15
Timo
E s fühlt sich an wie ein Date.
Ich bin der größte Vollidiot der Welt, weil ich das glaube, aber verdammt nochmal, es fühlt sich genau so an. Und das nicht nur, weil ich sie zuhause abhole und mit ihr in ein Restaurant fahre. In ein hübsches, kleines, spanisches Restaurant, wo man Tapas bestellen und Sangria trinken kann, voller Nischen, in denen man seine Ruhe hat, oder langen Tafeln, an denen es laut zugeht.
Natürlich habe ich um eine der Nischen gebeten.
Auch nicht, weil ich ungefähr dreimal mein Outfit gewechselt habe und immer noch unsicher bin, ob ich mit Jeans und Hemd nicht zu dick auftrage. Oder weil die Jungs mich aufziehen.
Es ist das Telefonat. Ihre Stimme. Ihre Stimmung . Die Art und Weise, wie sie mir gesagt hat, dass sie sich freut.
Und das bringt mich in eine ungewohnte, aufregende, aufwühlende Position.
Ist das ein Date – ein Fake-Date? Oder nur eine Verabredung unter Freunden, unter Bekannten? Ein reines Planungstreffen für den Trip nächste Woche?
Ich habe nicht die geringste Ahnung, und meine Gedanken spielen verrückt.
Insgeheim weiß ich, was ich denke. Ich weiß, was ich mir wünsche . Ich bin überzeugt davon, dass sich etwas zwischen uns verändert hat. Dass wir längst mehr sind als zwei Menschen, die sich zufällig über den Weg gelaufen sind und eine Vereinbarung getroffen haben. Aber die Vergangenheit hat mir gezeigt, dass das, was ich glaube, und das, was wirklich geschieht, oftmals zwei unterschiedliche Paar Schuhe sind.
Schon einmal habe ich mein Herz an jemanden verloren, der sich letztlich nicht dafür interessiert hat. Auch wenn ich glaube, Zeichen bei Tasha erkannt zu haben – Zeichen, die darauf hindeuten, dass auch sie beginnt, mehr für mich zu empfinden –, weiß ich doch, dass ich mich täuschen kann.
Deshalb werden meine Handflächen feucht, während ich meinen Wagen zu ihr lenke, peinlich bedacht darauf, pünktlich zu sein.
Ich ergattere einen Parkplatz direkt vor der Haustür, weshalb ich sogar ein paar Minuten früher bin als geplant. Unwillkürlich denke ich an meinen letzten Besuch; daran, wie sie mir halbnackt die Tür geöffnet hat, weil ich auch an jenem Abend ein paar Minuten eher da war. Die Haustür ist offen, weshalb ich direkt bis in ihren Flur steige und klingle, mittlerweile erfüllt von einer summenden Aufregung, die mich auf den Fußballen wippen lässt. Ich habe gerade noch Zeit, meine feuchten Hände an der Hose abzuwischen, als die Tür bereits aufgerissen wird.
Mein erster Gedanke: Mist. Sie ist fertig angezogen.
Mein zweiter: Wow.
»Hey, da bist du ja«, begrüßt Tasha mich. Sie lächelt mich irgendwie schüchtern an, zurückhaltend. Eindeutig anders als sonst.
Ich erwidere ihr Lächeln vorsichtig. »Ja, und mal wieder bin ich etwas zu früh dran. Aber dieses Mal bist du darauf vorbereitet.«
Ihre Zurückhaltung schwindet, macht Platz für ein breites Grinsen. »Was denn, höre ich da etwa Enttäuschung? Das nächste Mal kann ich dir gerne wieder gefangen in einem Oberteil die Tür öffnen. Nur, falls du das brauchst, um in Stimmung zu kommen, oder so.«
Augenblicklich spüre ich, wie mein Blut zu kochen beginnt. Tashas Pupillen weiten sich – ob ihr bewusst geworden ist, was genau sie da gerade gesagt hat? In mir kämpfen zwei Impulse: die ewige Zurückhaltung, aus Sorge, eine Grenze zu überschreiten. Und das dringende Bedürfnis, Tasha an ihrer schmalen Taille zu umfassen und sie an mich zu ziehen, um das zu tun, woran ich schon seit Tagen denke.
Sie zu küssen.
Ehe ich mich auch nur für eine der beiden Optionen entscheiden kann, umfasst sie meine Hand und zieht mich in ihre Wohnung. Ich kann nicht anders, mein Blick wandert über ihre Kehrseite, und ich schlucke mühsam gegen den Kloß in meiner Kehle an.
Sie trägt ein Kleid. Es ist nicht das erste Mal, dass ich sie in etwas anderem als einer Jeans sehe. Als sie überraschend zum Training gekommen ist, trug sie auch schon eins, aber das hier ... ist anders. Obwohl sie mit ihrer ganzen Haltung und ihrem Äußeren so gerne eine »Scheiß-egal«-Haltung erweckt, wirkt sie auf mich dieses Mal weich. Sinnlich. Weiblich.
Alles in mir schlägt Alarm. Ich kann mir das doch einfach nicht einbilden, oder?
Ich bemerke kaum, wie Tasha mich ins Wohnzimmer zieht; zu sehr bin ich auf ihre Rückseite konzentriert. Auf den sanften Schwung ihrer Hüfte, auf ihren Po, der von dem lilafarbenen Stoff großzügig verhüllt wird. Es ist schlicht, nicht allzu verspielt, und trotzdem wird meine Kehle eng. Erst recht, als ich ihre nackten Waden sehe, ihre Fesseln, ihre Zehennägel, die im selben Farbton wie das Kleid lackiert sind. Nie habe ich mich sonderlich für Füße interessiert. Nie. Aber dieser Anblick macht etwas mit mir. Das Gesamtpaket.
Ich atme zittrig durch.
Als hätte sie bemerkt, was in mir vorgeht, dreht sie sich zu mir um, bringt den Saum ihres Kleides zum Schwingen. Ihre Augen funkeln, während sie mich beim Starren erwischt, und ihre Mundwinkel zucken. »Also gut.«
Wir bleiben stehen.
»Also gut«, gebe ich heiser zurück.
Langsam wendet sie sich mir ganz zu, ohne dabei meine Hand loszulassen, und plötzlich merke ich, wie ihr Daumen sich bewegt. Minimal, vorsichtig. Aber er tut es. Unsicherheit steht ihr ins Gesicht geschrieben. Ich sehe es an den kleinen Falten auf ihrer Stirn, an der Art und Weise, wie ihre Augen über mein Gesicht huschen. Ohne darüber nachzudenken, hebe ich meine freie Hand und streiche über ihre Wange.
Sie schmiegt sich in meine Berührung. Nur kurz, nur für den Bruchteil einer Sekunde, sinken ihre Lider herab.
Ich halte den Atem an.
»Wir ... wir müssen los, oder?«, murmelt sie plötzlich, tritt einen Schritt zurück und entzieht sich so meiner Berührung. Selbst meine Hand lässt sie los, als hätte sie plötzlich Feuer gefangen. Ich erkenne ihre Handlung als das, was es ist: Ausdruck ihrer Unsicherheit.
Mir geht es verdammt nochmal haargenau so. Aber dieses Mal entschließe ich mich, nicht nachzugeben. Ich höre nicht auf mein Zögern, sondern folge ihr, umfasse ihr Gesicht mit beiden Händen und dirigiere es so, dass ich richtigen Zugang zu ihrem Mund habe.
Und dann küsse ich sie.
Für einen kleinen Moment fürchte ich, zu weit gegangen zu sein. Sie gibt ein Geräusch von sich, das beinahe nach Protest klingt. Aber nur beinahe. Ehe ich dem nachgehen, ehe ich meinen Verstand einschalten und zurückweichen kann, schlingt sie ihre Arme um mich, klammert sich an mir fest, als würde sie ohne mich den Halt verlieren, und öffnet mir ihren Mund.
Stöhnend folge ich ihrer stummen Aufforderung und lasse meine Zunge zwischen ihre Lippen gleiten. Sie erwartet mich bereits. Keine Spur des Zögerns mehr. Keine Zurückhaltung.
Und kein Spiel für irgendjemanden.
Es geht nur um uns.
Meine Hände wandern nach hinten, bis meine Finger ihr weiches, kurzes Haar berühren und ihren Nacken. Ein Seufzen aus meinem tiefsten Inneren bahnt sich einen Weg nach draußen.
Tasha erschaudert unter meiner Berührung.
Sie erschaudert.
Ein kribbelndes, elektrisierendes Glücksgefühl übermannt mich. All die Sorgen, sie waren umsonst. Natürlich ist das hier längst mehr. Mehr, als ich erwartet, als ich mir ausgemalt habe. Und ihr geht es genauso. Sämtliche Hoffnung, die Freude – ich lege sie in meinen Kuss, verleihe ihnen durch meine Lippen Ausdruck, und schon bald bemerke ich, dass dies nicht spurlos an mir vorbei geht.
In meiner Hose wird es verdammt eng.
Es wäre so leicht, sich darauf einzulassen. Sich von dem leiten zu lassen, was sich gerade zwischen uns aufstaut. Gott, ich will es so sehr. Mittlerweile ist es Monate her, dass ich Sex hatte, und mein Körper reagiert ausgesprochen stark auf diese widersprüchliche Frau in meinen Armen. Wie gerne hätte ich sie nun in ihr Schlafzimmer geschleppt, hätte mich sogar mit ihrer Couch zufriedengegeben. Date beim Spanier? Geschenkt. Das könnte man auch nachholen.
Doch genau wegen dieser Gedanken werde ich langsamer, ziehe mich aus ihrem Mund zurück. Spiele vorsichtig mit den Zähnen an ihrer Unterlippe, ehe ich auch sie freigebe. Schwer atmend bin nun ich derjenige, der einen Schritt zurückweicht.
Sie blickt mich heftig bebend an, mit verschleierter Miene und so roten, geschwollenen Lippen, dass mein Entschluss ins Wanken gerät.
Aber nein.
Da steht noch zu viel im Raum. So einfach es auch wäre, miteinander ins Bett zu steigen, so kompliziert könnte es danach werden. Und das will ich nicht. Ich will ... es richtig angehen.
Dazu gehört dieses Date heute – außerhalb ihrer Wohnung. Öffentlich. Und in dem vollen Bewusstsein, dass ich jegliche Farce beiseiteschiebe. Das, was ich hier mache, das bin ich. Ich kann nur hoffen, dass Tasha es genauso sieht.
Sie räuspert sich leise. »Also ...«
Ich kann nicht anders. Erneut berühre ich sie im Gesicht. Streiche über die roten Flecken, die ihre Wangen bedecken, und dirigiere sie dann mit dem Finger unter ihrem Kinn so, dass unsere Blicke sich begegnen. »Der Tisch. Ich würde wirklich gerne erst mit dir ausgehen.«
Ihre Miene klärt sich merklich, allerdings vertieft sich die Röte in ihren Wangen. Sie sieht so unsicher aus, so verlegen, dass ihr mein Herz förmlich entgegenspringt.
Was ist nur in der vergangenen Woche geschehen? In den vergangenen Wochen? Ich kann es kaum fassen.
»Ja, klar. Natürlich. Der Tisch.« Sie blinzelt. »Wohin wollen wir eigentlich?«
Ich atme tief durch. Gar nicht so leicht, sich nicht auf die Erregung zu konzentrieren, auf die Enge in meiner Jeans, von der ich hoffe, dass sie sie nicht bemerkt hat. Oder doch? »Ich habe ...« Meine Stimme kratzt, weshalb ich mich räuspere. »... uns einen Tisch beim Spanier reserviert. Ich hoffe, dir sind Tapas recht?«
Ihre Augen leuchten auf. »Machst du Witze? Ich liebe Tapas! Eine grandiose Idee! Worauf warten wir? Ich habe Hunger.«
Das Restaurant befindet sich ganz in der Nähe der Trattoria . Schön zentral und nahe eines Parks, in den man anschließend noch einen kleinen Abstecher machen könnte, sollte uns danach sein. Ich weiß, dass auch Daniel und Fee in einem der Läden unweit vom Park eines ihrer ersten Dates hatten; es kommt mir ein bisschen wie ein gutes Omen vor, Tasha nun hier auszuführen. Unweit der Restaurantmeile befindet sich ein öffentlicher Parkplatz, auf dem ich noch eine freie Lücke ergattere. Als ich um den Wagen eile, um Tasha beim Aussteigen behilflich zu sein, reicht sie mir ihre Hand.
Sie zieht sich nicht zurück, auch nicht, als sie sicher neben mir steht, mit diesem fruchtigen Duft und großen, runden Augen, und so sanft, dass ich mich nicht zum ersten Mal frage, wann genau diese Veränderung stattgefunden hat. Händchenhaltend mit ihr zum Spanier zu schlendern stellt wilde Dinge mit mir an. Schon verrückt, wie eine so kleine Geste alles ändern kann. Dieses Mal bin ich derjenige, der gelegentlich mit dem Daumen zuckt und so über ihre Hand streicht. Jedes Mal atmet sie scharf ein, und ich betrachte es als kleinen Sieg. Als richtiges Zeichen. Als ... Hoffnung.
In wenigen Minuten haben wir unser Ziel erreicht. Ich öffne die Tür, überlasse Tasha aber den Vortritt. Nicht, weil ich ihr auf den Hintern starren will, aber es ist ein durchaus angenehmer Nebeneffekt. Ein kleiner, rundlicher, strahlender Mann führt uns an einen Tisch im hinteren Bereich des langgezogenen, schmalen Restaurants, vorbei an den besagten Tafeln, die allesamt besetzt sind. Der Raum ist beherrscht von warmen Orange-, Gelb- und Terrakottatönen, ein überwältigender Geruch von Zitronen, Fleisch und Knoblauch liegt in der Luft.
Mein Magen rumpelt lautstark. Auch ich habe Hunger mitgebracht.
»Bitte schön.« Lächelnd deutet der Mann auf einen kleinen Tisch, der von kunstvoll geschnitzten Holzelementen eingerahmt ist, sodass wir sicht- und auch etwas lärmgeschützt sitzen. Ich weiß, dass es sich bei ihm um den Besitzer des Ladens handelt, und nicht zum ersten Mal beeindruckt es mich, dass er sich selbst für solche Aufgaben nicht zu schade ist.
Ich bedanke mich, ehe ich Tasha bedeute, auf die Bank zu gleiten, die drei Seiten des Tisches einfasst. Dann nehme ich ihr gegenüber Platz.
»Um ehrlich zu sein, war ich noch nie hier«, murmelt sie, kaum dass wir alleine sind.
Überrascht hebe ich meine Augenbrauen. »Aber sagtest du nicht, Tapas -«
»Ja, sicher.« Sie unterbricht mich eilig. »Aber ich war noch nie hier . Weißt du, das hier ist nicht das einzige spanische Restaurant auf der Welt, Timo.«
»Oh, achso.« Augenblicklich drängen sich mir Bilder von einer jüngeren Tasha auf, eine, die mit ihrem damaligen Freund ausgegangen ist. Irrationale Eifersucht flammt in mir auf, die ich sogleich wieder verdränge. Immerhin ist sie jetzt mit mir hier. Und das zählt, viel mehr auf jeden Fall als irgendeine vergangene Verabredung mit einem anderen Kerl. Ich sehe, wir ihr Blick zu dem schmalen Zettel wandert, der nebst Stift vor der Karte liegt, und greife lächelnd danach. »Hier sind sämtliche Gerichte der Speisekarte aufgelistet. Wir können ankreuzen, was wir bestellen wollen, und geben dem Kellner nachher einfach den Zettel mit. So kommen wir nicht durcheinander – und er auch nicht.« Meine rechte Augenbraue wandert langsam in die Höhe. »Oder war dir das auch schon bewusst?«
Sie schüttelt stumm den Kopf, verzieht aber ihre Mundwinkel und sieht kurz so aus, als hätte sie in etwas Saures gebissen. Oder als wolle sie mir einen beherzten Tritt vors Schienbein verpassen. Vorsorglich ziehe ich meine Füße unter die Bank.
Dann werfe ich ihr einen fragenden Blick zu. »Sollen wir?«
»Ich würde gern erst schauen, was ich trinken möchte, wenn das okay ist.« Mit einem Mal klingt sie so förmlich; beinahe steif.
Ich verkneife mir ein Lächeln. »Natürlich. Die weiße Sangria soll toll sein.«
»Alleine trinken ist merkwürdig«, gibt sie entschieden zurück.
Ich zucke mit den Schultern. »Ich würde auch ein Glas nehmen, wenn es darum geht.«
Sie blickt mich scharf an. »Du bist mit dem Auto hier. Solltest du dann nicht auf Alkohol verzichten? Du weißt schon, Null-Toleranz-Politik, Vorbild und so?«
Ich schiebe meine Hand über den Tisch, ergreife ihre und drücke sanft zu. »Sobald ich einen Schluck getrunken habe, bleibt der Wagen stehen. Er hat einen guten Platz und es gibt ausreichend Taxis in der Innenstadt, die uns sicher gerne heimbringen werden. Sollen wir eine Karaffe nehmen?«
Eine Weile mustert sie mich. Ihre Lippen bewegen sich sachte, ohne dass ein Laut hervorkommt. Schließlich nickt sie mir zu. »Na gut. Von mir aus. Dann hätten wir das geklärt.« Begleitet werden ihre Worte von einem Magengrummeln, das diesmal nicht von mir kommt.
Lächelnd schlage ich die Karte auf. »Ich schätze, wir sollten zusehen, dass wir bestellen.«
Nach und nach gehen wir die einzelnen Tapas durch. Wann immer Tashas Augen aufleuchten, ihre Lippen zucken oder sie auf andere Weise deutlich macht, dass sie sich darüber freuen würde, mache ich ein kleines Kreuz auf der Bestellliste. An manchen Stellen kommen erst gar keine Zweifel auf – ich muss das Wort »Aioli« nicht einmal richtig aussprechen, da nickt sie schon heftig. Und auch die patatas bravas werden mit einem dicken Kreuz markiert, nachdem sie mich sogar extra darauf hingewiesen hat. Zweimal.
Nach wenigen Minuten kommt ein Kellner vorbei, um unsere Getränkebestellung aufzunehmen. Nicht mehr der Herr von eben, sondern ein recht junger Kerl, fröhlich grinsend und voller Energie. Er unterbricht uns bei den Fleischgerichten. »Offenbar kennen Sie sich aus, ich muss Ihnen also nicht erklären, wie das Bestellen funktioniert«, erklärt er grinsend und deutet auf Zettel und Stift vor mir.
»Ich war bereits ein paar Mal hier und kenne den Ablauf. Danke.«
Tasha schnaubt leise. Ich bilde mir ein, ein leises »Was kannst du auch nicht?« zu hören, ignoriere es aber und bestelle stattdessen weiße Sangria und eine Flasche Wasser.
Im Anschluss gehen wir noch den letzten Abschnitt der Karte durch. Ich kreuze die Chorizo an, Hackbällchen und Knoblauchgarnelen, und schließlich sind wir fertig.
»Mist.« Ich lache auf.
Tasha mustert mich mit schräggelegtem Kopf. »Was ist?«
Ich zeige ihr den Zettel. Insgesamt haben wir neun Kreuze gesetzt.
»Und?« Sie wirkt ehrlich verwirrt. Ihre Augen huschen über den schmalen Zettel, ehe sie mich erneut fixiert. »Wo liegt das Problem?«
Ich lache auf. »Normalerweise kalkuliert man so mit drei Tapas pro Person. Wir haben ein bisschen mehr ausgewählt. Bestimmt schaut uns der Kellner gleich schräg an.«
»Hm.« Tasha schiebt ihre Unterlippe vor und tippt mit ihrem Zeigefinger dagegen. In diesem Moment kann ich mich auf nichts anderes konzentrieren als auf diese Geste. Mein Mund wird trocken, und ich wünsche mir, ihr Finger zu sein. Ich wünsche mir, direkt neben ihr zu sitzen, ihr Handgelenk zu umfassen, und mir einen freien Zugriff auf ihren Mund zu ermöglichen.
Aber ich bleibe sitzen.
»Spielt das denn eine Rolle? Ich habe keine Ahnung, worauf wir verzichten sollen. Außerdem habe ich Hunger.«
In diesem Moment kommt der Kellner zurück, mit großen, bauchigen Weingläsern, einer Karaffe mit einer hellgelben Flüssigkeit, in der Melonen-, Apfel- und Erdbeerstückchen schwimmen, sowie dem Wasser mit zwei winzigen Gläsern. Er gießt uns ein, und als ich ihm den Zettel mit den Tapas überreiche, wirkt er tatsächlich kurz überrascht. Dann jedoch nickt er mir grinsend zu und verschwindet wortlos Richtung Küche.
»Das war leicht«, murmelt Tasha amüsiert.
Unsere Blicke treffen sich, und ich muss grinsen. »Ja. Wahrscheinlich hat er erkannt, was für ein Vielfraß -«
»Stopp!«, unterbricht sie mich heftig, mit erhobener Hand. »Du solltest ganz genau überlegen, was du nun sagen willst. Ich biete dir die Chance, einen Rückzieher zu machen. Denk daran, wie zerbrechlich das Ego einer Frau sein kann.«
»- ich bin«, führe ich meinen Satz zu Ende. Mit heftig zitternden Mundwinkeln.
Sie schüttelt den Kopf.
Wir nehmen unsere Gläser und prosten uns über den Tisch hinweg zu. Riesige, überdimensional lange Zahnstocher stecken in ihnen, damit man damit die Früchte aufspießen kann. Ich für meinen Teil muss aufpassen, dass ich mir damit nicht in eines meiner Augen steche, während ich einen ersten Schluck nehme.
Tasha seufzt auf. »Nie wieder trinke ich die klassische, rote Sangria, die man überall bekommt.«
Zufrieden stelle ich mein Glas unverletzt wieder ab. Es erfüllt mich mit Wärme, dass ich ihr das Richtige empfohlen habe. Irgendwie hat es was von einem urtümlichen Höhlenmensch-Gefühl: Hugh, ich habe Frauchen das Richtige gebracht. Oder so.
Schweigen kehrt zwischen uns ein. An einem der langen Tische rechts von uns sitzt eine ausgesprochen fröhliche Gesellschaft, deren Gelächter überdeutlich den Raum erfüllt. Irgendwo hinter uns, in einer anderen Nische, befindet sich ein weiteres Pärchen, das leise miteinander spricht, und im Hintergrund spielt fröhliche, spanische Musik. Ich spüre, wie mir der Schweiß ausbricht; Nervosität raubt mir kontinuierlich die Luft und ich beginne, krampfhaft nach einem Thema zu suchen, mit dem ich die Stille füllen kann.
Tasha kommt mir zuvor, ehe ich sinnloses Zeug auf den Tisch bringe. »Dann lass uns doch mal über das Wichtigste sprechen – nächste Woche.«
Einerseits hätte ich mir gewünscht, dass wir uns einer in meinen Augen bedeutend wichtigeren Frage stellen – nämlich, was das zwischen uns geworden ist – aber auch dieses Thema ist in Ordnung. Immerhin geht es dabei um einen gemeinsamen Ausflug. Über Nacht. In einem Bett.
Ich schlucke hart.
Tasha scheint zum Glück nicht zu bemerken, was in mir vorgeht; was weiter unten sogar sichtbar geschieht. Ihre Mundwinkel zucken ein wenig in die Höhe, sie wirkt aufgeregt und nervös zugleich. »Was muss ich alles mitbringen? Wie ist euer Plan? Wann starten wir?«
»Eins nach dem anderen.« Schmunzelnd hebe ich meine Hand, um sie zu unterbrechen, ehe ich damit ihre freie ergreife. Die, die nicht unaufhörlich am Stiel des Sangria-Glases herumspielt. Kurz wird ihr Blick unklar, doch dann hebt sie wieder ihr Kinn. Ihre faszinierenden Augen funkeln mich an.
»Abgesehen von den Klamotten, die du brauchst, musst du nichts mitbringen. Es, ähm, gibt einen Whirlpool – und natürlich den See. Also wenn du einen Bikini oder so einpacken willst. Einkaufen werden wir gemeinsam vor Ort. Wenn du irgendwelche besonderen Lebensmittel brauchst, aus Allergiegründen oder so, oder Medikamente oder irgendetwas in der Art, dann kannst du dich ja selber darum kümmern. Aber eigentlich brauchst du nicht viel mehr als gute Laune und Lust auf ein paar entspannte Tage.« Ich schnaube auf. »So entspannt es mit uns eben sein kann.«
Sie sieht mich schon wieder so nachdenklich an. In diesem Moment hätte ich alles darum gegeben, in ihren Kopf schlüpfen und herausfinden zu können, was wirklich darin vorgeht. »Und was ist mit Handtüchern? Bettwäsche?«
An der Art und Weise, wie sie das letzte Wort betont, wird mir absolut klar, dass es ihr vor allem um dieses eine Thema geht. Natürlich. Auch mein Herz beginnt jedes Mal heftiger zu schlagen, wenn ich daran denke, dass wir drei Nächte miteinander verbringen werden. In ein- und demselben Raum. Das wird anders als jene erste Nacht, die ich bei ihr geschlafen habe. Selbst wenn wir das Zimmer mit den Einzelbetten nehmen. »Alles vorhanden«, bringe ich rau hervor. »Wir haben es so gebucht.«
Unsere Blicke treffen sich. Ich schwöre, es fühlt sich an, als würde sie mich einzig mit ihren Augen berühren. Wie viel sagt es über mich aus, dass ich schon davon nicht genug bekommen kann? Wie sehr habe ich mich bereits in eine Katastrophe geritten?
»Damit wären wir beim nächsten Thema. Das Geld ...«
»Nein.« Heftig kopfschüttelnd lehne ich mich zurück, verschränke sogar die Arme vor der Brust und nehme dafür in Kauf, dass wir uns nicht mehr berühren. »An dieser Stelle lasse ich auch nicht mit mir diskutieren. Der Trip geht auf mich.«
»Vergiss es!« Tashas Augen werden ganz schmal. »Wie viel bekommt ihr von mir? Oder du?«
»Nichts.« Meine Augenbrauen treffen sich in der Mitte. »Es ist okay, Tasha.«
»Nein, ist es nicht! Ich will -«
»Es geht los!« Was auch immer sie will – unser fröhlicher Kellner unterbricht diese Diskussion mit einem beherzten Hüftschwung und einer künstlerischen Drehung. Ein langer, schmaler Brotkorb mit Baguette und zwei Schälchen Aioli landet zwischen uns, dazu eine Käseplatte und Oliven. »Buen apetito!«
Ebenso schnell, wie er neben uns aufgetaucht ist, verschwindet er schon wieder. Offenbar hat er alle Hände voll zu tun. Ich greife nach einer Scheibe Baguette und bestreiche sie mit etwas Aioli. »Lass es dir schmecken.«
Tasha mustert erst mich, dann das Brot, und ein nicht allzu schwer deutbarer Ausdruck von Irritation umspielt ihre Mundwinkel. Dann seufzt sie leise auf und greift ebenfalls nach Brot. »Ach, was soll’s. Aber dieses Thema ist noch nicht durch.«
Das denkst auch nur du. Zum Glück schießen mir diese Worte nur durch den Kopf, denn laut ausgesprochen hätten sie vielleicht für eine weitere Diskussion gesorgt. Stattdessen erfreue ich mich an dem Anblick einer verzückten Tasha, die offenbar höchsten Gefallen an der Aioli findet.
Und an dem Käse.
Und an allem Weiteren, was uns im Laufe der nächsten Stunde nach und nach an den Tisch gebracht wird.
Uns ist beiden klar, dass wir noch längst nicht alles besprochen haben. Dieses Treffen hatte jetzt nicht gerade den Sinn, zu diskutieren, ob wir Bettzeug einpacken müssen oder nicht. Es gibt viel wichtigere Dinge; zum Beispiel die Frage, wie es mit uns weitergeht, ob es zu Problemen kommen wird, wenn wir das Zimmer teilen - all so etwas. Komplizierte Dinge; komplizierter als Kleidung und Medikamente und Nahrungsmittel allemal. Manche Dinge kann man zur Not vor Ort kaufen. Starke Nerven, funktionierende Herzen oder klaren Verstand eher nicht.
Aber wir umschiffen diese Themen, plaudern ein wenig über belangloses Zeug, erfreuen uns an dem Essen. Und immer wieder berühren wir uns beiläufig, sowohl unterhalb als auch oberhalb der Tischplatte.
Mit jeder einzelnen Berührung wird das Kribbeln in meiner Magengrube stärker.
Die Sangria ist gut. Frisch und süß, aber nicht zu schwer. Ich trinke zwei Gläser und spüre bereits, wie der Alkohol mir die Hitze ins Gesicht treibt.
Als die letzten Tapas gebracht werden - Garnelen in Knoblauchöl und Chorizo in Rotweinsoße, so heiß, dass sie noch in ihren Keramiktöpfen zischen, reibt Tasha sich bereits über den Bauch.
»Bestimmt platze ich gleich.«
Amüsiert blicke ich in ihr Gesicht. Es ist von einer sanften Röte überzogen, und an ihren Augen erkenne ich, dass auch sie bereits den Alkohol bemerkt. Sie wirkt entspannt. »Ich kann gerne den Rest essen.«
»Nichts da!« Zischend hebt sie ihre Gabel und tut so, als wäre sie bereit, in meine Hand zu hacken, wenn ich meine Worte wahr werden lasse.
Grinsend schiebe ich ihr die Töpfchen zu. »Nimm so viel, wie du möchtest. Ich esse dann, was übrig bleibt.«
Misstrauisch schielt sie immer wieder zu mir rüber, während sie sich etwas weniger als die Hälfte der Tapas nimmt. Ich vermute, dass sie nur so tut, weshalb ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen kann.
»Bist du nervös?«, fragt sie mich so unvermittelt, dass meine zuckenden Mundwinkel gefrieren. Langsam lehne ich mich zurück und mustere sie zurückhaltend.
»Was meinst du?«
Sie legt ihren Kopf leicht schräg. Ihre rosafarbene Strähne verrutscht ein wenig, was kurz meine Aufmerksamkeit bindet; dann jedoch konzentriere ich mich wieder ganz auf ihre Augen. Und die wirken plötzlich sehr ernst. »Wegen des Ausflugs. Wir werden drei Tage auf engstem Raum aufeinanderkleben, wir alle.«
Schlagartig wird mir klar, worauf sie hinauswill, dennoch stelle ich mich dumm. »Na ja, ich wohne mit den Jungs zusammen und wir teilen ein intensives Hobby. Genau genommen kleben wir immer aufeinander.«
Ihre Ernsthaftigkeit wankt, für einen kurzen Moment sieht sie sogar unsicher aus. »Ich weiß«, murmelt sie leise. »Ich meinte auch eigentlich eher wegen ...« Ihre Worte versiegen. Anstatt auszusprechen, was sie meint, deutet sie schwach zwischen uns beiden hin und her.
»Du meinst wegen unseres Spiels«, stelle ich nüchtern fest.
Ihre Augen weiten sich etwas. »Wenn du es so nennen willst.«
Er ist gekommen. Der Moment. Ich weiß nicht, wie genau ich ihn mir vorgestellt habe. Irgendwie anders – aber woher soll ich schon wissen, was gut ist? Besser? Mein Puls beschleunigt sich so heftig, dass ich das Blut in meinen Ohren rauschen höre, und ich muss gegen den Impuls ankämpfen, mich an der Tischplatte festzuklammern. Kurz, ganz kurz flammt eine unschöne Erinnerung in mir auf. Vor vielen Wochen, als ich mit Helena beim Griechen saß, und dort alles auf eine Karte gesetzt habe.
Und verlor.
Ich versuche, es nicht als schlechtes Omen zu betrachten, atme tief durch und stelle mich ihrem Blick. So selbstsicher, wie es mir nur möglich ist. Dann greife ich über den Tisch nach ihrer rechten Hand. »Um ehrlich zu sein, glaube ich, dass wir unser Spiel bereits hinter uns gelassen haben. Oder wie siehst du das?«
Ihre Lippen teilen sich minimal, und ein leises Zischen dringt aus ihrem Mund. Womöglich bilde ich es mir nur ein, aber die Röte in ihrem Gesicht scheint sich zu vertiefen. Ihre Hand, die ich halte, zuckt ganz leicht. Im ersten Moment glaube ich, sie will sich meinem Griff entziehen, und mein Herz rast auf direktem Weg in die Hose, doch dann ...
Erwidert sie den Druck. Sie senkt ihren Blick, nur um mich dann durch ihre dunklen Wimpern hindurch zu mustern, gleichzeitig schüchtern und irgendwie verschlagen.
Mein Innerstes scheint sich bei diesem Anblick zu verflüssigen.
»Ich glaube schon«, bringt sie schließlich leise hervor.
In meiner Wunschvorstellung hätte sie das glücklich gesagt. Aufgeregt. Meine Hoffnung bekommt einen scharfen Dämpfer, als mir klar wird, dass sie irgendwie gequält wirkt.
»Tasha?« Kurzentschlossen rutsche ich auf der Bank herum, bis ich direkt neben ihr sitze. »Was ist los?«
Im ersten Moment glaube ich, dass sie mir nicht antworten wird. Ein Teil von mir erwartet sogar, dass sie aufspringt und davonrennt. Doch dann hebt sie ihren Blick und sieht mich mit so viel Schmerz an, dass die Wärme in mir erlischt. Sie entzieht mir ihre Hand, um die Arme vor der Brust zu verschränken. Diese Geste fühlt sich an wie eine schreckliche Ohrfeige.
Okay, das war’s. Erneut hat es nichts gebracht, alles auf eine Karte zu setzen. Ich werde es wohl nie lernen.
»Timo ...« Sie atmet tief durch. Ihr Blick klärt sich ein bisschen. »Als ich vor zwei Jahren hergezogen bin, hatte das einen ganz bestimmten Grund.«
Ich versuche, mir meine Verletztheit nicht anmerken zu lassen, aber ich komme mir so dämlich vor. Ein Brennen in meiner Kehle, direkt unter dem Kiefer, hindert mich daran, etwas zu sagen, also nicke ich nur. Ich zwinge mich, ihren Blick zu erwidern, auch wenn es mir alles abverlangt. Gott, ich bin so ein Idiot. Für einen winzigen Moment habe ich geglaubt, dass es diesmal klappen würde. Dass ich ... die Zeichen richtig gedeutet habe. So kurz vorm Ziel zu scheitern, ist ein heftiger Schlag ins Gesicht.
Sie seufzt leise auf – und überrascht mich, indem sie ihre Arme wieder löst. Nun ist sie diejenige, die nach meiner Hand greift, und sie beginnt, mit dem Zeigefinger Kreise auf meine Handinnenfläche zu malen. »Ich war schrecklich verliebt. Auf eine ‚mit-ihm-werde-ich-sicher-alt‘- Art und Weise.«
»Genau das, was ich jetzt hören muss«, brumme ich leise auf.
Sie versetzt mir einen Tritt gegen die Wade. Irritierenderweise macht mir diese Geste etwas Hoffnung; trotz allem. »Er hat mir ziemlich weh getan. Dabei habe ich immer gedacht, er gehört zu den Guten. Paul war ...« Sie seufzt erneut auf; dieses Mal klingt es erschütternd schmerzlich. Instinktiv schließe ich meine Hand um ihre. Unsere Blicke treffen sich, sie sieht aus, als wollte sie sich bei mir entschuldigen. »Er war ein bisschen wie du.«
Ich zucke zurück. »Wie ich? Was zum Teufel meinst du?«
Mit ihrer freien Hand streicht sie sich ihr Haar zurück, dann greift sie nach ihrem Glas und setzt es an, nur um festzustellen, dass es bereits leer ist. So wie auch die Karaffe. Sie schließt kurz die Augen. »Er war einfach gut. Lieb, aufmerksam, kein Player. Keiner von den Kerlen, bei denen man glaubt, aufpassen zu müssen. Die zu ihrem Wort stehen, mit denen man in die Zukunft planen kann. Und die einen nicht betrügen.«
Etwas äußerst Kompliziertes geschieht mit ihr. Zunächst dauert es einen Moment, aber dann wird mir bewusst, was genau Tasha da eigentlich gerade sagt. Sie spricht ziemlich positiv von ihrem Ex – einem Ex, den sie mit mir verglichen hat. Ein Bild von Zuverlässigkeit und Beständigkeit und Zukunftsplänen. Aber dann ...
Ich atme zischend ein. »Er hat dich betrogen.«
Nun blickt sie mich geradeheraus an. Keine Zweifel. Keine Zurückhaltung. Schmerz, aber auch eine altkluge Weitsicht, die mir beinahe jede Illusion nimmt. »Ja, genau. Über einen längeren Zeitraum sogar. Ich habe es nur zufällig erfahren. Habe eine wichtige Lektion gelernt.«
»Und die wäre?« Meine Stimme ist nicht mehr als ein leises Flüstern.
Sie atmet tief durch. »Dass alles keine Bedeutung hat. Jedes noch so aufrichtig geflüsterte Versprechen zählt einfach nicht, da es früher oder später gebrochen wird. Das liegt in der Natur des Menschen. Weißt du, er war eigentlich einer von den Guten. Und doch hat er mich verletzt. Wenn er nicht so gewesen wäre, wie er war, hätte es mich vielleicht nicht ganz so sehr getroffen. Aber ich habe einfach nicht damit gerechnet, verstehst du? Und das hat mich ... na ja. Es hat mich zerstört.«
Ich blicke sie an, wortlos. Unsicher, was ich nun tun soll.
Sie zuckt mit den Schultern. »Ich habe meine Zelte abgerissen und hier einen Neuanfang gewagt. Alleine. Ich wollte niemanden in meinem Leben, der mich verletzen kann. Bis ...«
»... ich kam.«
»Ja. Du. Und deine Freunde.«
Schweigen breitet sich zwischen uns aus. Noch immer halten wir einander. Ich sitze neben ihr. Aber ich habe nicht die geringste Ahnung, was ich denken soll. Es fühlt sich an, als würde sich zwischen uns ein riesiger Graben befinden. Der Umstand, dass ich lediglich meine Schultern kippen muss, um ihre zu berühren, ändert nichts an dem Gefühl, sie verloren zu haben.
Bevor ich sie überhaupt jemals richtig hatte.
Ich atme tief und langsam durch, um die Wut auf einen Unbekannten hinunterzuschlucken. Paul. Irgendein Typ, der seinen Schwanz nicht bei sich behalten, den Wert einer Beziehung nicht schätzen konnte. Wie ich solche Typen verachte!
Unser Kellner eilt vorbei, wirft uns einen fragenden Blick zu, bleibt jedoch nicht stehen, als er bemerkt, dass wir ihn nicht brauchen. Guter Mann.
Tasha atmet leise aus, dann rutscht sie etwas auf ihrem Platz herum. Als ich ihr einen erneuten Blick zuwerfe, sehe ich, dass sie mich mit großen Augen mustert.
Sie sieht ängstlich aus.
»Und jetzt?«, frage ich sie leise.
Langsam, wie in Zeitlupe löst sie ihre Hand aus meiner, nur um sie an mein Gesicht zu heben. Diese Berührung schmerzt beinahe, so viel löst sie in mir aus. Ich hebe meine eigene Hand, lege sie über ihre, presse sie damit an meine Haut, und atme so tief durch, dass mein ganzer Körper erzittert.
»Ich bin nicht wie Paul«, erkläre ich mit fester Stimme. »Ich könnte dir nie so etwas antun, Tasha. Niemals.«
»Ich möchte am liebsten sagen, dass ich das weiß, aber -«
Ehe sie weiterreden kann, beuge ich mich zu ihr und verschließe ihre Lippen mit meinen. Ich verschlucke ihre Worte, in der Hoffnung, dass sie damit einfach aufhören zu existieren, dass ihre Bedeutung nachlässt. Und ich lege all meine Gefühle für sie in diesen Kuss.
Im ersten Moment glaube ich, dass sie zurückweichen wird, doch dann drängt sie sich mir entgegen. So sehr es der beengte Platz zulässt, schmiegt sie sich an mich, und ich schlinge meine Arme um sie. Das Brennen in meiner Kehle weicht einem anderen Gefühl. Ein aufgeregtes Pochen, das mir die Luft abschneidet, aber auf gute Art und Weise. Überall dort, wo Tasha mich berührt, wo ich sie berühre, fängt meine Haut Feuer. Die Tischplatte schneidet in meine Seite, ich stoße mein Knie an der Bank, aber ich muss ihr näher sein.
Ich muss es einfach.
Sie öffnet mir ihren Mund.
So dringlich meine Gefühle sind, so heftig mein Bedürfnis, all ihre Zweifel mit diesem Kuss zu verschlucken, so viel Zärtlichkeit lege ich in ihn. Dieses Mal ist es anders. Es geht weder darum, irgendwem etwas vorzuspielen, noch, ein irrationales Bedürfnis zu befriedigen, das uns hinterrücks überfallen hat.
Nein.
Es geht um so viel mehr.
Nach und nach erfasst mich eine Gänsehaut, sie überzieht meinen gesamten Körper und lässt mich erschaudern.
»Ist dir kalt, Timo Zufall?«, murmelt Tasha an meinen Lippen; mit rauer Stimme, aber da ist noch mehr.
Widerwillig löse ich mich von ihr, nur um den schönsten Anblick präsentiert zu bekommen, den ich mir vorstellen kann. Tashas Lider sind halb geschlossen, ihre Wangen von einem so niedlichen Rosa überzogen, dass mir ganz warm wird, und ihre Lippen glänzen herrlich. Sanft streiche ich ihr ein paar Strähnen aus der Stirn. »Ich dachte, wir wären beim coolen Typ angelangt.« Als sie leise auflacht, rede ich weiter. »Nein. Ich bin einfach überwältigt.«
Etwas blitzt in ihren Augen auf; womöglich ist es Angst. Obwohl es weh tut, versuche ich, es nicht an mich heranzulassen. Ihre Worte sind mir noch mehr als deutlich ins Gedächtnis geschrieben. Tasha wurde schwer verletzt, ihr Vertrauen zerstört. Kein Wunder also, dass sie vorsichtig ist.
Es liegt nun an mir, ihr zu beweisen, dass es anders sein kann, und ich bin gewillt, mein Bestes zu geben.
»Möchtest du noch etwas bestellen? Oder sollen wir gehen?«
Ihre Augen huschen hin und her, als würde sie mein Gesicht nach etwas absuchen. Wie zurückhaltend sie auf einmal ist. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Mit dieser neuen Facette muss ich erst einmal lernen umzugehen.
»Wir können auch bleiben, ohne etwas zu bestellen«, füge ich lahm hinzu, was sie erneut zum Lachen bringt.
»Schon gut. Wir bezahlen. Ein bisschen frische Luft wäre jetzt gar nicht schlecht.«
Es gab eine kleine Diskussion, als sich herausstellte, dass Tasha mit »wir« tatsächlich »wir« meinte, während ich bereits im Vorfeld beschlossen hatte, sie einzuladen. Wenn es darum geht, ihre Selbstständigkeit zu beweisen, ist diese Frau ein echter Dickschädel. Zum Glück ist meiner dicker, wenn es darauf ankommt, und mein Arm länger.
Außerdem hatte ich einen unverhofften Komplizen: Unser lustiger Kellner scheint dem alten Rollenbild zugeneigt zu sein, was bedeutet, dass Männer unterstützt werden müssen, die ihre Herzensdamen einladen wollen.
Seine Worte, nicht meine. Aber ich konnte mich gut damit identifizieren.
Letztlich ging die Rechnung also auf mich, wenn auch unter Tashas Protest. Und dass Tasha mir im Anschluss nicht bereitwillig ihre Hand gereicht oder sich bei mir eingehakt hat, ist kein allzu großes Wunder. Immerhin war sie nicht abgeneigt, als ich ihr vorgeschlagen habe, noch ein wenig in den nahegelegenen Park zu gehen und den Abend dadurch ein wenig zu verlängern.
Nun laufen wir hier her. Dicht beieinander, ohne uns zu berühren. Jede Faser meines Körpers sehnt sich danach, etwas an diesem Umstand zu ändern, aber ich will sie nicht überfordern. Es fühlt sich an, als hätte sie mir ein Zugeständnis gemacht, als wäre sie mir einen Schritt entgegengekommen. Das letzte, was ich nun will, ist, diesen Fortschritt zu gefährden, also überlasse ich es ihr, das Tempo vorzugeben, so schwer es mir auch fällt.
Erfüllt von einer wilden Mischung aus Hoffnung und Zurückhaltung schiebe ich meine Hände tief in die Hosentaschen und schaue überall hin, nur nicht zu der Frau, die direkt neben mir her läuft.
»Hier habt ihr auch ein Video gedreht, oder?«
Überrascht zuckt mein Blick zur Seite. Weder habe ich damit gerechnet, dass sie so schnell wieder mit mir redet, noch mit diesem Thema. »Du hast unsere Videos angesehen?«
»Natürlich, du Blödmann!« Sie rammt mir ihren Ellenbogen in die Seite. »Als ich erst einmal wusste, womit du dir deine Zeit vertreibst, war ich neugierig. Ich gehöre zu euren neueren Fans.«
Ein Grinsen umspielt meine Lippen. »Oh, wir bekommen täglich einige neue Subscriber. Wahrscheinlich gehörst du also nicht zu den neueren - aua!« Aus dem Grinsen wird ein lautes Lachen, während ich gleichzeitig meine Seite reibe. »Wenn du so weiter machst, habe ich morgen überall blaue Flecken an den Rippen. Hat dir schonmal jemand gesagt, dass du einen leichten Hang zur Gewalttätigkeit hast?«
Tasha verdreht nur die Augen.
Eine Gruppe älterer Damen kommt uns entgegen. Ich umfasse Tashas Arm und lenke sie ein wenig beiseite, damit wir den lärmenden Leuten ausweichen können, die es nicht für nötig halten, ein wenig Platz für uns zu lassen. Dabei geraten wir auf die Grünfläche. Tasha zwinkert mir zu, dann läuft sie schräg über die Wiese Richtung des kleinen Flusses, der sich durch den Park schlängelt. Das Gelände wird etwas abschüssig, aber sie läuft unvermittelt weiter.
Als wir das Flussbett erreichen, schlüpft sie aus ihren Schuhen und sinkt zu Boden. Ich halte einen Moment inne, sehe zu, wie sie erst ihren großen Zeh ins Wasser tippt. Sie atmet scharf ein, steckt dann aber beide Füße beherzt ins Wasser. Ihr leises Quietschen geht in dem plätschernden Geräusch beinahe unter.
Den Kopf in den Nacken gelegt, sucht sie meinen Blick. »Komm schon. Es ist ... angenehm.«
»Angenehm kalt meinst du, ja?« Grinsend werde auch ich meine Schuhe los, schiebe die Hosenbeine etwas in die Höhe und sinke dann neben ihr zu Boden. Im Gegensatz zu Tasha teste ich mich nicht erst langsam ran – ich durchbreche mit beiden Füßen die Wasseroberfläche und beiße mir augenblicklich auf die Wange, um mir nicht anmerken zu lassen, wie verflucht kalt es ist. Mein Gott. Zwanzig Grad Außentemperatur, und das Wasser ist so kühl wie ein Wintersee.
Großartig.
Tasha lehnt ihren Kopf an meine Schulter, und noch im selben Moment vergesse ich das Prickeln an meinen Füßen. Genau genommen spüre ich gar nichts mehr, abgesehen von der Hitze, die diese Berührung in mir auslöst. Vorsichtig lege ich meine Wange auf ihren Scheitel.
Sie seufzt leise auf. »Ich bin ziemlich schwierig, was solche Dinge angeht, Timo.«
Den Blick auf das sich kräuselnde Wasser gerichtet, antworte ich ihr. »Und ich habe nicht allzu viele Erfahrungen. Schon vergessen? Ich bin der ewige Kumpel. Der, der nie für eine Beziehung gereicht hat.«
Sie atmet scharf ein, und erst da wird mir bewusst, welchen Fehler ich begangen habe. »Timo -«
»Damit will ich nicht sagen, dass wir eine Beziehung führen, das ist dir klar, oder?«, unterbreche ich sie eilig. Die Wärme in mir verpufft ein wenig, weil sie so gequält geklungen hat. »Ich meine das alles. Ich ... Mist. Vergiss einfach, was ich gesagt habe, okay? Ich ertränke mich am besten im Fluss.«
Lachend löst sie sich von mir. »Du bist so doof, ehrlich.« Ihre Augen blitzen vor Zuneigung, während sie mein Gesicht umfasst und mich für einen kurzen Kuss an sich zieht. Nicht viel mehr als eine flüchtige Berührung unserer Lippen, die mir aber durch und durch geht. »Ich kann dir einfach nichts versprechen, okay?«, murmelt sie an Ort und Stelle. Die Art und Weise, wie sich ihr Mund an meinem bewegt, stellt eine Menge mit mir an. Vor allem in der unteren Hälfte meines Körpers. Sanft lege ich meine Hand in ihren Nacken und ziehe mich weit genug zurück, um ihr in die Augen sehen zu können.
»Das musst du auch nicht. Ich möchte einfach, dass wir eine Chance haben, zu sehen, wohin das hier läuft. Für mich fühlt es sich schon eine Weile nicht mehr wie ein Spiel an.«
Sie schlägt ihre Augen nieder. »Ich hätte wohl nicht zum Training kommen sollen, was?«
»Machst du Witze?« Empört schüttle ich den Kopf. »Dich auf einmal dort zu sehen – diese Erinnerung will ich nicht mehr missen. Außerdem beschwere ich mich doch gar nicht.« Ich beginne, sanft mit meinem Daumen über ihre Muskelstränge zu fahren. Sofort beginnen ihre Augenlider zu flattern. »Lass es uns einfach so festhalten: Das, was zwischen uns geschieht, ist ab sofort echt, okay? Ich möchte mich nicht mehr fragen, ob ich mir Dinge einbilde oder nicht. Nächste Woche fahren wir mit den anderen weg, und wir teilen ein Zimmer, weil wir es wirklich wollen. Alles darüber hinaus wird die Zeit zeigen.«
Erneut huschen ihre Augen über mein Gesicht, als wären sie auf der Suche nach irgendeinem Hinweis; schließlich nickt sie. »Ich schätze, das klingt nach einem guten Plan. Darauf kann ich mich einlassen.«
Ich atme tief durch. »Prima. Soeben haben sich dann wohl die Spielregeln geändert.«