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Tasha
E s war nicht ganz so leicht wie angekündigt, Oswald davon zu überzeugen, dass ich ausgerechnet diesen Monat meine Überstunden abbaue – erst recht, weil ich nicht bereit war, mir im darauffolgenden Wochenende eine Extra-Schicht auftragen zu lassen. Dort würde mich nämlich meine Mutter besuchen. Aber letztlich schaffte ich es, ihn zu überreden – mit Engelszunge, Augenaufschlag und der Erinnerung, dass er sich absolut immer auf mich verlassen kann.
Wie zum Beispiel bei einem besagten betrunkenen Gast, den ich entfernt habe, ehe er für die anderen Gäste störend werden konnte.
Jepp, ich weiß, wie ich manche Dinge für mich verwenden kann. Und ich habe deshalb auch nur ein leichtes schlechtes Gewissen.
Dem Ausflug steht also nichts mehr im Wege. Ich habe frei. Das Haus ist gebucht. Zu meinem großen Erstaunen hat Fee sich über Timo meine Handynummer besorgt, und plötzlich stecke ich mitten drin in einem Gruppenchat, der »JumpGirls« genannt wurde, und in dem Fee, Nathalie und Helena sich den lieben langen Tag über allerhand Dinge austauschen, die mich eigentlich nichts angehen sollten.
Doch mein verdammtes Herz hüpft und freut sich darüber, als würde es etwas bedeuten.
Timo habe ich über eine Woche nicht gesehen. Und in etwas mehr als einer Woche fahren wir gemeinsam weg. Auch wenn wir zwischenzeitlich problemlos zurechtkommen konnten, ohne uns zu sehen, habe ich das dringende Bedürfnis, etwas daran zu ändern. Also tippe ich Sonntagabend eine Nachricht an ihn, selbst wenn ein großer Teil von mir mich anbrüllt, wie verantwortungslos ich doch bin.
Hey, alles klar? Wie war dein Wochenende? Sollen wir uns in der kommenden Woche vielleicht mal treffen? Wir müssen noch ein paar Dinge besprechen, was den Trip angeht, nehme ich an.
Puh, ganz schön nüchtern. Ich füge einen Smiley am Ende hinzu, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass ich die Nachricht bereue, kaum dass sie abgeschickt ist.
Und dann beginne ich zu warten.
Im Anschluss an meine Sonntagsschicht würde ich am liebsten das verlassene Fabrikgelände aufsuchen, aber ich habe Timos Worte im Ohr, also nehme ich mit dem Balkon vorlieb.
Als ich eine halbe Stunde genau dort sitze, mit einer flackernden Kerze auf dem kleinen Tisch und einer Flasche Cola in der Hand, ziehe ich erneut mein Handy hervor. Die Benachrichtigung, dass eine neue Nachricht von Timo eingegangen ist, jagt meinen Puls in die Höhe. Mit zittrigen Fingern öffne ich unseren Chat.
Mein Wochenende war super. Ich habe meine Familie besucht. Meine Großeltern hatten Hochzeitstag. Es war wie immer: total schön und ein bisschen nervig. Und deins? Musstest du viel arbeiten?
Achso. Wir können uns total gerne treffen. Wann würde es dir passen?
Nachdenklich nippe ich an meiner Cola und lasse meinen Blick schweifen. Wie gerne wäre ich jetzt nicht hier auf meinem Balkon, umringt von so vielen anderen Menschen in ihren Wohnungen, sondern auf dem Hinterhof. Dort wäre die Stimmung anders, ich wäre einsamer und könnte mich noch besser auf mich und meine Gefühle konzentrieren, auf das, was mich gerade wirklich beschäftigt. Dort bin ich irgendwie ... ungefilterter. So unsinnig das auch klingt. Aber nein, Timo hat mir diesen Ort ja verdorben.
Und sagt es nicht mehr als genug über mich aus, dass ich auf ihn höre, obwohl er überhaupt nicht erfahren würde, dass ich dort bin? Ich meine, es ist ja nicht so, als würde er allabendlich die kleine Gasse überwachen, um zu kontrollieren, ob ich mich an seine Worte halte, oder?
Trotzdem sitze ich hier. Auf meinem kleinen Balkon, in Gesellschaft einer flackernden Kerze, die nicht einmal annähernd die Stimmung von dort erzeugen kann.
Seufzend schlüpfe ich aus meinen Schuhen und kreuze meine Knöchel auf der Balustrade, den Blick gen Himmel gerichtet.
Der wolkenverhangen ist. Natürlich. Nicht einmal ein hübscher Sternenhimmel ist heute Abend drin.
Erneut konzentriere ich mich auf mein Handy. Meine Finger schweben eine Weile über dem Display, ehe ich eine Antwort tippe. Gedanken darüber, ob es allzu bedürftig wirkt, wenn ich ihm zu schnell schreibe, schiebe ich direkt wieder beiseite. So habe ich noch nie getickt, damit fange ich jetzt nicht an.
Oh, ein Familienbesuch. Das klingt nett. War das ein runder Hochzeitstag oder so? Mein Wochenende war unspektakulär. Viel gearbeitet, genau. Eigentlich habe ich nur das gemacht. Gearbeitet und geschlafen. Und gegessen.
Die Nachricht ist abgeschickt, ehe ich darüber nachdenken konnte, und im nächsten Moment fluche ich laut los. Das klingt so unfassbar armselig. Ehe ich mich richtig in meine Selbstverachtung reinsteigern kann, erhalte ich eine Antwort.
Der fünfundfünfzigste. Sie haben bereits eine beachtliche Zeit zusammen verbracht, das musste gefeiert werden. Ich bin immer noch satt. Ich hätte dich einfach mitnehmen sollen. :-)
Ich setze mich ruckartig auf. Mein Finger zittert über dem Display, und ich spüre, wie mein Herz lauter kleine Saltos macht. Meint er das ernst? Und wenn ja – was hat es zu bedeuten?
Unwillkürlich denke ich an unsere Küsse. Nicht an die vor den anderen, sondern an jene Situationen, in denen wir alleine waren. Keine Notwendigkeit, sich näher zu kommen als nötig, und doch ist es geschehen. Am deutlichsten hat sich mir da der Kuss im Treppenhaus des Parkhauses ins Gedächtnis gebrannt. Als ich selbst nicht wusste, was genau ich eigentlich von ihm will, ihn festhielt – und im nächsten Moment lagen meine Lippen auf seinen.
Unruhig rutsche ich auf meinem Stuhl hin und her, kneife meine Beine zusammen. Ich bin wirklich verloren.
Wow. Ja, das kann man feiern. Schon beachtlich. Ich glaube nicht, dass ich jemals so weit kommen werde. Fünfundfünfzig Jahre verheiratet sein? Ich schätze, das werde ich nicht mehr erleben. Die Zeit läuft unerbittlich gegen mich.
Hin und her gerissen zwischen dem Bedürfnis, mein Handy einfach über das Geländer zu werfen, mich darauf zu setzen oder vielleicht einfach offline zu gehen, ehe ich noch mehr Stuss schreibe, lege ich es schließlich neben mich auf den Tisch, setze die Flasche an und nehme einen großen Schluck. Mittlerweile ist sie von Kondenswasser überzogen. Eine Brise kommt auf und lässt mich erschaudern. Ironischerweise fühle ich mich jetzt doch beinahe so, als würde ich auf dem alten Cordsofa sitzen. Nur, dass ich mir wünsche, ich wäre nicht alleine. Mein Handy gibt ein brummendes Geräusch von sich, die Vibration klingt viel heftiger auf der Glasplatte. Sofort greife ich danach. Auch wenn ich versucht war, das Teil loszuwerden – natürlich will ich wissen, was Timo mir geschrieben hat.
Hör doch auf. Wie alt bist du, vierzig? Noch ist alles drin. Du weißt ja gar nicht, wie schnell das gehen kann.
Ich starre seine Worte an.
Und ich starre sie an.
Das Ganze wird heikel. Ich bin viel zu aufgewühlt, um nicht nichts in diese Worte hineininterpretieren zu können. Hier sitze ich, alleine auf meinem Balkon, und schreibe mit einem Kerl, den ich erst vor ein paar Wochen kennengelernt habe. Ein Kerl, der für mich in genau die Kategorie fällt, wie es Paul damals tat. Der nette Typ von nebenan. Gutaussehend, aber harmlos. Niemand, der Mist bauen würde, der zuverlässig ist, sanftmütig.
Aber ich habe bereits festgestellt, dass genau diese Sorte Mann einem am meisten wehtun kann, und ich bin nicht hierhergezogen, um all das noch einmal durchzumachen. Wenn mein Herz also bitte endlich mal auf mich hören und sich wieder beruhigen würde, wäre ich wirklich, wirklich dankbar.
Klar, dass es nicht darauf reagiert, nicht wahr?
Keine Ahnung, wie lange mich seine Worte paralysieren. Sie brennen sich in meine Netzhaut und lösen eine solche Vielfalt an Emotionen in mir aus, dass ich keine andere Wahl habe, als sie nach und nach zu katalogisieren. Da ist Angst. Eine riesige Portion Angst sogar. Angst vor dem, was sich in mir verändert. Zwei Jahre lang habe ich mich und meine Gefühle unter Verschluss gehalten. Wer hätte gedacht, dass dieser Kerl einfach so in mein Leben spaziert, und dass sich aus der dämlichen Idee, ihm einen Gefallen zu tun, so viel entwickelt?
Dann ist da Wut. Wut auf meine Vergangenheit. Auf Paul, mit dem ich durchaus die fünfundfünfzig Jahre hätte schaffen können, wenn es bei unseren Plänen geblieben wäre. Aber nein, er musste ja eine andere vögeln. Nicht, dass ich noch allzu scharf darauf bin, mit ihm zusammen zu sein. Ich habe mich verändert. Ich bin nicht mehr das naive Ding von damals. Und doch ... ein Teil von mir ist sauer, weil er egoistisch beschlossen hat, mir diese Perspektive zu rauben. Die gemeinsame Perspektive. So unwahrscheinlich sie mittlerweile auch ist.
Und letztlich befindet sich auch noch ein anderes Gefühl in mir. Eines, das zu benennen mir widerstrebt. Es ist warm und blubbernd, es dehnt sich in meinem Magen aus und reckt seine Fingerspitzen Richtung Brustkorb, wo sich eine kribbelnde Hitze ausbreitet.
Dieses Gefühl versetzt mich in Panik.
Ich schaffe es einfach nicht, es in eine Schublade zu stecken. Ein Teil von mir will es nicht. Will es nicht benennen und es damit real werden lassen.
Noch ehe ich mich diesem Dilemma weiter widmen kann, leuchtet das Display in meiner Hand auf. Keine weitere Nachricht, dafür aber etwas viel Schlimmeres.
Ein Anruf.
Auf gar keinen Fall will ich jetzt mit Timo reden. Ich kann es einfach nicht. Wenn ich auch nur ein Wort sage, wird er mir anmerken, wie aufgewühlt ich bin. Und dann?
Ja, was dann?
Ich will auf den roten Hörer tippen, will es wirklich. Doch im letzten Moment schweift mein Finger zur Seite, und ich erwische den grünen. Verdammt nochmal. Offenbar arbeitet mein Körper gegen mich, dieser Verräter. Ein Stöhnen unterdrückend hebe ich das Handy ans Ohr.
»Hey.« Seine Stimme klingt rau. Augenblicklich jagt eine Gänsehaut über meinen Körper.
»Selber hey.«
Mir schlägt Schweigen entgegen. Das leise Rauschen der Telefonverbindung, ein Atemzug.
Ich schließe die Augen.
Schließlich räuspert er sich leise. »Ist alles okay?«
Mit geschlossenen Augen ist es ein bisschen leichter. Nicht, dass wir uns sonst sehen würden. Und ich weiß, wie irrsinnig das ist, wo ich mir eben noch gewünscht habe, er wäre bei mir. Aber ich habe nie behauptet, logisch zu sein. Mein Daumennagel schabt über die Kleberreste an der Flasche, dort, wo ich das Etikett abgepult habe, und ich atme seufzend aus. »Ich weiß nicht. Ich bin irgendwie aufgewühlt.«
»Das habe ich mir schon gedacht. Wenn es an meinen Worten liegt, tut es mir leid. Ich wollte dich nicht runterziehen, es ist nur ...« Er zögert. Ich warte sehnsüchtig auf seine Worte, auf das, was er sagen wollte, aber da kommt nichts.
Langsam öffne ich meine Augen, starre direkt auf einen einzelnen Stern. Offenbar ist die Wolkendecke direkt über mir aufgerissen, und ich blinzle das helle, weit entfernte Licht überrascht an. »Ja?«
Er seufzt leise auf. »Vergiss es.«
Enttäuschung wallt in mir auf, aber ich schlucke sie eilig hinunter.
»Wo steckst du? Es klingt, als wärst du draußen?«
Das ist mein Stichwort. Meine Mundwinkel wandern langsam nach oben, und ich richte mich etwas auf. »Oh, ach, ich wollte noch ein wenig frische Luft schnappen nach meiner Schicht -«
»Sag nicht, dass du wieder auf diesem verlassenen Hinterhof bist«, unterbricht Timo mich mit einem so intensiven Knurren, dass ich die Augen aufreiße. Im Hintergrund höre ich ein Knarren und ein Rascheln, und er klingt plötzlich etwas atemlos. »Ich bin in zehn Minuten da -«
»Hör auf!«, unterbreche ich ihn lachend. »Timo, das war ein Scherz! Ich sitze auf meinem Balkon, okay? Du fällst auch immer wieder darauf rein. Erinnerst du dich? Ich habe mir deine Worte sehr wohl zu Herzen genommen!«
Er atmet hörbar aus. Selbst durchs Telefon kann ich wahrnehmen, wie er erstarrt. »Du bist zuhause?«
»Auf dem Balkon«, erwidere ich geduldig.
Ein leises, beinahe verschämtes Lachen dringt an mein Ohr. »Oh, okay. Ja dann ...« Ich höre es erneut rascheln. Offenbar liegt er im Bett. Ich stelle mir augenblicklich vor, welcher Typ Mann er ist. Boxershorts und Shirt? Nur Boxershorts? Ein richtiger Schlafanzug? Irgendwie passt alles zu ihm, aber ich konzentriere mich auf die zweite Variante, denn die würde mir am meisten gefallen.
Auch wenn ich sie niemals sehen werde. Oder vielleicht doch, bei unserem Kurztrip.
Verdammt.
»Und du? Bist du wieder gut zuhause angekommen?«
»Jepp, am späten Nachmittag.«
In den kommenden zwanzig Minuten lasse ich ihn von seinem Wochenende erzählen. Ich rutsche wieder tiefer in meinen Stuhl, lehne mich zurück und lausche mit geschlossenen Augen seiner Stimme. Es bedarf nur weniger Nachfragen, hier und da ein »Hm« oder ein »Echt?«, und er redet. Schnell wird mir klar, wie viel Zuneigung er für seine Familie empfindet – eine Familie, die erstaunlich groß ist. Beim Gedanken daran, dass ich eigentlich nur noch meine Mutter habe, die ich nicht einmal besonders oft sehe, wird mir ein bisschen mulmig. Gott sei Dank besucht sie mich bald. Während ich Timos Schilderungen lausche, wird mir erneut bewusst, wie sehr ich sie vermisse.
Und ich will, dass sie ihn kennenlernt.
Der Gedanke schockiert und beruhigt mich zugleich.
Irgendwann hört Timo, wie ich gähne, und er lacht leise auf. »Genug für heute, oder?«
Ich schnaube widerstrebend. »Wahrscheinlich wäre es besser. Aber es ist schön, dir zuzuhören. Ich bin gerade total entspannt.«
Sein Lachen dringt an mein Ohr, durchfährt mich kribbelnd. »Ich glaube, das war ein sehr nettes Kompliment, Tasha. Danke.«
»Ja, war es, du Blödmann. Es wäre cooler gewesen, wenn du es einfach so stehengelassen hättest.«
»Merke ich mir fürs nächste Mal.« Er lacht erneut auf. »Wenn du mal wieder Entspannung brauchst, können wir gerne telefonieren. Sag einfach Bescheid.«
»Erstmal fände ich es wichtiger, dass wir uns treffen«, entgleitet es mir, ehe ich es verhindern kann. Ich umkrampfe die Stuhllehne mit meiner freien Hand.
»Stimmt. Wie sieht es morgen bei dir aus? Oder Dienstag?«
»Morgen Abend muss ich arbeiten, aber Dienstag -«
»Gut. Ich hole dich ab.«
»Oh, und dann?«
Er atmet lange und laut aus. »Das lass mal meine Sorge sein. Ich freue mich.«
Eine Weile zögere ich. Es fühlt sich an, als wäre dieser Moment bedeutsam. Dann atme ich ebenfalls tief durch. »Ich freue mich auch.«