16
Tasha
I ch drehe nicht durch.
Kein bisschen.
Ich bin auch nicht nervös.
Ganz bestimmt habe ich meine Tasche nicht viermal gepackt, unsicher, was ich mitnehmen soll und was nicht, habe sie auch nicht frustriert auf den Kopf gedreht und ausgeschüttet, nur um sie fluchend wieder einzuräumen.
Achso: Ich war auch ganz bestimmt nicht extra beim Friseur.
»Hey – oh, deine Haare sehen anders aus.«
Hm, okay. Vielleicht doch. Aber es ging bestimmt nicht um den Trip, als ich mir einen eiligen Termin bei meiner Frisörin geholt habe, sondern einfach darum, mal wieder eine Veränderung ... was auch immer. Vorsichtig lächle ich Timo an. »Gefällt es dir?«
Sein Blick huscht über die Strähnen in meinem Pony, die nun nicht mehr rosa sind, sondern lila. Kein kräftiger Ton, eher lavendelfarben, aber doch anders. Das restliche Haar habe ich wieder aufhellen lassen, und ein paar Zentimeter sind ebenfalls weg. Normalerweise genau die Art von Frisur, die mir gefällt, zumindest, seitdem ich hergezogen bin.
Merkwürdig, dass ich plötzlich nervös werde, während ich Timos Urteil abwarte.
Schließlich wandert sein rechter Mundwinkel in die Höhe. »Natürlich. Ich kenne niemanden, dem Farbe so gut steht wie dir.«
Meine Augen verformen sich zu schmalen Schlitzen. Ob er das ernst meint, oder will er mich womöglich nur besänftigen? Ich lese nichts als Aufrichtigkeit in seiner Miene, also trete ich schließlich beiseite und lasse ihn rein. »Ich bin so gut wie fertig. Eigentlich brauche ich nur -«
Mitten im Satz unterbrochen zu werden, weil man geküsst wird, kann entweder total nerven oder schön sein. In diesem speziellen Fall bringt es meine ohnehin angespannten Nerven dazu, sich ein wenig zu beruhigen, also klammere ich mich an seinem Hemd fest und schließe seufzend die Augen. Erst recht, als er beginnt, an meiner Unterlippe zu knabbern.
Irgendwie kicke ich die Wohnungstür zu, und im nächsten Moment lande ich mit dem Rücken an ihr, eingekesselt von Timo, der irgendwie alles andere als brav und harmlos ist, wenn er sich gehen lässt. Ein Ziehen zwischen meinen Beinen lässt mich aufkeuchen.
Als würde ihn dieses Geräusch aufwecken, löst er sich von mir – nicht, ohne noch einen weiteren, sanften Kuss auf meinen Mundwinkel zu hauchen. Seine Augen wirken verschleiert. »An dieser Stelle sollte ich dich warnen. Unten im Auto warten Jo und Nathalie auf uns.«
»Oh.« Sofort ist sie wieder da, die Anspannung. Wäre ich dazu in der Lage, hätte ich einen Schritt rückwärts gemacht, doch ich befinde mich noch immer mit dem Rücken an der Tür, seine Arme links und rechts von mir. Unsere Blicke treffen sich.
»Keine Angst.« Timos Miene wird weich. »Wirklich. Du musst nicht so angespannt sein.«
»Das sagt sich leicht, wenn man selbst all die anderen Leute so gut kennt, die dabei sind.« Brummelnd ducke ich mich unter seinem Arm hinweg. »Wie gesagt, ich bin fast fertig. Ich brauche nur noch meine Handtasche.«
»Das ist alles?«
Mit einem unguten Gefühl drehe ich mich zu Timo um – und jepp, er deutet stirnrunzelnd auf meine Reisetasche. »Ähm, ja. Wieso? Denkst du, es ist zu wenig? Soll ich lieber noch mehr einpacken? Ich hatte keine Ahnung, was wir unternehmen, also -«
Er schüttelt lächelnd den Kopf. »Nein, alles bestens. Du hast bestimmt alles, was du brauchst. Die anderen Mädels haben einfach viel mehr eingepackt. Ich schätze, du bist wesentlich effektiver.«
Ich kaschiere die neue Unsicherheit mit einem Grinsen. »Zuhause trage ich auch ständig dieselben Sachen, da brauche ich nicht plötzlich zwanzig Outfits für einen Kurztrip.«
Timo nickt mir zu. »Effektiv. Das gefällt mir.« Kleine Lachfältchen bilden sich in seinen Augenwinkeln. »Weniger zu schleppen für mich.« Und mit diesen Worten schultert er die Tasche, bereit, wieder zu gehen. Dass er vor zwei Minuten noch wie wild an meiner Lippe geknabbert hat? Keine Spur davon. Beneidenswert. Meine Knie sind noch immer weich.
Das wird offiziell eine Katastrophe. Zumindest gemessen an dem Gemisch aus Nervosität und Hormonen, das mich gerade von Kopf bis Fuß erfüllt.
Schweigend sieht er zu, wie ich meine Wohnung abschließe. Irgendjemand in meinem Flur hat etwas mit Kohl gekocht – und zwar schon gestern. Als ich von meiner letzten Schicht vor diesem Kurztrip nach Hause kam, hätte ich mich am liebsten in den Kübel mit der Kunstblume erbrochen, der im Treppenhaus steht. Timo verzieht keine Miene, zumindest keine nennenswerte. Nicht zum ersten Mal frage ich mich, wie er wohl wohnt. Bisher war er immer nur bei mir.
Ob wir das wohl bald ändern werden?
Bei diesem Gedanken werden meine ohnehin weichen Knie noch unsicherer. Dieses blöde »Wir-verlassen-das-Spiel«-Gehabe geht mir schon jetzt auf die Nerven. Seit wir an jenem Abend beim Spanier beschlossen haben, einen neuen Weg einzuschlagen, geht es mir ständig so. Ich komme mir vor wie ein pubertärer Teenager. Vorher war es definitiv leichter.
Dass ich seitdem einige Extra-Schichten in der Trattoria einlegen musste und wir uns nicht noch einmal gesehen haben, macht es nicht unbedingt einfacher.
Auf dem Weg nach unten berühren wir uns einige Male beiläufig, aber wir schweigen. Vielleicht spürt Timo meine Anspannung und will mir daher Luft lassen. Vielleicht ist er auch nervös, gibt es nur nicht zu.
Keine Ahnung.
Sein Wagen steht ein Stückchen die Straße hinab. Schon von weitem entdecke ich, dass Jo es sich auf dem Beifahrersitz bequem gemacht hat – ungefähr zur selben Zeit wie Timo.
»Das ist nicht sein Ernst, oder?« Ungläubig beschleunigt er seine Schritte.
»Was denn?«
Er antwortet mir nicht, sondern reißt stattdessen die Tür auf, kaum dass wir sein Auto erreicht haben. »Weg da. Du hast doch eben noch hinten gesessen, Alter. Was soll das?«
Jo blickt erst ihn, dann mich mit einem selbstzufriedenen Grinsen an. »Wieso? Ich kenne unser Ziel. Ich bin dein persönlicher Navigator.«
Timo schnaubt auf. »Schon mal was von Navis gehört? Google Maps? Ich meine es ernst, verzieh dich nach hinten, Mann!«
Mein Blick wandert an Jo vorbei nach hinten, wo Nathalie mich grinsend ansieht. Sofort ist mir klar, dass es sich hier um ein abgekartetes Spiel handelt. Im Bruchteil einer Sekunde entscheide ich, dass es wahrscheinlich nicht verkehrt ist, mitzuspielen. Also lege ich meine Hand auf Timos Oberarm und stelle mich auf die Zehenspitzen, um einen Kuss auf seine Wange zu pressen. »Schon gut. Ich kann mich gerne nach hinten setzen. Spielt ihr Männer nur die Urzeitkerle und bringt uns sicher ans Ziel.«
Anerkennung blitzt in Jos Augen auf, Timo jedoch stöhnt frustriert. »Das war so nicht abgesprochen.«
»Was denn?«, fragt nun Nathalie unschuldig von hinten. »Uns war nicht klar, dass es eine feste Sitzordnung gibt.«
»Alles ist gut, Timo. Wirklich.«
Er wendet sich mir zu, offensichtlich enttäuscht. »So habe ich mir das nicht vorgestellt.«
Irrationale Wärme flammt in mir auf. Dieses Mal nehme ich nicht mit seiner Wange vorlieb, sondern lege meine Lippen sanft auf seine. Er keucht leise auf. »Wir haben die nächsten Tage für uns. Ich bin mir sicher, dass eine räumliche Trennung von weniger als einem Meter für die kommenden – wie viel?« Ich blicke Jo fragend an, der belustigt zwei Finger hebt. »Zwei Stunden vertretbar ist.«
»Zumal sie auf dem Beifahrersitz auch nicht weiter entfernt wäre«, wirft Jo diplomatisch ein, nicht ohne dabei dreckig zu grinsen. Wow, ich hätte nicht gedacht, dass dieser freundliche Kerl so ein Sack sein kann.
Ich lache auf. »Stimmt. Na komm, lass uns starten.«
Timo brummelt ein weiteres Mal, aber dann gibt er nach und tritt an den Kofferraum, um meine Reisetasche dort zu verstauen.
Entgegen meines überzeugtem Auftretens beginnt mein Puls zu flattern, während ich den Wagen umrunde, um meinem Platz hinter dem Fahrersitz einzunehmen. Das hier ist etwas ganz anderes, als ich erwartet habe. Irgendwie dachte ich, dass wir zumindest die Fahrt noch für uns haben würden. Nie kam mir auch nur in den Sinn, dass jemand von den anderen mitfahren würde. Ziemlich naiv, so im Nachhinein betrachtet. Nun sind Jo und Nathalie im Wagen, und zu Letzterer geselle ich mich auf die Rückbank. Nachtigall, ick hör dir trapsen ...
Das Erste, was ich sehe, als ich die Tür aufreiße, ist eine riesige Zunge, die aus einem Fellkopf heraushängt. Besagter Kopf zuckt in meine Richtung und winselt leise, beruhigt sich jedoch, als Nathalie leise auf ihn einredet. Mein Herz macht einen Satz. Den Hund hatte ich ganz vergessen.
Als Nächstes entdecke ich einen großen, rosafarbenen Thermobecher, den Nathalie mir entgegen reckt. Ich blicke fragend in ihr lächelndes Gesicht. »Hier, für dich. Ich dachte, ich bin vielleicht nicht die Einzige, die zu dieser unmenschlichen Zeit noch nicht die Gelegenheit hatte, seinen Koffeintank aufzufüllen.«
Tatsächlich, in ihrer anderen Hand befindet sich ein weiterer Becher. Beim genaueren Hinsehen entdecke ich, dass ihrer eine andere Farbe hat, beide jedoch denselben Aufdruck: »JumpGirl – und ich stehe dazu«.
Sie verzieht bedauernd ihr Gesicht. »Ich dachte, rosa würde passen. Aber die neue Farbe steht dir auch super!«
Etwas verdammt Merkwürdiges geschieht mit mir. Etwas, das mich beinahe die Tür wieder zuknallen und schreiend davonlaufen lässt.
Meine Augen beginnen zu brennen.
Das hier ist so schräg. Ich kenne Nathalie kaum – keinen von all diesen Leuten. Und trotzdem fahre ich jetzt mit ihnen zu einem Kurztrip, und Nathalie hat mir einen Thermobecher bedrucken lassen. In meiner ehemaligen Haarfarbe. Mit einem total bescheuerten Aufdruck. Es sollte zu viel sein, gruselig, aber eigentlich raubt mir gerade nur Rührung die Luft. Die Rührung – und das Wissen, vielleicht endlich einen Hafen gefunden zu haben.
Im letzten Moment schaffe ich es, das Bedürfnis, vor diesen Emotionen davonzurennen, zu unterdrücken, und klettere in den Wagen. Dann nehme ich den Becher entgegen. Meine Stimme klingt rau, während ich »Danke« murmle.
Nathalie lächelt mich wissend an.
Verdammt, verdammt, verdammt. Ich hätte wirklich türmen sollen, als ich noch die Chance dazu hatte.
Da ich nun aber im Wagen sitze und auch Timo seinen Platz eingenommen hat, lehne ich mich zurück und tue das Naheliegende: Ich nippe an dem Becher. Erstaunt keuche ich auf.
»Schmeckt es dir?«
»Ja. Sehr. Was ist das?«
Nathalie wirkt zufrieden. »Eigentlich nichts Außergewöhnliches. Ganz normaler Filterkaffee und Sojamilch mit Vanillegeschmack.«
»Du hast Glück gehabt«, tönt Timos Stimme von vorne. Er klingt voller Zuneigung für die Blondine neben mir, was einen sehr unangebrachten Stich in meiner Magengrube auslöst.
Nathalie zuckt mit den Schultern. »No risk, no fun.« Sie zwinkert mir zu. »Ich mag es ganz gerne. Die Jungs schimpfen über diesen Ökokram, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie sich heimlich an der Milch bedienen.«
Augenblicklich dringt ein so lautes, zweistimmiges Schnauben nach hinten, das ich Nathalie zunicke. »Jepp, klingt ganz danach.«
Der Druck auf meiner Brust lüftet sich zumindest ein kleines bisschen. Ich wechsle den Becher in meine linke Hand und strecke meine rechte dann Richtung Nathalies Schoß aus, mit dem Ziel, dass ihr Hund mich beschnuppern kann. Keine merkwürdigen Versuche, sich menschlich näher zu kommen oder so. »Romy, richtig?«
Nathalie nickt. »Genau.«
Es kitzelt, als die feuchte Nase der Hundedame über meinen Handrücken gleitet, und weil sie kein Anzeichen macht, zurückzuweichen, kraule ich sie etwas unter ihrem Kopf. Sie gibt ein leises Geräusch von sich, das ganz nach Zufriedenheit klingt, und mich erfüllt eine Welle des Friedens. Im Zweifel werde ich die gesamte Zeit mit diesem Vierbeiner verbringen, dann wird schon alles gut gehen.
»Du magst Hunde?«
Widerwillig lehne ich mich zurück und begegne Nathalies Blick. »Ja, sehr. Aber wir hatten nie einen.«
»Du kannst dir jederzeit eine Portion bei mir abholen.« Sie reckt mir ihren Becher entgegen. Reflexartig erwidere ich die Geste, und wir stoßen an. Mit Kaffee. Vanille-Sojamilch-Kaffee.
Total verrückt.
Und irgendwie schön.
Jo fummelt am Autoradio herum, bis irgendeine rockige Musik ertönt, allerdings stellt er sie so leise, dass sie keine Gespräche stört. Ich nehme einen weiteren Schluck aus meinem Becher.
»Ich habe noch mehr mitgebracht«, murmelt Nathalie und hält mir eine Papiertüte entgegen, von einem der besseren Bäcker der Stadt. Neugierig nehme ich sie ihr ab; noch bevor ich reinsehen kann, rieche ich bereits Blätterteig in all seiner wundervollen Pracht.
»Woher nur wusstest du, dass ich nicht frühstücken würde?«, frage ich sie erstaunt.
Nathalie zuckt mit den Schultern. »Ich war mutig und bin davon ausgegangen, dass es dir ähnlich geht wie mir.«
»Und Fee«, wirft Jo von vorne ein.
»Und Fee.« Nathalie nickt. »Helena nicht. Die könnte niemals starten, ohne gegessen zu haben. Dafür steht sie auch früher auf. Genau wie ihr gruseliger Freund.«
»Maik«, stelle ich fest.
Nathalie erschaudert. »Kannst du dir das vorstellen? Die beiden haben sich einen Wecker gestellt, damit sie frühstücken können. Mit frischen Brötchen, gedecktem Tisch und so weiter.«
»Nein!«, bringe ich übertrieben hervor. »Skandal!«
Nathalies »Du sagst es« geht im herzlichen Gelächter der Kerle unter, die sich offenbar prächtig amüsieren. Ich dagegen öffne endlich die Tüte und werde mit dem besten Anblick belohnt, den man sich nur wünschen kann. Croissants, bedeckt mit Käse. Und welche mit Schokolade. Ich halte Nathalie die Tüte hin, doch die schüttelt nur den Kopf und hebt ihren Becher. »Ich muss erst noch ein wenig trinken. Bedien dich und gib die Tüte dann nach vorne.«
Ich zögere nur einen kurzen Moment, ehe ich mich für die deftige Variante entscheide. Zusammen mit dem süßen Kaffee wäre mir Schoko wohl zu viel. Jo nimmt Zweiteres, während Timo sich ebenfalls für Käse entscheidet. Zufrieden seufzend lehne ich mich zurück und genieße das unverhoffte Frühstück.
Eine Weile hört man nichts außer mahlende Kiefer und ein gelegentliches, leises Schlürfen, wenn Nathalie oder ich einen Schluck aus unseren Bechern nehmen. Romy hat ihren Kopf auf Nathalies Schoß abgelegt und schnarcht leise, wie auch immer sie das anstellt, und noch immer tönt leiser Rock aus den Lautsprechern.
Ich fühle mich behaglich .
Darauf muss ich erst einmal klarkommen.
Irgendwann beginnen die Jungs zu plaudern. Sie diskutieren über die Kommentare unter ihrem neuesten Video, die offenbar nicht alle von der netten Sorte sind. Sofort packt mich die Neugierde, und ich ziehe mein Handy hervor. Nathalie beugt sich zu mir rüber, während ich meine Youtube-App öffne und nach dem besagten Upload suche.
Kurz danach atme ich zischend ein. »Das können die doch nicht ernst meinen.«
Jos Blick trifft mich durch den Rückspiegel, er sieht verwirrt aus. »Was denn?«
Irritiert wedele ich mit meinem Handy. »Diese ... Hirnis. Ich finde absolut nicht, dass euch die Ideen ausgehen. Schon gar nicht -«
»Weil wir nur noch alle ans Vögeln denken?«
Bei Jos Worten wird mir heiß; viel mehr, als es das bloße Lesen der dummen Kommentare bewirken konnte. Hilflos zucke ich mit den Schultern und nicke gleichzeitig, was mich insgesamt wahrscheinlich aussehen lässt, als hätte ich Krämpfe.
»Lass sie reden«, murmelt Nathalie sanft. »Ich habe es dir doch gesagt. Irgendwer hat immer irgendeinen Bullshit zu erzählen.«
Ich möchte gerne so ruhig sein wie sie, aber das kann ich nicht. Nicht jetzt, vielleicht auch nie. Verbissen scrolle ich mich durch die Kommentare, und jeder einzelne, der sich kritisch unter der Gürtellinie befindet, wird von mir mit einem Daumen nach unten bewertet. Als ich am Ende angekommen bin, ziehe ich in Erwägung, meinen Rachefeldzug auch bei den anderen Videos fortzusetzen, doch dann wird mir bewusst, was ich gerade tue.
Noch vor wenigen Augenblicken habe ich mich ziemlich gut gefühlt. Jetzt atme ich schwer, und mein Herz rast. Vielleicht sollte ich mich dieser Wut zu einem anderen Zeitpunkt hingeben. Nach dem Trip zum Beispiel. Wann auch immer. Aber nicht jetzt.
Mühsam zwinge ich meine Mundwinkel in die Höhe und wende mich Nathalie zu, die gedankenverloren über Romys Schnauze streichelt. »Hattest du schon immer eine Vorliebe für Hunde?«
Genau das richtige Thema.
Während Jos Freundin mir in aller Ausführlichkeit erklärt, warum Hunde tolle Lebensbegleiter sind, fahre ich wieder ein bisschen runter. Ich schlürfe die Reste meines Soja-Kaffees und beobachte, wie Nathalies Gesicht total weich wird. Es ist mehr als offensichtlich, wie sehr sie ihren Hund liebt, und nicht zum ersten Mal wünsche ich mir, selber eine solche Verbundenheit zu einem anderen Lebewesen zu empfinden. Egal ob Mensch oder Tier. Liebe, wenn sie denn bedingungslos erwidert wird, ist eine so wunderbare Sache.
Aber sie kann dich auch bis in die kleinsten Splitter zerschmettern.
Die Gegend verändert sich. Während wir vorhin vor allem endlose Felder und Wiesen passiert haben, wird es nun waldiger. Immer häufiger passieren wir Baumansammlungen, die sich nach und nach ausdehnen, bis wir schließlich durch einen großen Wald fahren. Die Straße schlängelt sich in ewigen Kurven einen Berg hinauf, zu unserer Rechten ein ordentlicher Abgrund, und ich bin froh, auf der Fahrerseite zu sitzen. Nicht, dass ich allzu phobisch bin, aber bei dem Anblick wird mir doch etwas flau.
Mittlerweile drehen sich die Gespräche vor allem um die kommenden Tage. Zwischendurch telefoniert Jo kurz mit den anderen. Sie sind offenbar ein gutes Stück vor uns und überlegen, auf dem Weg schon einzukaufen. Mir ist es egal. Ich teile Jo mit, dass ich so ziemlich alles esse und nicht gerade anspruchsvoll bin, also ist es beschlossene Sache.
Irgendwann lichten sich die Bäume wieder, aber es ist dennoch wesentlich bewaldeter als zuvor. Mir kommt auch die Luft frischer vor, aber in erster Linie bin ich froh, dass die Straße sich nicht mehr an einem Abhang entlang hangelt. Immer wieder entdecke ich hölzerne Hochsitze, vereinzelte Höfe. Und dann, schließlich, ruft Jo laut: »Da vorne ist es.«
Nathalie und ich recken unsere Köpfe, bis wir die glitzernde Fläche vor uns entdecken. Mir stockt der Atem, weil der Anblick so schön ist. In der Ferne beginnt ein weiterer Wald, die Landschaft erhebt sich in sanften Hügeln, aber alledem trotzt der riesige See mit Stolz und Anmut. Bei der Vorstellung, hier die kommenden Tage zu verbringen, werde ich ganz aufgeregt. Der Ort verspricht Entschleunigung pur.
»Die Straße hier können wir nehmen, wenn wir in den nächsten Ort wollen«, erklärt Jo, als wir an einem Schild vorbeifahren, aber ich höre ihm kaum zu. »Dort waren die anderen sicher auch einkaufen.«
Ich bin viel zu beschäftigt damit, zuzusehen, wie wir uns dem See nähern. Wie sich die Wolken auf der Wasseroberfläche spiegeln und sich das Licht dort bricht. An vereinzelten Stellen befinden sich große, hölzerne Häuser, und ich weiß, dass eines davon für die nächsten Tage unsere Unterkunft sein wird. Meine Güte, ich kann es kaum erwarten, herauszufinden, welches es sein wird.
Auch Nathalie scheint aufgeregt zu sein, sie redet unermüdlich auf Romy ein, die leise fiept. Wahrscheinlich hat der arme Hund keine Lust mehr, hinter dem Beifahrersitz eingezwängt zu sein.
Schließlich biegt Timo auf einen Schotterweg ab, der als Zufahrt zu einem der Häuser dient. Obwohl ich die Bilder bereits auf Daniels Handy betrachtet habe, reiße ich doch meine Augen auf, als ich sehe, wie das Holzhaus sich stolz und über zwei Stockwerke vor uns erhebt.
Ein weiterer Wagen – irgendein glänzender Jeep – steht bereits in der Zufahrt. Der Kies knirscht, als Timo daneben parkt, und wir sind gerade eben ausgestiegen, als die Eingangstür bereits aufgestoßen wird.
Ein sehr irre grinsender Maik begrüßt uns mit weit ausgebreiteten Armen. »Da seid ihr ja endlich, ihr Lahmärsche! Hat Timo wieder einen Rekord im Schleichen aufgestellt, oder was?«
Ich kann nicht verhindern, dass mein Blick an seinen Tattoos hängen bleibt. Insbesondere die an seinem Hals finde ich jedes Mal aufs Neue krass. Wie schmerzhaft es wohl gewesen sein muss, sich dort der Nadel auszusetzen? Und was ging in ihm vor, als er sich dafür entschieden hat, sich so sichtbar für alle zu zeichnen? Unwillkürlich denke ich an den kleinen Kolibri auf meiner Hüfte. Der hat mich ja bereits an meine Grenzen gebracht, so sehr mich die Bedeutung des Symbols auch erfüllt hat. Es immer noch tut.
Romy trabt zu Maik, leckt ihm einmal über die Hand und beginnt dann, auf der Rasenfläche neben dem Haus nach einem geeigneten Platz zu suchen, um sich zu erleichtern. Ich bin unsicher, was ich tun soll: Maik in die Schranken weisen, weil er so über Timo redet, oder lachen, weil ich seine freche Art irgendwie sympathisch finde? Ehe ich mich für eine Reaktion entscheiden kann, zeigt Timo ihm bereits den Mittelfinger. »Was denn? Der Weg ist das Ziel, und das hier soll Erholung sein. Adrenalinkicks sind da eher kontraproduktiv.«
»Ach komm schon.« Maik schüttelt den Kopf. »Als wenn du dich nicht auf die nächtlichen Adrenalinkicks freust.«
»Ähhh«, mache ich perplex.
Nathalie boxt Maik gegen den Oberarm. »Halt die Klappe, du Spinner. Hilf uns lieber beim Tragen.«
»Deshalb bin ich nicht rausgekommen«, brummelt er halbherzig, tritt aber zu mir an den Kofferraum. Dort überrascht er mich, indem er seinen Arm um meine Schulter legt und mich kurz an sich zieht. »Nichts für ungut, ja? Das ist meine Art. Nicht böse gemeint.«
Ebenso schnell, wie er mich berührt hat, lässt er mich auch schon wieder los, nicht ohne einen eiligen Blick Richtung Timo zu werfen, und schnappt sich einen riesigen Koffer, um ihn zum Haus zu tragen. Ich blicke ihm perplex hinterher.
»So ist er.« Timo klingt nicht gerade glücklich, als nun er den Platz an meiner Seite einnimmt. Langsam zieht er meine Tasche hervor. »Er wickelt jede Frau um den Finger.«
»Hey!« Empört lege ich meine Hand auf seine Brust und schiebe ihn ein Stück zurück, damit ich ihm in die Augen blicken kann. »Hier wickelt mich niemand um den Finger, hörst du?«
In seiner Miene liegt eine Traurigkeit, die mir weh tut. Trotzdem versucht er zu lächeln. »Auch nicht ich?«
Spielerisch wiege ich den Kopf hin und her. »Ich weiß nicht. Vielleicht. Das muss sich noch herausstellen.«
Nun wird sein Lächeln eine Spur echter. Ich ziehe ihn zurück zu mir, um ihm einen Kuss auf den Mundwinkel zu geben. Langsam ziehe ich meine Lippen die Wange entlang, bis ich sein Ohr erreiche. Ich spüre, wie er erschaudert. »Und was das Thema Adrenalin angeht – darüber reden wir noch.«
Nun keucht er so heftig, dass es über den Platz hallt. Auf jeden Fall sieht er keineswegs mehr traurig aus. Ich schnappe mir meine Tasche und laufe zum Haus, mit extra wiegenden Hüften und in dem Wissen, dass er mir dabei zusieht.
Hoffentlich spürt er das gleiche Prickeln, während die Worte wie ein Versprechen zwischen uns schweben.