmut, die mich erfasst. Nach Hause kommen ist immer beides zugleich: schön und traurig. Nach Hause kommen erinnert mich daran, wie die Zeit verfliegt. Ich bin nicht mehr der unbeholfene Junge von damals, auch wenn ich mich den Großteil der Zeit so fühle.
Friendzone – dieser Gedanke schießt mir unerlaubterweise durch den Kopf. Die personifizierte Friendzone. Dieser Fluch hat schon damals begonnen, und ich habe ihn mitgenommen. Mit in mein neues Leben, in meine Selbstständigkeit. In mein Leben als erwachsener Mann – selbst wenn ich mich selten wirklich danach fühle. Ein Teil von mir ist immer der kleine Junge geblieben. Der Bruder. Sandwichkind, umgeben von vier Schwestern. Zurückhaltend und daher oft im Hintergrund -
Ein heftiges Klopfen reißt mich aus den Gedanken. Erschrocken zucke ich mit dem Kopf zur Seite und sehe, dass Kati neben der Fahrertür steht und irre grinst. Schräg hinter ihr befindet sich ihr Mann Greg, der mir entschuldigend zuwinkt. Ich verdrehe die Augen.
»Schon gut, ich komme ja schon!« Kopfschüttelnd löse ich meinen Gurt, schnappe nach der kleinen Übernachtungstasche, die ich auf den Beifahrersitz geworfen habe, und öffne die Tür langsam. Kati macht keine Anstalten, zurückzuweichen, weshalb ich sie vorsichtig anstupse.
Endlich weicht sie weit genug zurück, damit ich aus dem Wagen steigen kann.
Kaum bin ich draußen, zieht sie mich schon in eine Bärenumarmung. »Brüderchen! Wie schön, dass du endlich da bist! Wir haben dich gestern vermisst!«
Ich erwidere die Umarmung mindestens ebenso fest und werfe Greg dabei ein Grinsen zu. »Seid ihr gut angekommen?«
»Jepp.« Kati gibt mich frei und wendet ihre Schritte Richtung Haus. Erst jetzt bemerke ich die große Brötchentüte in Gregs Hand, und bei diesem Anblick beginnt mein Magen zu rumpeln. Auf Frühstück habe ich heute Morgen verzichtet, und die Aussicht auf einen gedeckten Tisch im Hause Schulte, laut und voller Überfluss, weckt einen Bärenhunger in mir.
»Komm, Tiger«, ruft Kati lachend aus. »Wir müssen dich füttern, ehe du uns alle auffrisst.«
Ich verdrehe die Augen. »Du wirst die Erste sein, das ist dir doch klar, oder?«
Meine Schwester blickt mich über ihre Schulter hinweg an, und ein merkwürdiges Funkeln stiehlt sich in ihre Augen. »Das glaubst auch nur du, Kleiner.«
Ihr Quietschen kündigt uns in der gesamten Nachbarschaft an, als ich mit einem beherzten Satz nach vorne auf ihre Worte reagiere.
Wie bereits vermutet, ist das Frühstück laut. Der Tisch biegt sich förmlich unter all den Leckereien, und wir sind insgesamt zu neunt, weshalb es selbst in unserer großen Küche mit Esstisch eng wird. Ich esse gemächlich mein Schinkenbrötchen und lausche den vielen Gesprächen, die kreuz und quer über den ausgezogenen Tisch fliegen. Ein Chaos, das man nur aushalten kann, ohne schwere Kopfschmerzen zu erleiden, wenn man es aus jahrelanger Erfahrung kennt. Während mein Blick über die Runde schweift, bleibe ich an meiner Mutter hängen, die mich unverhohlen mustert. Ein Lächeln umspielt ihre Lippen, und sie sieht so viel jünger aus, als sie eigentlich ist. Nicht, dass sie mit Anfang fünfzig besonders alt wäre.
»Was ist?«, frage ich sie locker. Ein weiteres Gespräch in diesem Chaos macht auch keinen Unterschied mehr.
»Das wollte ich dich eigentlich fragen.« Sie zwinkert mir zu. »Du wirkst anders auf mich.«
Sofort spüre ich ein Ziehen in meiner Brust. Mir ist klar, worauf sie anspielt. Die letzten Male, wenn ich nach Hause gekommen bin, hat mich ein großes Thema beherrscht. Helena. Es ist beinahe erschreckend für mich, festzustellen, dass ich das wirklich hinter mir gelassen habe. Zum ersten Mal seit Monaten atme ich durch, und ich spüre, dass ich mich von dieser aussichtslosen Schwärmerei befreit habe. Merkwürdig. So lange haben mich diese Gefühle beherrscht, und nun ist es so, als wäre ich eines Morgens aufgewacht – und sie sind einfach weg.
Ohne Zweifel habe ich das Tasha zu verdanken. Der jungen Frau, die mein Leben im Handumdrehen und ohne große Mühe umgekrempelt hat.
Und auf die sich mein dummes Herz nun als Nächstes stürzt. Wie gesagt, in mir steckt immer noch der kleine Junge. Draus gelernt? Nö, wieso auch.
»So, so«, bringe ich verspätet hervor. Ich sehe, wie ihre Augenbrauen langsam in die Höhe wandern und versuche, mir schnellstmöglich ein Thema einfallen zu lassen, mit dem ich sie ablenken kann.
Zu spät.
»Wer ist sie?«
Es ist ein kurioses Phänomen. Um uns herum war es die ganze Zeit laut, alle waren abgelenkt, am Rumquatschen und mit Essen beschäftigt. Aber es bedarf nur drei kleiner, unbedeutender Worte aus dem Mund meiner Mutter, und alle um uns herum verstummen.
Im nächsten Moment spüre ich die Aufmerksamkeit von acht Personen auf mir ruhen, und es kommt, wie es kommen muss. Meine Wangen beginnen zu brennen.
Meine Mutter legt den Kopf schräg und sagt lediglich »Aha.«
Frustriert schiebe ich mir den Rest meines Brötchens in den Mund. Da es sich dabei etwa um ein Drittel der unteren Hälfte handelt, bin ich eine ganze Weile mit Kauen beschäftigt, doch keine einzige Person dieser undankbaren, nervigen Familie lässt mich von der Angel.
Noch ehe ich den Bissen hinuntergeschluckt habe, weiß ich, dass ich in Schwierigkeiten stecke.
»Wann geht es nachher nochmal los? Treffen wir uns erst bei Oma und Opa oder direkt in dem Restaurant?«, versuche ich, meinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Während ich die Worte spreche, weiß ich jedoch, dass sie zwecklos sind.
Meine Mutter schüttelt den Kopf, Kati schnalzt mit der Zunge, und mein Vater brummt vor sich hin.
Am schlimmsten ist aber Lisa, die schon immer besonders vorlaut war. Vielleicht, weil sie denkt, als Jüngste müsste sie Ellenbogen und Zunge besonders weit ausfahren, um nicht unterzugehen. »Worum geht es, Timo? Hat dich endlich ein Mädchen rangelassen?«
Ihre Worte werden von einem heftigen Zischen und einem lauten Schmerzensschrei begleitet, weil Joanna, die neben ihr sitzt, ihr eine Kopfnuss verpasst. »Halt die Klappe, Kurze!«
Lisa funkelt erst sie wütend an, dann wendet sie ihre Scheinwerferaugen auf mich. »Also? Was ist? Wieso diese Geheimniskrämerei?«
Ich verdrehe die Augen. »Keine Ahnung, wovon du redest. Ich mache überhaupt kein Geheimnis aus irgendwas.«
Lisa ahmt mich nach, nur dass es bei ihr wesentlich zickiger aussieht. Vielleicht, weil sie dabei so einen Schmollmund macht. »Ist klar, Bimo.«
Mein Spitzname, der mich in dieser Familie begleitet, seit klein Lisa anfing zu sprechen und es wesentlich einfacher fand, Bimo statt Timo zu sagen. Ich ignoriere sie, weil das meist der leichteste Weg ist, allerdings fällt mein Blick dabei auf Hanna. Sie ist die Stillste von allen, und ich weiß, dass sie eine harte Zeit in der Schule durchgemacht hat. Sie ist es auch, die von allen Mädchen das schlimmste Verhältnis zum Essen entwickelt hat, weshalb ich so mit Nathalie mitfühle. Kurz huscht mein Blick auf ihren Teller, wo sich nicht, wie bei uns allen auch, ein Brötchen befindet, sondern ein Knäckebrot und sehr viel Gemüse. Sie blickt mich nachdenklich an, mit diesem Ausdruck von Weltschmerz in ihren Augen, der mich schon immer weichgeklopft hat. »Geht es denn um Helena?«
Sofort ertönt ein Zischen rund um den Tisch.
Helena – dieser Name ist ein rotes Tuch für die meisten von ihnen, was mir von Herzen leidtut. Sie kann nichts für meine Gefühle und dafür, dass sie sie nicht erwidert hat. Aber Familie ist Familie. Sie haben mitbekommen, was die Situation mit mir angestellt hat, deshalb ist Helena der kollektive Feind, gewissermaßen.
Ganz egal, was ich sage.
»Hört auf«, unterbreche ich deshalb diese feindselige Anwandlung. »Nur weil jemand diesen Namen erwähnt, müsst ihr nicht gleich alle Geschütze auffahren! Helena ist und bleibt eine Freundin!«
»Das ist doch totaler Irrsinn«, wirft Lisa ein. »Diese Frau hat dein Herz gebrochen! Wie kannst du sie in Schutz nehmen!«
»Lisa«, murmelt meine Mutter tadelnd. Wie immer erreicht sie damit ihr Ziel. Lisa verstummt augenblicklich. Bei meiner kleinen Schwester muss ich oft an einen kläffenden, kleinen Hund denken. Sie poltert los, ohne viel nachzudenken, in Wirklichkeit ist sie aber lieb und friedlich.
Meine Mutter dagegen? Eine Löwin. Wenn sie knurrt, ist es eine Warnung, die man ernst nehmen sollte. Zum Glück tut sie das nicht oft – aber trotzdem.
Ich werfe ihr einen Blick zu. Ihr und allen anderen auch. »Es geht nicht um Helena. Zumindest nicht mehr.«
»Ich wusste es«, wirft Joanna ein. Sie und Lukas, ihr Freund, tauschen einen Blick, der mich unangenehm zusammenzucken lässt.
»Was ist? Setzt ihr schon Wetten auf mich, oder was?«
Joanna streckt mir wenig erwachsen die Zunge entgegen. »Nö. Aber nach all der vergangenen Zeit war klar, dass sich etwas geändert hat. Und ich wusste einfach, dass es nicht mit ihr zusammenhängt. Also, wer ist es?«
»Du meinst, ich wirke nicht so mies drauf wie sonst?«, gebe ich mit hochgezogener Augenbraue zurück.
Joanna legt den Kopf schräg, aber es ist ihr Freund, der antwortet. »Nichts für ungut, Mann, aber ja.«
Ich könnte jetzt beleidigt sein, genervt, es könnte mir auch am Arsch vorbei gehen. Aber ich tue das Einzige, was sich in diesem Moment richtig anfühlt: Ich lache. Es ist kein rein fröhliches Lachen, aber auch kein unechtes. Es ist irgendetwas dazwischen, voller Erleichterung und Frohsinn, Verzweiflung und Unglaube.
Und meine Familie? Sie mustert mich, als würde ich gerade den Verstand verlieren. Das Thema ist noch nicht durch. Wahrscheinlich werden sie mich den Rest des Wochenendes ständig löchern. Eilig stopfe ich mir etwas Rührei in den Mund und hoffe, dass sie mich in Ruhe lassen. Ich muss mir erst darüber klar werden, was ich ihnen erzählen will und was nicht.
Und dazu muss ich realisieren, was gerade eigentlich wirklich in meinem Kopf vor sich geht.
Gott sei Dank habe ich gestern nicht mehr getrunken.
Eigentlich war das ausgiebige Frühstück dumm, wenn man bedenkt, dass wir uns bereits um zwölf Uhr mit meinen Großeltern treffen. Sie haben einen Tisch in ihrem Lieblingsrestaurant reserviert – ein altes Landhaus mit groben, offenen Balken an den Decken und allerlei Zeug als Zierde, das von einem Bauernhof stammen könnte. An einer Wand hängt sogar ein kleiner Handpflug. Vermutlich wurde es damals auch mal dort eingesetzt. Jedenfalls strahlt das Restaurant einen alten Charme aus, wirkt wie ein Museum ländlicher Geschichte und gleichzeitig urig und gemütlich. Außerdem ist es Dreh- und Angelpunkt unseres Dorfes und wird von alten Freunden meiner Großeltern betrieben. Das Essen ist rustikal, deftig und gut.
Und der Umstand, dass wir uns vorhin erst den Bauch vollgeschlagen haben, dementsprechend wirklich unüberlegt.
Auf dem Weg dorthin – zu Fuß sind es weniger als zehn Minuten, weshalb wir alle unsere Autos stehen lassen – denke ich darüber nach, was meine Freunde dazu sagen würden. Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass einer von ihnen naserümpfend verschwinden würde, aber wenn ich daran denke, welche Läden sie sonst so aufsuchen, kann ich mir vorstellen, dass der Kulturschock groß wäre. Dann wandern meine Gedanken zu Tasha und zur Trattoria , und ich lache leise auf.
»Was ist?« Hanna, die bisher stumm neben mir her gelaufen ist, stößt mich sachte mit der Schulter an. Ihr Blick sieht fragend, aber auch belustigt aus.
Ich zucke mit den Schultern. »Ach, ich habe nur darüber nachgedacht, was eine Freundin über das Restaurant sagen würde.« Ich deute locker auf den Gasthof, der sich am Ende der Straße vor uns erhebt.
»Eine Freundin?« Ihre Augenbrauen wandern in die Höhe. »Etwa die, die für deinen Sinneswandel gesorgt hat?«
Ich schnaube leise und beschließe, ihre Worte zu ignorieren.
Bis sie erneut nachhakt. »Im Ernst, Timo. Was ist passiert? Das letzte Mal, als du hier warst, war deine Laune noch im Keller. Wem kann ich danken?« Sie umfasst meinen Ellenbogen und hält mich zurück. Zum Glück scheinen die anderen sich nicht dafür zu interessieren, oder sie lassen Hanna bewusst den Vortritt bei der Mission, mir auf den Zahn zu fühlen. Auf jeden Fall sind wir plötzlich die Letzten. Sie sieht mich aus großen Augen an. »Komm schon, Bruderherz. Ich habe mit dir auch über alles gesprochen.«
Wow, ein ziemlich gemeines Argument. »Das hast du jetzt nicht wirklich gegen mich verwendet, oder?«
Hannas Lider sinken nach unten, aber nur ganz kurz. Als sie mich danach ansieht, erkenne ich eine Mischung aus Unbehagen und Aufrichtigkeit in ihren Augen. »Doch, ich glaube schon. Ich habe ein paar beschissene Tage hinter mir. Kannst du nicht bitte dazu beitragen, dass ich mich besser fühle?«
Ich erstarre, bleibe mitten auf dem Gehweg stehen. Natürlich denke ich sofort an den Morgen, an ihr karges Frühstück. Mein Blick huscht über ihr Gesicht, und ich versuchte auszumachen, ob es eingefallen wirkt, ob es in irgendeiner Weise verrät, wovon sie spricht, aber natürlich hat sie sich für dieses Essen geschminkt, sieht aus wie immer.
»Frag nicht« flüstert sie heiser und liefert mir damit die Antwort, die ich gesucht habe.
Ich balle meine Hände, spüre, wie mich das Gefühl von Machtlosigkeit erfasst. »Wenn ich dir eine Nummer gebe – würdest du sie anrufen?«
Hanna zuckt so heftig zurück, dass ihre Hand sich von meinem Arm löst. Rote Flecken breiten sich auf ihr Gesicht aus, was ich trotz ihres Make-ups problemlos erkennen kann. »Dazu habe ich dir bereits etwas gesagt -«
»Nein, nicht so.« Ich schüttle den Kopf. »Kein Therapeut. Eher ... jemand, der dich verstehen wird.«
Sie sieht mich verwirrt an. »Wovon redest du?«
Mein Blick zuckt nach vorne. Die anderen sind nun ein gutes Stück weiter, weshalb die Chance, dass sie unser Gespräch überhören, gering ist. Ich ziehe mein Handy hervor und öffne Nathalies Kontakt. »Du musst mir versprechen, das für dich zu behalten, okay?« Erst, als Hanna nickt, rede ich weiter. »Du kennst doch Jo, nicht wahr? Du weißt schon, der Große von uns, mit den langen Haaren? Seine Freundin, Nathalie ... ihr geht es ähnlich. Sie leidet an einer schweren Form von Bulimie. Allerdings arbeitet sie daran. Vielleicht könnt ihr ja mal miteinander reden. Ganz unverbindlich. Wer weiß, womöglich hilft es dir.«
Schweigen breitet sich zwischen uns aus. »Hat sie dir gesagt, dass du das hier tun sollst? Ist sie damit einverstanden?«
Mist. Das ist der Haken an impulsiven Ideen. »Nein. Aber ich kenne sie, und ich bin mir sicher, dass es für sie klar geht.« Davon bin ich wirklich überzeugt. Manchmal weiß ich nicht, wie es wirklich um Hanna bestellt ist. Ich bin der Einzige aus der Familie, mit dem sie offen darüber geredet hat, aber sie kann alles Mögliche vor mir verbergen, erst recht, seitdem ich weggezogen bin. Ich habe keine Ahnung, ob ihr kompliziertes Verhältnis zu ihrem eigenen Körper sich gelegt hat oder vielleicht sogar schlimmer geworden ist, aber ich hoffe, wenn sie mit jemandem spricht, der wirklich in diesen Brunnen gefallen ist, hilft ihr das irgendwie. Wie auch immer, vielleicht ist die Idee auch total bescheuert, aber nun ist es zu spät.
Hanna zögert, doch schließlich holt sie ihr Handy hervor und tippt Nathalies Nummer ein. »Ich habe sie. Allerdings kann ich dir – oder ihr – nichts versprechen.«
Vorsichtig lächelnd ziehe ich sie mit einem Arm an meine Brust. »Das ist klar, Hanni. Aber wenn du willst -«
»Kommt ihr?« Lisas Stimme dringt ungeduldig zu uns vor. Ich sehe, wie sie winkend beim Lokal steht und uns mit schräg gelegtem Kopf mustert.
»So war das nicht geplant«, stöhnt Hanna. »Eigentlich solltest du mich ablenken. Das holen wir nach, verstanden? Du bist mir nun wirklich eine Antwort schuldig.«
Ich lächle sie an. »Versprochen. Später, okay? Jetzt sollten wir uns beeilen.«
Mit diesen Worten löst Hanna sich von mir, um nach vorne zu sprinten.
Ich folge ihr.
Wie zu erwarten ist auch das Essen im Lokal laut und bunt, ähnlich wie unsere Frühstücksrunde, nur dass nun noch zusätzlich meine Großeltern, mein leicht verplanter Onkel und ein befreundetes Pärchen anwesend sind. Die Besitzer des Lokals haben uns einen Nebenraum reserviert, wo an langen Tischen an der Wand ein übertriebenes Buffet aufgebaut wird. Ich beobachte nachdenklich die verschiedenen, riesigen Servierplatten und wünsche mir unwillkürlich, dass Tasha hier wäre.
Ich habe keine Ahnung wieso, aber ich glaube, sie würde hierher passen. Und wie viel schöner wäre es, sie einfach allen zu präsentieren, als nun Fragen ausweichen zu müssen, die ich nicht beantworten kann.
Aber Tatsache ist nun einmal, dass sie mich nicht begleitet hat. Ich bin gar nicht erst auf die Idee gekommen, sie zu fragen, denn das mit uns ist nichts weiter als eine Farce, und diese Farce ist nicht für meine Familie gedacht, sondern einzig für meine Freunde, damit sie mich nicht mehr wegen Helena bemitleiden, damit ich abgelenkt werde ... und damit auch Helena selbst sieht, dass ich vorwärts schaue. Nur, dass diese Farce anfängt, sehr kompliziert zu werden. Abgesehen davon, dass es echt keine gute Idee war, meine Freunde anzulügen, bin ich mir überhaupt nicht mehr sicher, was noch Spiel ist und was nicht. Seit Tagen beschäftigt mich dieses Thema, lässt mich fröhlich sein oder in Schwermut versinken, und langsam bin ich das leid.
Zum Glück schaffe ich es den Großteil der Zeit, nicht ständig diese Gedanken zu wälzen. Dafür ist es zu leicht, sich von meiner lebendigen Familie ablenken zu lassen. Je länger wir hier sitzen, viel zu viel essen und den Anekdoten meiner Großeltern lauschen, die ihre fünfundfünfzig Ehejahre rekapitulieren, desto deutlicher wird mir bewusst, dass ich Helena wirklich hinter mir gelassen habe. Letztes Jahr hätte ich wahrscheinlich ständig an sie gedacht. Ich hätte mich gefragt, ob wir auch irgendwann auf solch eine bewegende Geschichte zurückblicken könnten, oder ob ich auf ewig nur davon träumen werde.
Heute kann ich in erster Linie die Liebe dieses stolzen Pärchens bewundern. Ab und an wandern meine Gedanken zu Tasha, aber ich verbiete mir, diesem Umstand Tiefe zu verleihen – und damit komme ich gut klar.
Bis zur Pause zwischen Hauptgang und Nachspeise.
Meine Großeltern schlagen vor, einen Spaziergang zu machen. Ich biete mich an, hierzubleiben, schon alleine, um auf den kleinen Tisch mit den Geschenken aufzupassen, doch sie schütteln nur den Kopf.
»Wir lassen den Raum abschließen. Eine kleine Runde an der frischen Luft schadet uns allen nicht.«
Ich nicke meiner beeindruckenden Oma zu, die nicht aussieht, als wäre sie schon achtzig Jahre alt, und kurz darauf läuft unsere große, ungleiche Gruppe los.
Zu Beginn plaudere ich ein bisschen mit meinem Onkel, aber schon bald bemerke ich, wie Hanna an meinem Ärmel zupft. Ich bin nicht gerade glücklich darüber, dass sie ausgerechnet jetzt meine Schulden einlösen will, aber was soll ich machen?
Als sich dann auch noch Kati zu uns gesellt, nicht ohne vorher einen Blick mit Greg auszutauschen, bin ich gewillt, doch noch umzudrehen.
Aber es ist zu spät.
»Also gut, Brüderchen.« Kati hakt sich links bei mir ein, Hanna nimmt meinen rechten Arm. »Nun rück mal raus mit der Sprache. Woher der Sinneswandel?«
»Ich weiß überhaupt nicht, wovon ihr redet. Ich habe nie von einem Sinneswandel gesprochen!«
Kati rammt mir ihren Ellenbogen in die Seite, Hanna schnaubt auf. »Darf ich erinnern, dass du vorhin an eine Freundin gedacht hast?«
»Ich habe mehrere Freundinnen. Fee zum Beispiel, Nathalie« – bei diesem Namen werfe ich Hanna einen Blick zu, doch sie lässt sich nichts anmerken, »und Helena.«
Nun ist Kati diejenige, die schnaubt. »Oh ja, Helena. Von der haben wir mehr als genug mitbekommen. Sie ist ganz sicher nicht der Grund, warum du nicht mehr wie ein depressiver Sauertopf wirkst, so wie in den vergangenen Monaten.«
»Also bitte!« Ich versuche, stehen zu bleiben, aber die beiden ziehen mich unerbittlich weiter. Deutlich langsamer als der Rest der Truppe, aber wir folgen ihnen.
»Nun komm schon. Wir freuen uns für dich!« Hannas Stimme wird weich. »Hast du jemanden kennengelernt?«
Ich zögere. Dies hier wäre der richtige Moment, um von Tasha zu erzählen. Vielleicht würde es mir helfen, meine Gedanken zu sortieren. Andererseits kann ich auf gar keinen Fall zu sehr ins Detail gehen, denn wenn ich ihnen von meinem falschen Spiel erzähle, sind sie bestimmt sauer auf mich. Letztlich zählt für mich, dass wir noch nie großartige Geheimnisse voreinander hatten, insbesondere Hanna und ich, und ich beginne zurückhaltend zu reden. »Ja, tatsächlich habe ich das.«
»Ich wusste es!« Kati reckt triumphierend ihre freie Hand in die Luft. Ihr Ausruf ist so laut, dass sich Lisa neugierig zu uns umdreht, und auch Joanna wirft einen Blick über die Schulter. Wenigstens meine Eltern scheinen nichts bemerkt zu haben.
»Schrei es noch lauter heraus. Vielleicht schließen sich dann noch ein paar Anwohner unserem Gespräch an«, stelle ich trocken fest.
Eine Weile laufen wir schweigend weiter.
»Und, wer ist sie?«, hakt Hanna schließlich nach, als wir einen Weg einschlagen, der uns aus dem Dorf raus in eine kleine Allee führt, und von dort in ein angrenzendes Waldstück.
Ich weiche einem kleinen Schlagloch aus. »Sie arbeitet in einer Pizzeria, in der ich ein paar Mal essen war. Wir haben uns ganz gut verstanden. Einen Abend habe ich mich ein wenig betrunken -«
»Wegen Helena?« Auch wenn es als Frage getarnt ist, es ist eine Feststellung, die ich mit einem knappen Nicken quittiere. Kati grunzt leise. Ich muss dringend etwas dagegen tun, dass meine Familie Helena nicht leiden kann. Ich meinte meine Worte durchaus ernst: Sie ist eine Freundin. Ich kann von Glück reden, dass sie sich nicht total von mir distanziert hat, als ich versucht habe, sie von uns zu überzeugen. Auf keinen Fall kann ich zulassen, dass sie in so einem schlechten Licht dasteht, nur weil sie meine tiefergehenden Gefühle nicht erwidert hat.
»Hör zu, Kati. Ich verstehe, dass du Helena nicht sonderlich gut leiden kannst. Aber sie gehört zu meinen Freunden. Ich würde es sehr begrüßen, wenn du nicht - aua !« Grummelnd reibe ich mir meine Seite, die erneut von ihrem spitzen Ellenbogen attackiert wurde.
»Lenk nicht ab. Eigentlich geht es nicht um Helena, sondern um die Kellnerin. Du hast dich betrunken – und weiter?«
Ich seufze tief auf. »Sie hat mich mitgenommen, als ihre Schicht zu Ende war. Ich konnte mich auf ihrer Couch ausnüchtern. Und danach sind wir, nun ja, irgendwie Freunde geworden.«
»Freunde.« Hanna klingt, als würde sie dieses Wort erst ausprobieren müssen. »Freunde wie Jo und Daniel, oder wie Helena, oder ...?«
Zeit für Wahrheit. »Ich weiß es nicht.« Mein Blick huscht erst zu ihr, dann zu Kati. »Eigentlich dachte ich, wir wären nur Freunde im normalen Sinn. Aber manchmal fühlt es sich an, als würde sich daraus mehr entwickeln.« Ich weiß genau, wie diese Worte klingen, verdammt.
Ich weiß es.
Und ich fühle mich wie der letzte Idiot, auch ohne meine Schwestern, die mitfühlend brummen.
»Denkst du ...«, beginnt Kati langsam, »... es könnte dich wieder in Schwierigkeiten bringen?«
Ich schweige, aber auch das ist Antwort genug. Wir laufen eine Weile weiter. Der Weg wird unebener, die anderen langsamer. Unsere Wandertruppe wird von meinen Großeltern angeführt, und so fit sie im Kopf auch sind, solche Wege werden zu kleinen Herausforderungen. Ich sehe, wie mein Opa sich verstärkt auf seinen Spazierstock lehnt, und frage mich, wieso wir nicht einfach umkehren. Immerhin warten Schokoladenkuchen und Rote Grütze mit Vanillepudding auf uns.
»Solange sie dir guttut, sage ich nichts«, murmelt Kati schließlich. »Aber, Brüderchen, du hast jetzt lange genug wegen Helena gelitten. Pass bitte auf, dass du dein Herz nicht direkt an die Nächste verlierst, die es nicht verdient.«
»Ja, sicher«, antworte ich mechanisch, weil ich nicht schon wieder schweigen kann. Mein Herz pocht schwer in meiner Brust. Verdammt, ich weiß nicht, ob ihre Warnung nicht bereits zu spät kommt. Ich hoffe es nicht. Ich hoffe einfach ...
Keine Ahnung. Ich weiß nicht, was ich denken soll.
Und trotzdem fühle ich mich immer noch deutlich besser als zuvor.