E
s ist wunderschön hier. Auf sehr atemberaubende, entschleunigende Art und Weise. Zumindest, was die Umgebung betrifft. Denn wenn ich mit Timo alleine bin, fühle ich mich ganz und gar nicht entschleunigt, aber das steht auf einem anderen Blatt Papier geschrieben.
An diesem ersten Nachmittag umrunden wir den See, was sich etwa nach der Hälfte als dumme Idee herausstellt, weil die Strecke weiter ist als gedacht. Aber wie so oft wird einem das erst bewusst, wenn man an einem Punkt angekommen ist, an dem es keine Rolle mehr spielt. Wir haben die Wahl umzukehren oder weiterzugehen, was beides etwa aufs Selbe hinausläuft.
Also entschließen wir uns, weiterzugehen. Zum Glück, denn meiner Meinung nach gibt es nichts Öderes, als dieselbe Strecke wieder zurücklaufen zu müssen, wenn es eine Alternative gibt.
Auch wenn es zwischenzeitig ein bisschen mühselig wird, weil der Weg erst steil ansteigt und dann ebenso steil wieder abfällt, übersät von grobem Schotter, was die Schuhwahl von Helena und Fee – Sandalen – ein wenig in Frage stellt, macht mir der Marsch Spaß. Die meiste Zeit haben wir einen guten Blick auf den See, auf dem sich ein Schwanenpärchen tummelt, aber zwischendurch macht der Weg auch einen kleinen Schlenker, wann immer wir ein weiteres Ferienhaus passieren, vielleicht auch ein Privatdomizil. Einmal laufen wir sogar ein Stück durch einen kleinen Wald – sehr zur Freude unseres vierbeinigen Begleiters Romy. Sie steckt ihre Nase in jeden raschelnden Laubhaufen an der Seite, schleppt Stöckchen mit sich herum und stellt aufgeregt ihren Schwanz auf. Es ist angenehm kühl, aber voller sirrender Mücken, und ich schätze, ich bin nicht die Einzige, die ein wenig Blut lässt.
Meine Laune bleibt ungetrübt.
Obwohl die Situation vorhin ein wenig komisch war und ich allgemein mit einem Haufen Leute unterwegs bin, die ich noch nicht allzu gut kenne, muss ich erstaunt feststellen, dass ich mich wohl fühle. Maik ist ein totaler Quatschkopf. Manchmal finde ich es ein wenig seltsam, wie krass sein Verhalten ausschlagen kann; von übertrieben kollegial zu sarkastisch und zweideutig innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde zum Beispiel. Aber er hat einen coolen Humor, und ich respektiere seinen Stil. Gar nicht so leicht, damit umzugehen, wenn ein Teil von mir immer noch voll und ganz auf Timos Seite steht und Maik daher am liebsten hassen würde.
So wie Helena.
Aber auch sie ist ausgesprochen freundlich. Ihre Zuneigung zu Maik ist derart offenkundig, dass ich sie ihr nicht vorwerfen kann. Eigentlich scheint sie jeden zu mögen. So wie sich einfach jeder hier mag. Es ist wie eine verdammte Hippiekommune, in die ich unwissentlich gestolpert bin.
Und ich kann nicht vollends sagen, dass ich es blöd finde.
Am interessantesten von allen finde ich Nathalie. Ich muss sie nur ansehen, und spüre bereits, dass in ihr ein Konflikt ruht. Vielleicht klingt das total bescheuert, aber solche Leute sind mir am sympathischsten. Nicht, weil ich mir wünsche, dass sie Probleme haben, nein. Aber ich behaupte einfach, dass sie anders durchs Leben gehen als jene sorglosen Sonnenmenschen, die noch keinen Einblick in die Schattenseiten des Lebens erhalten haben. Auch wenn ich mit meinem eigenen Päckchen nicht unbedingt zu denen gehöre, die es am schlimmsten getroffen hat, so habe ich doch auch meinen eigenen Leidensweg hinter mir. Und hey – ich bin daran gewachsen.
Wenn ich also nicht gerade neben Timo laufe, der schon sehr bald anfängt, mit den anderen Jungs über mögliche Aufnahmen zu diskutieren, versuche ich, mich an Nathalie zu heften. Die wiederum läuft die meiste Zeit neben Fee, weshalb wir irgendwann anfangen, miteinander zu reden. Helena klinkt sich zwar immer wieder ins Gespräch ein, aber sie hat eine Kamera dabei, durch die sie den Großteil der Zeit blickt und Aufnahmen von allem möglichen macht.
»Tut mir leid wegen vorhin«, beginnt Fee mit sanfter Stimme. Ihre Wangen färben sich rosa, was einen interessanten Kontrast zu ihrem flammendrotem Haar gibt. Ich will Helena schon darauf hinweisen, damit sie diesen Anblick festhält, aber vermutlich wäre das eine Spur zu schräg. Also zucke ich nur mit den Schultern.
»Was meinst du? Dass ihr allesamt geglaubt habt, Timo und ich hätten eine Nummer geschoben, während ihr auf uns wartet?«
Volltreffer. Das Rosa wird zu einem dunklen Rot, sie stammelt ein paar unverständliche Worte daher - und Nathalie? Die prustet laut los.
»Meine Güte. Du bist echt genau das Gegenteil von Timo.«
Ich blicke sie fragend an. »Und ist das nun gut oder schlecht?«
Wie aus dem Nichts hakt Nathalie sich bei mir ein, was mich für einen winzigen Moment ins Straucheln bringt, ehe wir einen gemeinsamen Rhythmus gefunden haben. »Oh«, sagt sie lächelnd. »Das ist sogar sehr gut.«
»Du tust ihm gut«, fügt Fee hinzu.
»Leute!«, stöhnt Timo weiter vorne. »Ich kann euch hören. Wollt ihr diese Art von Mädchengespräch nicht vielleicht wann anders führen?«
»Er klingt peinlich berührt«, murmelt Fee amüsiert.
»Gequält wohl eher.« Nathalie lacht auf.
Ich schüttle den Kopf, ehe ich ihm mit erhobener Stimme antworte. »Hör doch einfach weg. Oder lauf schneller!«
»Oder wir werden etwas langsamer«, schlägt Nathalie vor und setzt ihre Worte direkt in die Tat um.
Der Abstand zu den Jungs wird größer, einzig durchbrochen von Helena, die immer wieder eiligen Schrittes vorläuft, nur um dann für ein Motiv innezuhalten, so dass wir sie einholen, und Romy, die den maximalen Abstand ihrer Leine nutzt, wann immer sie dazu in der Lage ist – außer, sie bleibt neben Helena stehen, um sie aufmerksam zu beobachten. Eine beinahe amüsante Choreografie.
Der restliche Weg vergeht deutlich schneller. Vielleicht, weil ich so damit beschäftigt bin, mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sich jemand bei mir eingehakt hat und dass wir gerade ein ziemlich nettes, manchmal auch lustiges Frauengespräch führen.
Gott, wann hatte ich das zum letzten Mal?
Auch wenn ich nicht immer die Aktivste bin, lerne ich eine ganze Menge bei diesem Marsch. Nicht nur, dass sie mir beide weitere Details darüber verraten, wie sie Daniel und Jo kennengelernt haben – Gott, was schüttle ich mich aus vor lachen, als Nathalie von ihrem Zusammenprall in der Uni-Mensa berichtet –, ich stelle auch schon bald fest, dass beide ihre Geheimnisse haben.
Vor mir.
Das sollte mich verletzen, aber eigentlich kann ich sie verstehen. Es wirkt nämlich nicht so, als würden sie mir mit böser Absicht etwas verschweigen wollen. Ihr Zögern, die Blicke, die sie sich zuwerfen – ich deute es so, dass sie einfach noch nicht wissen, wie viel sie mir wirklich anvertrauen können. Zwar gehe ich davon aus, dass ich bereits weiß, was Fee vor mir verbergen möchte – Timo sei Dank –, aber das wird sie unmöglich wissen, und auf gar keinen Fall habe ich vor, sie darauf anzusprechen. Ich werde warten, bis eine von ihnen den Anfang macht.
Und das ist okay.
Ich bin noch fremd für sie – so wie sie für mich. Und ich selbst habe mein ganz eigenes Geheimnis, das ich ihnen nicht erzählen möchte. Auch wenn ich es mit Timo noch nicht besprochen habe, glaube ich kaum, dass es ihm gefallen würde, wenn die anderen erfahren, wieso genau wir zwei uns eigentlich näher gekommen sind. Als ich also an der Reihe bin, ausgequetscht zu werden, beschränke ich mich auf die offizielle Variante, füge aber noch ein paar lustige Details hinzu. Zum Beispiel Timos Alkoholisierungsgrad. Oder dass mir sein Körperbau an jenem Tag schon aufgefallen ist.
Und dann schaffe ich es, diese nette, lockere Stimmung zwischen uns mit nur einer weiteren Aussage zu zerstören.
»Ist Timo denn eigentlich immer leicht herrisch?«
Die beiden finden meine Worte offenbar abstrus genug, um darüber zu lachen, was an sich schon Antwort genug wäre. Trotzdem rede ich weiter.
»Ich habe da diesen kleinen Rückzugsort für mich gefunden. Ein kleiner Unterstand auf dem Innenhof einer verlassenen Fabrik. Nicht viel mehr als eine alte Couch, die dort schon stand, und ein Tisch aus Paletten. Genau das Richtige, wenn man seine Ruhe braucht und nachdenken muss. Ich habe Timo am ersten Abend dorthin mitgenommen. Als er erfahren hat, dass ich dort häufiger bin, ist er ziemlich durchgedreht.«
Noch während ich rede, wird mir bewusst, wie unsagbar dumm ich doch bin. Allen Vorsätzen zum Trotz steuere ich jetzt doch genau dieses eine Thema an. Einmal eingeschlagen, kann ich keinen Rückzieher mehr machen. Verdammt. Meine Impulsivität wird mich noch einmal in ernsthafte Schwierigkeiten bringen.
Fee atmet tief durch. »Was meinst du damit? Was hat er denn gesagt?«
Ich kicke gegen einen Stein, der quer über den Weg Richtung Gras fliegt, und seufze auf. »Ach, es ging ihm darum, dass ich dort alleine bin.«
Wie aus dem Nichts umfasst sie meinen Arm – so fest, dass es unangenehm ist. Ich atme aus, und als ich ihr einen Blick zuwerfe, sorgt der Ausdruck in ihren Augen für einen Schauder, der einmal meine Wirbelsäule hinab wandert. Unwillkürlich muss ich an Timos Worte denken und würde mich am liebsten ohrfeigen. »Das sagt er nicht ohne Grund, Tasha«, murmelt sie so ausdruckslos, dass sich der Schauder zu einem absolut unguten Gefühl manifestiert.
»Fee«, murmelt Nathalie warnend. »Du musst nicht -«
»Doch.« Endlich lockert sich ihr Griff. Sie rückt einen Schritt von mir ab, verschränkt die Arme und blickt mich ... beinahe herausfordernd an. »Früher oder später würde ich es ihr ja sowieso erzählen. Zumindest, wenn das mit Timo hält.«
»Was meinst du?«, murmle ich tonlos. Schuldgefühle zerfressen mein Innerstes. Ich hätte sie niemals in diese Richtung drängen sollen, alles nur, weil ich witzig sein wollte.
»Ehe ich hergezogen bin und das Studium begonnen habe, habe ich eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht. An meinem letzten Arbeitstag der Ausbildung wurde ich auf dem Weg zum Wohnheim überfallen, vergewaltigt und schwer verletzt zurückgelassen. Auch ich habe geglaubt, dass mir so etwas nicht passieren würde. Aber die Wahrheit ist, dass es uns überall treffen kann.« Ihr Blick bohrt sich so fest in meinen, dass ich gar nicht ausweichen kann, während sie die Worte herunterrasselt, als würde sie einen Zeitungsbericht vorlesen.
Mein ganzer Körper prickelt, und mir ist so kalt, dass ich mir am liebsten eine dicke Decke über die Schultern gezogen hätte. Es von Timo zu hören ist eine Sache. Das hier, Fee dabei in die Augen zu sehen, zerfetzt mich.
»Darum hat Timo so heftig reagiert, Tasha. Er weiß davon. Alle wissen es. Und deshalb ist das Thema sehr sensibel bei uns.«
»Es tut mir so leid. Ich kann mir nicht vorstellen, wie schrecklich das gewesen sein muss ...«
»Schon gut.« Plötzlich ist Fee wieder neben mir. Sie streicht mir über den Rücken – als müsste sie mich trösten, nicht umgekehrt! – und wirkt ganz normal. »Es ist eine Weile her, und mittlerweile habe ich es verarbeitet. Aber ich schließe mich Timo an. So schön ein Rückzugsort sein kann - ich würde niemals ein solches Risiko eingehen. Nicht mehr. Wenn du dort Zeit verbringen möchtest, sag doch einfach Bescheid. Wenn es nicht Timo sein soll, können wir Mädels dir gerne Gesellschaft leisten – nicht wahr, Helena?«
Helena, die gerade wieder einmal am Wegesrand in die Hocke gegangen ist, wirft uns einen verwirrten Blick zu. »Was?«
Fee lacht. »Sag einfach ‚ja‘.«
Helena überlegt gar nicht lange, sondern nickt nur, ehe sie sich wieder ihrer Kamera zuwendet. »Ja.«
Und auch Nathalie stimmt Fee zu.
Mein Blick wandert zwischen den drei Frauen hin und her. Die Kälte in mir weicht einem anderen, nicht weniger intensivem Gefühl. Unwillkürlich reibe ich meine Brust, um die Enge in ihr zu vertreiben. »Okay«, bringe ich krächzend hervor, weil mir klar ist, dass sie auf eine Antwort warten. »Ich weiß Bescheid.«
Und die ganze Zeit laufen wir weiter, unermüdlich um den See herum. Als hätte Fee mir gerade nicht etwas so Schreckliches anvertraut, nur um mir danach ihren Beistand zu versichern.
Ich nehme meine Worte von vorhin zurück. Geheimnisse sind scheiße. Vor allem, wenn sie sich um grausame Dinge drehen. Sorglose Menschen ohne Vorgeschichte sind eindeutig besser dran.
Das Brennen in meiner Kehle ignorierend versuche ich, mich nicht allzu sehr darüber zu freuen, dass Fee mich schon jetzt ins Vertrauen gezogen hat. Denn ein kleiner Teil von mir murmelt mir unaufhörlich zu, dass ich es gar nicht verdient habe. Mein Blick wandert zu Timo, wodurch der Kloß in meiner Kehle allerdings nicht gerade kleiner wird.
Verdammt.
Hoffentlich ist diese Wanderung bald geschafft. Ein wenig Abstand wäre jetzt gar nicht verkehrt.
Als wir am Ferienhaus ankommen, ist die Sonne ein ganzes Stück weitergewandert. Die Jungs öffnen ihr erstes Bier, während ich den Sekt von Helena dankend ablehne und stattdessen einen halben Liter Leitungswasser hinunterstürze. Noch immer beschäftigt mich das intensive Gespräch mit den Mädchen. Die Art und Weise, wie ich Fee keine Wahl gelassen habe, von ihrer Vergewaltigung zu erzählen. Wie sie mir das Versprechen abgenommen hat, sie um Gesellschaft zu bitten, wenn ich mal wieder Ruhe auf dem Hinterhof suche.
Das klingt so verdammt nach Freundschaft. Nachdem ich zwei Jahre lang die Einsamkeit gewählt habe, kam diese Entwicklung ziemlich plötzlich.
Seufzend reibe ich mir über das Gesicht.
»Hey, alles klar?« Timo tritt hinter mich, schlingt seine Arme um meinen Oberkörper. Sein Atem streift meinen Nacken. Unwillkürlich lasse ich mich gegen seine Brust sinken, während mein Blick auf die offene Bierflasche geheftet ist. Ich bin mir noch unsicher, ob es mir gefällt, dass er schon jetzt anfängt zu trinken. »Alles bestens, ja. Nur ein bisschen k.o. von diesem unerwarteten Marsch. Wie geht es nun weiter?«
»Wir dachten, wir schmeißen gleich den Grill an und machen es uns auf der Terrasse gemütlich. Wenn du Lust hast, könntest du dabei helfen, den Salat zu machen.«
Ich schnaube auf. »Ach, sind wir bei der klassischen Rollenverteilung angekommen? Die Männer machen das Fleisch, die Frauen den Rest?«
»Eigentlich ...« Timo dehnt die Pause ein wenig aus. Er klingt amüsiert. »... wollte ich mich gemeinsam mit dir um den Salat kümmern, aber wenn es dir lieber ist -«
»Nein!« Ich drehe mich eilig in seinen Armen und presse meine Lippen auf seine. »Das klingt sehr gut.« Genau das, was ich brauche. Ein wenig Zeit mit Timo, Arbeit, bei der ich nicht nachdenken muss. Der richtige Weg, um runterzukommen.
»Schön.« Im ersten Moment noch leuchten seine Augen, doch dann huscht ein Runzeln über seine Stirn, und er wird ernst. »Ist wirklich alles okay?«
Verdammt. So viel dazu. Ich löse mich aus seiner Umarmung, um an den Kühlschrank zu treten. Während ich blind in die prall gefüllten Fächer blicke, überlege ich, was ich antworten soll.
Natürlich folgt Timo mir. Er löst meine Hand sanft vom Türgriff und schließt die Tür, nur um mich dagegen zu schieben. Dann umfasst er mein Gesicht mit beiden Händen und dirigiert es so, dass ich ihm in die Augen sehen kann. Er wirkt besorgt. »Was ist los?«
An diesem Punkt bleibt mir keine andere Wahl, als die Wahrheit zu sagen. Ich will nicht, dass Timo sich unnötig Sorgen macht. Gemessen an der Panik in seinem Gesicht scheint er einen ganz bestimmten Gedanken zu haben, und den will ich direkt entkräften. »Ich habe mich auf dem Weg mit den Mädels unterhalten.«
»Das habe ich mitbekommen.« Er lacht nervös auf, aber seine Daumen streichen über meine Wangen. »Schon vergessen? Was haben sie denn so Schlimmes berichtet?«
»Nichts«, erwidere ich eilig. »Zumindest was dich angeht.« Meine Stimme wird leiser. »Es ist nur – Fee hat es mir erzählt. Du weißt schon. Wieso ihr alle so streng seid, was nächtliche Sicherheit angeht.«
Er schnaubt. »Wow, damit habe ich nicht gerechnet. Okay. Und das macht dich jetzt so fertig? Du kanntest die Geschichte doch schon. Moment, hast du -«
»Nein.« Ich schüttle heftig den Kopf. »Sie weiß von nichts. Das hat es für mich aber auch nicht gerade leichter gemacht, ihr dabei in die Augen zu sehen, verstehst du?«
Seine Miene wird weich. Er legt seine Stirn auf meiner ab; eine Geste, die so zärtlich ist, dass sie mir den Atem raubt. Vor allem, wenn man bedenkt, dass er noch immer mein Gesicht in seinen Händen hält. Ich fühle mich warm und geborgen. Irgendwo im Hintergrund hört man die anderen reden und herumwerkeln, wir sind ganz und gar nicht alleine – und doch ist dieser Moment intim. »Natürlich.«
Mehr sagt er nicht, aber es reicht. Eine Weile bleiben wir so stehen, bis mein Puls sich spürbar entschleunigt. Da schwirren immer noch so viele Dinge in meinem Kopf umher, so viele Fakten, die ich verarbeiten muss, aber immerhin das habe ich ausgesprochen. Timo versteht mich; ich spüre es, auch wenn er es nicht explizit sagt.
Und das hilft mir.
Schließlich habe ich mich ausreichend gesammelt, um nicht mehr innerlich auszuflippen. Vorsichtig löse ich mich aus seinem Griff, und gemeinsam machen wir uns an den Salat.
Die Schnibbelarbeit hatte ihren erhofften Zweck: Als wir eine gute Stunde später gemeinsam am Tisch auf der Terrasse hinterm Haus sitzen, fühle ich mich wieder deutlich besser. Ich habe Fees Geständnis ebenso verarbeitet wie ihr anschließendes Angebot, und die Schuldgefühle habe ich auch im Griff. Tatsächlich bin ich sogar ziemlich entspannt, was zu einem beträchtlichen Teil an Timos beruhigender Nähe liegt. Die meiste Zeit berührt er mich; mal liegt seine Hand auf meinem Schenkel, was für sehr unanständige Gefühle in meiner Magengrube sorgt, mal in meinem Nacken, wo er mit meinem kurzen Haar spielt, und manchmal liegt sein Arm einfach auf meiner Schulter. Immer wieder gehen mir dieselben Gedanken durch den Kopf.
Ich bin Teil dieser Gruppe.
Ich gehöre dazu.
Dieses Mal wirklich.
Die Vorstellung ist fast zu groß, um sie zu begreifen. Auch wenn ich sagen muss, dass der Sekt-Cocktail, den die Mädels uns gemixt haben, mir dabei durchaus hilft. Wochenlang hatte ich die Handbremse angezogen, habe versucht, all diese Leute nicht zu nahe an mich heranzulassen. Jetzt jedoch ... öffne ich mich diesem Gefühl.
Die Stimmung ist jedenfalls ziemlich harmonisch. Erneut tauchen Bilder einer modernen Hippie-Kommune vor meinem inneren Auge auf, und der Vergleich erscheint mir nicht allzu weit hergeholt. Angefangen bei den vielen Kerzen, die nach und nach auf dem Tisch angezündet werden, als es langsam zu dämmern beginnt, über die gelöste Stimmung und dem vielen Gelächter, das immer wieder weit hinaus auf den See schallt, bis hin zur Blume in Fees Haar. Irgendwann beginnen wir sogar zu singen – mangels fehlender Gitarre begleitet von Spotify.
Es macht Spaß.
Schließlich schlägt Helena vor, Flaschendrehen zu spielen. Ich stöhne auf, davon überzeugt, dass auch die anderen nicht allzu begeistert sein werden, doch zu meiner großen Überraschung findet die Idee Anklang. Maik verschwindet im Haus, um mit einer leeren Bierflasche wiederzukommen – und mit dem Likör, den ich bei unserer Ankunft bereits entdeckt habe. Er fängt meinen Blick auf und grinst. »Wir ergänzen die Optionen. Wahrheit, Pflicht oder trinken. Damit sollte sich jeder wohl fühlen.«
Jo brummt auf. Er war, neben Timo und mir, noch am zurückhaltendsten. »Bei diesem Spiel fühlt sich niemand wohl, Alter.«
»Die schlechteste Idee aller Zeiten«, kommentiert Daniel seinen Einfall, aber er nimmt ihm trotzdem bereitwillig die Flasche ab und stellt sie neben sich, während Nathalie und Fee den Tisch freiräumen.
»Damit eins klar ist, ich werde nur trinken«, murmle ich Timo ins Ohr, der daraufhin schnaubt.
»Das ist aber ziemlich langweilig.«
»Was ist langweilig?«, schnappt Helena seine Worte auf und blickt überrascht zu uns rüber. Kein Wunder. Dieses Spiel ist sicher nicht langweilig, wenn man es richtig angeht.
Was ich nicht gedenke zu tun.
Dafür sind mir die anderen einfach noch nicht vertraut genug.
Timo deutet mit seinem Daumen auf mich. »Sie hier. Tasha will einfach nur trinken.«
»Abwarten«, murmelt Maik mit funkelnden Augen. Sein Grinsen gefällt mir ganz und gar nicht.
Helena macht den Anfang. Sie reibt ihre Hände aneinander und pustet dann auf die Innenflächen, ehe sie die Flasche ergreift, gekippt auf den Tisch legt und beherzt dreht. Eine ganze Weile eiert sie vor sich hin, ehe sie schließlich bei Daniel liegen bleibt.
Ich beuge mich unwillkürlich vor.
»Wahrheit oder Pflicht?«
»Oder trinken«, wirft Maik lapidar ein.
Daniel schnaubt auf. »Wahrheit.«
»Langweiler«, hustet Maik wenig dezent in seine Faust, was ihm eine beherzte Kopfnuss von Fee beschert. Er verzieht nicht einmal eine Miene.
»Okay, mal sehen.« Helena lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück. Die flackernden Kerzen erhellen ihr Gesicht unregelmäßig, lassen ihre Miene beinahe dämonisch wirken. Um ehrlich zu sein, packt mich jetzt doch das Interesse, und ich spüre, wie meine Mundwinkel zucken. »Fangen wir leicht an. Mit wie vielen Frauen warst du zusammen, ehe du Fee kennengelernt hast?«
»Echt jetzt?«, stöhnt Maik auf. »Das ist ja lahm.«
Fee sieht aus, als würde sie blass werden. Oder mit ihrem Stuhl verschmelzen wollen. Und Daniel? Der zuckt nicht einmal mit der Wimper, greift nach seiner Flasche, nimmt einen Schluck und fixiert dann seine Freundin. »Zwei Beziehungen, beide kürzer als ein halbes Jahr. Erst mit dir wurde es ernst.«
»Aaaaaw«, entfährt es mir, nur eine Spur ironisch. Denn eigentlich ist es ziemlich süß. Timo drückt einmal kurz mein Knie.
Daniel greift nach der Flasche und dreht – bis sie deutlich auf mich zeigt. Noch ehe er ein Wort sagen kann, rufe ich laut »trinken«, was eine Mischung aus Gelächter und »Buh«-Rufen auslöst. Maik schenkt mir ein Schnapsglas randvoll ein und beobachtet ganz genau, wie ich es kippe, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten.
Dann bin ich an der Reihe.
Auch bei mir eiert die Flasche, ähnlich wie bei Helena, und sie bleibt ausgerechnet bei Timo stehen, der mir einen zuckersüßen Blick zuwirft und »Pflicht« ruft.
»Küssen«, kräht Maik.
»Das ist langweilig. Machen die beiden doch ständig«, erwidert Jo milde. »Dafür braucht es kein Flaschendrehen.«
Ich werfe Timo einen Blick zu – und was ich sehe, überrascht mich. Er wirkt absolut entspannt, ein Grinsen umspielt seine Mundwinkel. Ich würde ihn sogar als – na ja, lässig bezeichnen. Vermutlich rechnet er nicht damit, dass ich ihm eine anspruchsvolle Aufgabe stelle. Eine, bei der die Chance besteht, dass er sie nicht leisten könnte. Ich tippe langsam gegen mein Kinn, ohne ihn aus den Augen zu lassen, und lege dann den Kopf schräg. »Okay. Mach einen Handstand.«
»Was
?« Seine Gesichtszüge entgleisen ihm so sehr, dass es beinahe amüsant wirkt. Aber nur beinahe. Eigentlich tut er mir fast schon leid.
»Was denn?«, frage ich mit unschuldig klimpernden Wimpern. »Du bist ein Parkour-Läufer. Das dürfte doch ein Klacks für dich sein.«
Meine Worte werden von einer ganzen Menge dreckigem Gelächter begleitet. Sämtliche Lockerheit, die ihn eben noch erfüllt hat, ist abhandengekommen, aber als Timo langsam aufsteht und mich dabei nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde aus den Augen lässt, wirkt er fest entschlossen. Gott, hoffentlich habe ich ihn jetzt nicht zu irgendetwas provoziert, dessen er nicht gewachsen ist ... ich greife nach seiner Hand, um ihn zurückzuhalten, aber er entwindet sich meinem Griff, zuckt nur kurz mit den Mundwinkeln.
Dann steht er am Rande der Terrasse, zwischen uns und dem schmalen Rasenstück, das zum See führt. Abschüssig. Wenn er umkippt, könnte er geradewegs runter ins Wasser rollen. Langsam hebt er die Augenbrauen. »Alle bereit?«
»Die Frage ist, ob du bereit bist, Kumpel«, gibt Daniel zurück. Ich bin unsicher, ob er beeindruckt oder eher besorgt klingt.
»Alter, du hattest ein paar Bier, willst du nicht vielleicht -« Jo bleiben die Worte in der Kehle stecken, als Timo, ohne auf ihn zu hören, einen Satz nach vorne macht. Sein schlanker Körper biegt sich in eine Brücke, kurz danach schwingen seine Füße in die Höhe, und ... wow. Irgendjemand pfeift, Applaus brandet auf, aber ich tue nichts dergleichen.
Ich ... starre einfach nur.
Natürlich kann er einen Handstand. Er macht es einfach, und gemessen an der Reaktion der anderen scheinen auch sie überrascht zu sein. Genau das ist Timo - etwa eins achtzig groß und von Kopf bis Fuß voller Überraschungen.
Und Muskeln. Habe ich diese Muskeln erwähnt?
Sein Shirt ist heruntergerutscht, kaum dass er auf die Hände gekommen ist. Es hängt ihm irgendwo an den Schulterblättern, wodurch ich einen absolut delikaten Blick auf seine Rückenmuskulatur erhaschen kann. Das Kerzenlicht schmeichelt ihm sicherlich, aber wie er da so steht, oben rum fast nackt, im Hintergrund der glitzernde See, wird mein Mund ziemlich trocken. Auf »Ich-glaube-ich-kriege-gleich-kein-Wort-über-die-Lippen«-Art und Weise.
Ebenso schnell, wie er uns sein körperliches Geschick bewiesen hat, ist der Moment auch wieder vorbei. Er kippt zur Seite, rollt sich aber so gekonnt ab, dass ich versucht bin zu glauben, er hätte es extra gemacht, und kommt wieder auf die Füße – wippend, grinsend und sehr, sehr selbstzufrieden. Lässig zupft er sein Shirt zurecht.
»Wow«, stellt Nathalie anerkennend fest.
»Sehr gut, Mann«, ruft Maik.
Und ich starre immer noch.
Erneut lässt Timo mich nicht aus den Augen, während er zu mir zurückkehrt, noch immer sichtlich zufrieden, und das zu Recht. Ich kann an nichts anderes als an seine Muskeln denken, an seine helle Haut und das dringende Bedürfnis, jeden Zentimeter von ihm abzulecken.
»Und, Aufgabe bestanden?«, fragt er mich, als er schließlich neben mir sitzt. Er besitzt sogar die Dreistigkeit, so zu klingen, als würde er ehrlich zweifeln.
Ich tue das einzig Sinnvolle, gebe ihm einen Klaps gegen die Brust und seufze auf. »Was kannst du eigentlich nicht?« Dass meine Stimme beschämend rau klingt, ignoriere ich lieber.
Er zwinkert mir zu. »Da gibt es genug.«
Ich spare mir eine Antwort, und offenbar will er auch nicht darauf warten, denn er beugt sich vor, um die Flasche zu drehen – die auf Maik zeigt.
»Pflicht.«
Das war klar.
Die nächsten Runden vergehen wie im Flug. Es gibt ein paar schräge Aufgaben, ein paar lustige (Jo muss kopfüber in den See springen, was er auch tut – aber nicht, ohne sich vorher bis auf die Boxershorts auszuziehen. Mann, diese Jungs sind alle wirklich sehr durchtrainiert), und einige pikante Fragen. Ich komme vier Mal an die Reihe, und jedes Mal trinke ich. Natürlich kippt Maik mir das Glas immer randvoll mit Likör, und, na ja, nach dem letzten fühle ich mich in der Tat ziemlich beschwipst. So sehr, dass ich schließlich mutig bin und »Wahrheit« rufe, sobald mich die Flasche das nächste Mal trifft.
Ich schwöre, es kommt zu einem kollektiven Überraschungsruf.
Wie es das irrsinnig witzige Schicksal so will, hat niemand anderes als Maik das Vergnügen, mir eine Frage zu stellen. Ich kapiere selber nicht so genau, warum ich ausgerechnet bei ihm mein Muster durchbrechen musste. Er grinst mich so diabolisch an, dass ich bereits den Charakter seiner Frage erkenne, ehe er auch nur den Mund aufmacht.
Und dann ist es quasi schon zu spät.
»Erzähl mal. Wie ist Timo so im Bett?«
»Alter!«, faucht besagter Timo neben mir auf und springt so heftig auf die Füße, dass er gegen den Tisch knallt. Sämtliche Gläser klirren. Ich sehe, wie er seine Hände zu Fäusten ballt, und umfasse beschwichtigend sein Handgelenk, was seine Aufmerksamkeit zumindest kurz auf mich lenkt.
Ich finde diese Frage schrecklich und beschämend, spiele sogar kurz mit dem Gedanken, zu lügen. Weder will ich Timo vor allen bloßstellen, noch Verwirrung stiften. Immerhin sind wir schon eine Weile zusammen, zumindest glauben das die anderen. Andererseits möchte ich das, was uns verbindet, nicht mit noch mehr Lügen aufbauschen. Also entscheide ich mich für einen Kompromiss. »Ach, weißt du, Maik ...« Ich seufze theatralisch auf. »Bisher habe ich ihn nicht an mein Höschen gelassen, weil ich den richtigen Moment abwarten wollte. Aber deine bloße Anwesenheit macht mich so scharf, dass ich mich wahrscheinlich auf ihn stürzen werde, sobald wir in unserem Zimmer sind. Ich vertage die Antwort also auf morgen, okay?«
Im ersten Moment scheint es so, als hätte ich dieses Mal effektiv jedem die Sprache verschlagen. Es ist mucksmäuschenstill, so sehr, dass ich den See leise plätschern und Timo schnaufen höre. Selbst mein eigenes Blut rauscht gut hörbar in den Ohren. Ganz eventuell kommt mir sogar der Gedanke, spontan im Erdboden versinken zu wollen, weil ich glaube, nun zu weit gegangen zu sein – dieser verfluchte Alkohol.
Doch dann schnaubt Maik laut los und bricht damit den Bann. Ganz langsam beginnt er zu klatschen, die anderen fallen ein, und schließlich biegen sie sich vor Lachen. Ich werfe Timo einen Blick zu, beinahe ängstlich, doch was ich sehe, verschlägt mir nicht zum ersten Mal an diesem Tag den Atem. Er sieht mich derart intensiv an, seine Augen brennen so heftig, dass mir eines mit absoluter Deutlichkeit klar wird: Ich habe die Wahrheit gesprochen. Sobald wir alleine sind, werden wir einander näher kommen. Zwar bin ich kein Fan von unromantischen Planungen, aber verdammt, ja. Wir werden gleich miteinander schlafen.
Plötzlich kann ich es kaum noch erwarten, dass der Abend vorbei geht. Ich will – ich brauche mehr von ihm. Von seinen Muskeln, seinen Händen, seinem Mund. Und offenbar geht es ihm genauso.
Es wäre zu auffällig gewesen, direkt aufzuspringen und die Runde zu verlassen – kein Bedarf an lauschenden Ohren an der Decke und der Tür –, aber offenbar sind auch die anderen geneigt, den Abend fürs Erste zu beenden, denn schon kurz darauf ebbt die Lust auf Flaschendrehen ab, und wir beschließen, alles zusammenzupacken.
Die ganze Zeit über, während ich Gläser staple, Müll zusammen sammle und alles ins Haus trage, spüre ich Timos Blicke auf mir ruhen. Als würde er mich bereits mit langsamen, trägen Bewegungen berühren, mich ausziehen und damit in den Wahnsinn treiben. Nicht nur, dass meine Knie weich werden, ich spüre auch, wie sich Feuchtigkeit zwischen meinen Beinen sammelt. Und das, obwohl die anderen uns umringen, wir noch sämtliche Kleidungsstücke tragen – und er mich seit meinem Wahrheitsbekenntnis nicht ein einziges Mal mehr berührt hat. Weder auf flüchtige Art und Weise wie schon den gesamten Abend, noch bewusst. Keine Berührung. Kein Kuss. Nicht einmal ein nennenswerter Wortwechsel.
Und doch findet zwischen uns offensichtlich ein Austausch statt, den ich nicht kontrollieren kann.
Bis ich soweit bin, den anderen eine gute Nacht zu wünschen, liegen meine Nerven blank. So sehr, dass ich mir am liebsten noch an Ort und Stelle die Kleidung vom Leib gerissen und gerufen hätte, dass wir es doch Gott verdammt nochmal endlich hinter uns bringen mögen.
Wahrscheinlich stehe ich kurz vor einem Nervenzusammenbruch.
Wir schweigen noch immer, während wir die Treppe hinaufsteigen. Ich zuerst, dann Timo. Und ja, ich fühle seine Blicke auf meinem Hintern. Es kostet mich einiges an Überwindungskraft, ihn nicht besonders hin und her zu wiegen – ach egal. Was soll’s. Ich tue es und höre noch im selben Moment, wie er zischend einatmet.
Was meine Theorie nur bestätigt.
Während wir den kurzen Flur hinab laufen, schießen mir verschiedene Bilder wie eine Diashow durch den Kopf: Der Abend, an dem ich Timo zum ersten Mal in der Trattoria
gesehen habe, nervös und mit der blöden Rose. Timo im betrunkenen Zustand, verzweifelt und offensichtlich mit gebrochenem Herzen. Sein Strahlen beim Training. Seine Überraschung bei unserem ersten Kuss. Und bei allen anderen. Die Veränderung in seiner Miene, in unserem Spiel. All dies hat uns hierher geführt – und all dies ist Teil unserer Geschichte, die verrückter nicht sein könnte.
Ich erschaudere, als ich unser Zimmer betrete, Timo dicht hinter mir. Die Tür fällt mit einem lauten Knall ins Schloss, und endlich, endlich sind wir alleine. Es ist dunkel, mehr als das Licht der Sterne dringt nicht durchs Fenster, und meine Augen brauchen einen Moment, um sich daran zu gewöhnen. Ich atme tief ein, doch noch ehe ich überhaupt ein Wort sagen kann, berührt Timo mich federleicht im Nacken. Ich zucke zusammen.
»Du musst mir etwas erklären.«
Seine Stimme ist rau, und gleichzeitig streicht sie über meine Haut wie Seide. Ich würde mich ihm zuwenden, wenn diese winzige, beinahe unschuldige Berührung mich nicht zum Erstarren gebracht hätte. Die Gänsehaut auf meinem gesamten Körper ist so heftig, dass ich sie prickeln spüre. Mein Atem stockt.
Offenbar scheint Timo mein Schweigen nicht zu stören. Es raschelt hinter mir, aber mehr noch als alles andere spüre ich, wie er direkt hinter mich tritt. Seine Hände legen sich auf meine Schultern, drehen mich sanft, bis ich ihm zugewandt bin. Unwillkürlich denke ich an den Anblick seines muskulösen Rückens, und das Pochen zwischen meinen Beinen wird unerträglich. Ich keuche überrascht auf, als seine Lippen über meine Ohrmuschel fahren. »Maik macht dich also scharf, ja?«
Die Gefühle, die mich in diesem Moment erfüllen, könnten gegensätzlicher nicht sein, beinahe zerreißen sie mich. Meine Lust scheint einen Siedepunkt zu erreichen, denn alleine die Art, wie sein Atem über mein Ohr haucht, raubt mir den Verstand. Gleichzeitig ist da Angst – Angst, doch zu weit gegangen zu sein. Und eine Spur Belustigung, weil er offenbar spielen will. Ich kralle mich in sein Hemd, springe hoch und schlinge meine Beine um seine Taille, was ihn erstaunt nach Luft schnappen lässt – und im nächsten Moment treffen sich unsere Lippen, während wir gleichzeitig rückwärts gegen die Tür knallen. Meine Füße klemmen unbequem zwischen Holz und seinem besagten muskulösen Rücken, mein Kopf pocht von einem ungeplanten Zusammenstoß mit seiner Stirn, und doch ist das hier das Heißeste, was ich jemals erlebt habe. Wir küssen einander nicht nur, wir verschlingen uns. Ich halte es keine Sekunde länger aus, kann nicht einen Moment länger mit diesem inneren Druck umgehen, ohne zu implodieren – und ihm scheint es genauso zu gehen, denn mein Hunger steht seinem in nichts nach.
Schon bald bekomme ich keine Luft mehr.
Keuchend löse ich mich weit genug von seinem Mund, um sprechen zu können, gleichzeitig jedoch wandern meine Hände über seine Schultern, so fest, dass meine Nägel womöglich Spuren hinterlassen – trotz Shirt. »Du weißt genau, wie das gemeint war«, bringe ich hervor, beinahe wütend. »Und jetzt hör auf zu reden. Ich will dich. Kapiert? Nur dich.«
Ein Laut steigt aus seiner Brust empor, wie ich ihn noch nie in meinem Leben gehört habe. So tief und animalisch, rau und voller Besitzansprüche, dass ich beinahe alleine davon komme. Mittlerweile kann ich ein wenig mehr von meiner Umgebung erkennen, ich sehe das Weiß seiner Augen, die rauen Kanten seines Gesichts, die Tür ... und dann verschwimmt Letzteres ein wenig, als er sich in Bewegung setzt und erstaunlich zielstrebig Richtung Bett läuft.
Kurz darauf falle ich mit einem leisen Schrei auf die Matratze, Timo direkt hinterher. Seine Erektion bohrt sich hart in meinen Unterleib, mein Schrei endet in einem Stöhnen.
Timo knurrt leise auf. »Das hier ...«
»Pssst.« Ich versuche, meinen Finger auf seine Lippen zu legen, steche ihm dabei beinahe ein Auge aus, also verschließe ich seinen Mund mit meinem. Augenblicklich schiebt sich seine Zunge zwischen meine Lippen, und wahrscheinlich setzt in diesem Moment ein Teil meines Verstandes aus, verlässt sich vollkommen auf meine Instinkte.
Ich erwidere den Kuss mit allem, was ich habe – und mit noch mehr. Verdammt, in diesem Moment verliere ich einen Teil von mir unwiderruflich an ihn, und es ist mir egal. Hauptsache, er macht weiter, genau so, für den Rest der Nacht. Von mir aus auch für immer.
Fieberhaft beginne ich, an seinem Shirt zu zerren. Er lacht an meinen Lippen, umfasst meine Hände und schiebt sie zum Saum, damit ich es gezielt über seinen Kopf ziehen kann. Im Gegenzug mache ich ein Hohlkreuz, damit er auch mein Oberteil nach oben ziehen kann, was sich als deutlich schwerer herausstellt, da es so viel enger ist als seins. Irgendwie schaffen wir es, auch das zu beseitigen, ohne unseren Kuss länger als ein paar Sekunden zu unterbrechen. Als seine rauen Fingerspitzen über meine Haut am Rücken gleiten, den Verschluss des BHs lösen, stöhne ich so laut los, dass Timo auflacht.
»Sie werden uns alle hören, das ist dir klar, oder?«
Ich schnappe nach seiner Unterlippe, beiße zu, was ihm ein ähnlich lautes Stöhnen entlockt, und presse mein Becken dabei an seinen Unterleib. »Es ist mir scheißegal, wer was hört, Timo. Ich denke den ganzen Tag schon an nichts anderes, okay? Ich kann nicht mehr warten.«
Offenbar genau die richtigen Worte. Timo spannt sich an, hält inne, so als müsste er den Wahrheitsgehalt meiner Worte erst noch begreifen. Ich presse erneut mein Becken gegen seinen Unterleib, gegen die deutlich spürbare Härte, und endlich, endlich ist es soweit.
Timo kapiert endgültig, wie ernst es mir ist. Und er schaltet seinen verdammten Kopf aus.
Nun wird es ein bisschen wild.
Wir kugeln herum, bis er unten liegt, und ich zerre an seiner Hose, die erstaunlich fest auf seinen Hüften sitzt. Ohne darüber nachzudenken, reiße ich auch gleichzeitig seine Boxershorts hinab, und ich werde mit einem federnden Penis belohnt, der direkt in meine Richtung springt. Die gräuliche Dunkelheit ist intensiv, aber nicht intensiv genug, um mir einen Blick auf seine prächtige, geschwollene Eichel zu verwehren. Ich zögere nicht lange, sondern nehme sie direkt in den Mund.
»Fuck
«, stöhnt Timo los. Dann stammelt er mit gedrosselter Lautstärke weiter. »Oh Gott, Tasha, ich weiß nicht ...«
Mir ist egal, was er weiß oder nicht - ich probiere seinen salzigen Geschmack, nehme ihn so weit auf, wie es meine Kehle zulässt, und fahre dabei mit der Zunge über die Rückseite. Ich spüre Adern. Eine so stählerne Härte, die mir verrät, dass auch er es kaum noch erwarten kann. Seine Lust schmeckt nach mehr, und es kostet mich so viel Kraft, nicht weiter zu machen, bis er genau dort kommt; in meinem Mund, wehrlos unter mir, weil ich ihn absolut im Griff habe. Seine erstaunlich sanfte Hand in meinem Nacken lässt mich jedoch innehalten. Unsere Blicke treffen sich.
»Es ist lange her«, murmelt er rau. »Wenn du jetzt weitermachst, kann ich für nichts garantieren.«
Ein letztes Mal sauge ich, seine Eichel tief in meinem Mund, streiche mit der Zungenspitze über den Kopf, ehe ich ihn langsam nach draußen gleiten lasse. Erneut flucht er los, diesmal bedeutend leiser, und seine Hände bohren sich beinahe unangenehm in meine Arme. Er zieht mich nach oben, wirft mich förmlich auf die Matratze, und im nächsten Moment ist er über mir. Gemeinsam befreien wir mich von meiner Hose, und ich höre, wie es knistert, als er ein Kondom hervorzaubert und aufreißt. »Ich mache alles falsch«, murmelt er verzweifelt, und diesmal presse ich wirklich meinen Finger an seine Lippen.
Na ja, zumindest bis er ihn kurzerhand in den Mund nimmt und sanft zubeißt.
»Tust du nicht«, bringe ich atemlos hervor. »Genau so will ich es, ja? Für alles andere bleibt uns noch genügend Zeit. Ich will nur – ich muss dich spüren. Ich muss dich einfach spüren. Verstehst du das?«
Er hält inne, sein Penis direkt an meinem Eingang, eine so qualvolle Folter, dass sie mir beinahe Tränen in die Augen treibt. Wie viel mehr noch muss ich tun oder sagen, damit er in mich eindringt, ohne dass ich verzweifelt wirke?
»Wir haben Zeit?«, wiederholt er. Seine Stimme vibriert vor unterdrückten Emotionen. »Das hier ist nicht einmalig?«
»Timo!«, fauche ich beinahe. »Du müsstest mittlerweile kapiert haben, dass ich nicht nur auf Spaß mit dir aus bin. Also bitte – bitte erlöse mich, ehe ich an meinem Verlangen erstick-« Weiter komme ich nicht. Genauer gesagt gehen meine Worte in einem Schrei unter, denn er dringt so plötzlich und so kraftvoll in mich ein, dass ich schlicht und ergreifend jegliche Fähigkeit verliere, zu kommunizieren.
Keine Ahnung, was ich erwartet habe – aber nicht das. Timo ist nicht grob, aber auch nicht sonderlich zärtlich; immer wieder zieht er sich komplett aus mir zurück, nur um dann fester zuzustoßen. Jedes einzelne Mal stöhnt er auf, so tief, dass es mir einen Schauder nach dem anderen über den Körper jagt. Ich klammere mich an ihm fest, zu nicht viel mehr in der Lage, als mich ihm entgegenzupressen. Meine Finger bohren sich tief in seinen Rücken, meine Beine sind fest um seine Hüfte geschlungen.
Und er stößt zu, immer fester und fester, bis es sich anfühlt, als würde ich mich auflösen.
Ich beginne, sinnlose Dinge zu stammeln, unartikulierte Laute der Lust, die ihn noch weiter anfeuern. Unser Atem vermischt sich, unser Schweiß, irgendwie auch unsere Seelen, und ich verliere jegliches Zeitgefühl. Es ist, als hätte mich alles in meinem Leben auf genau diesen einen Moment vorbereitet: Ich löse mich auf, setze mich neu zusammen, und all das, während Timo mich so hart nimmt, als würde er damit irgendein Zeichen auf mir setzen wollen. In mir.
Und genau das tut er.
Der Orgasmus baut sich nicht langsam auf, er überrollt mich so heftig, wie mich dieser intensive Sex überrascht hat. All meine Muskeln krampfen sich zusammen, und ich schreie heiser auf, kaum noch in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Nur wenige Augenblicke später versteift sich auch Timo. Er presst meinen Namen hervor, stößt ein letztes Mal tief in mich und bricht dann auf mir zusammen.
Eine ganze Weile lang liegen wir genau so. Er auf mir, ein schweres, aber nicht unerträgliches Gewicht, beinahe beruhigend. Sein Penis zuckt gelegentlich, was wiederum mich zusammenzucken lässt, und steckt immer noch hart in mir. Wir atmen gemeinsam, beruhigen einander mit gleichmäßigen, tiefen Zügen, und das ist sogar noch intimer als der Akt zuvor.
Gerade, als ich beginne wegzudämmern, rollt er sich von mir herunter. Ich stöhne gequält auf, was ihm ein sanftes Lachen entlockt. »Warte. Ich entsorge kurz das Kondom.«
Mit schweren Lidern beobachte ich, wie sein Schemen den Raum durchquert und ins Bad tritt, aber er kommt wirklich nur wenige Augenblicke später zurück, weshalb ich nicht einmal die Chance bekomme, mich zu bewegen. Als würde ich nichts wiegen, zieht er die Decke unter mir hervor und klettert dann zu mir ins Bett, deckt uns beide zu. Seine Arme legen sich warm und beruhigend um meine Taille.
»Schlaf gut, meine Schöne«, murmelt er an meiner Schläfe.
»Hmmmmm«, erwidere ich, was so viel heißt wie »Du auch, du unfassbare Wildkatze. Was ist gerade bloß geschehen? Ich bin sprachlos!«. Vielleicht versteht er mich, denn er lacht leise auf. Und das ist das letzte Geräusch, das ich höre, ehe ich endgültig einschlafe.
Sein Lachen.
Was könnte es Schöneres geben?