Kapitel 3 - Falsche Voraussetzungen
Flann hätte am liebsten den Kopf gegen die Tür gehämmert, als Darla gegangen war.
Wieso musste er sie so angehen? Er hatte doch in ihren Augen gesehen, dass sie anders war als Demmer.
Einen Augenblick überlegte er, ihr hinterherzurennen, aber schnell ließ er den Gedanken fallen. Wahrscheinlich redete sie im Moment eh nicht mit ihm, außerdem saß sein Misstrauen immer noch tief.
Er fühlte sich völlig zerrissen. Auf der einen Seite wusste er, dass sie zu ihm gehörte, andererseits arbeitete sie für den erbärmlichen Wicht, der ihn zu diesen Kämpfen zwang.
Durfte er seinem Instinkt trauen oder würde er ihn wieder im Stich lassen? Aber egal, was stimmte, sein Verhalten war unterste Schublade gewesen, das hatte die Kleine einfach nicht verdient.
Müde ließ er sich auf die Couch im Nebenzimmer fallen. Jemand hatte die Ferienhäuschen bewohnbar gemacht, denn hier gab es weder Dreck noch Staub. Wenn man nicht gerade aus dem Fenster zu der ehemaligen Rezeption rübersah, könnte man glauben, dass die Anlage genutzt wurde.
In diesem Zimmer standen außer dem Sofa, auf dem Flann jetzt saß, zwei Sessel, ein Sideboard, ein niedriger Tisch, ein Esstisch und vier Stühle. Dekorationen oder Bilder suchte man allerdings vergebens. Die Tatsache störte ihn weniger, da er kaum vorhatte, auf Dauer in dem Häuschen zu leben.
Ein Schemen löste sich aus der Wand und genau das war einer der Gründe, warum Flann lieber heute als morgen nach Hause gefahren wäre.
Sein hübsches Cottage in Reaniesglen, im County Cork, beherbergte jedenfalls keine Geister.
„Was willst du? Falls du jemandem auf die Nerven gehen möchtest, dann nimm doch den Verantwortlichen.“
Der Tiger knurrte die durchsichtige Gestalt mit dem bösartigen Grinsen leise an.
„Aber du siehst mich. Die dummen Menschen bemerken ja nicht mal, dass ich da bin, wenn ich sie verfluche.“
Der Geist blieb direkt vor ihm stehen, was den Gestaltwandler ziemlich mürrisch machte. Er konnte ihn ja schlecht am Kragen packen und aus dem Häuschen werfen.
„Vielleicht wirken deine Flüche nur bei deinesgleichen. Setz dich oder geh.“
Ein leises Seufzen flog durch den Raum.
„Du hast getötet, was für extreme Unruhe sorgt. Kannst du das nicht lassen?“
Flann hätte beinahe aufgelacht, doch er schüttelte nur den Kopf.
„Die Geister der Ermordeten nisten sich bei mir ein, aber ich bin wohl kaum die Wohlfahrt. Was glaubst du, wie viele Seelen in dieses Gebäude passen? Am Ende wollen sie noch in mein schönes Schloss.“
Die endlose Litanei hatte der Tiger schon am letzten Abend gehört, als er hier angekommen war. Die größte Angst des Hausgeistes bestand darin, dass andere Wesen seine Burg, Terryglass Castle, die man hinter der Ferienanlage fand, besiedeln würden. Für die Seelen der Getöteten wäre es bestimmt ein hübsches Domizil, ein Lebender musste sich zuerst durch die Pflanzen kämpfen, die mittlerweile mannshoch um die Ruine herum wuchsen.
„Noch mal, wenn du dich unbedingt beschweren willst, dann bei Demmer. Mir sind die Hände gebunden.“
Wieder seufzte der ehemalige Schlossherr auf, was sich ein wenig wie ein Jammern anhörte.
„Aber du bist ein magisches Wesen, vielleicht kannst du mir helfen? Rede mit dem Mann. Ich gebiete es.“
Flann verdrehte die Augen, lachte leise, ehe er tief Luft holte. Wieso musste dieser Geist ihm auch noch auf die Nerven gehen? In seinem Kopf herrschte genug Chaos, von seinem Herzen ganz zu schweigen.
„Du bist niemand, der das Recht hat, etwas von mir zu verlangen. Ich bin nicht dein Untergebener. Außerdem bist du tot und ich lebe. Wir befinden uns also in zwei Welten.“
Jetzt begann der Schlossherr erneut, durch das Zimmer zu wandern.
„Aber ich hatte immer Macht über die Leute, die sich hierher verirrten. Was glaubst du, warum keine Touristen mehr herkamen? Sie alle haben sich gefürchtet. Die Menschen spüren das Unheil, das ich über sie lege.“
Er plusterte sich auf, dabei sah er aus, als ob man eine Seifenblase aufblies.
„Sicher? Vielleicht war es auch einfach die Misswirtschaft des Betreibers. Jedenfalls käme das genauso infrage. Tu mir einen Gefallen und nerv Demmer. Ich hätte jetzt gerne meine Ruhe.“
Der Geist sah ihn beleidigt an.
„Du bist ein magisches Wesen und willst keinem Gleichgesinnten helfen? Wir könnten uns dieses wunderschöne Domizil teilen. Nur meine Burg, die behalte ich für mich.“
Sein Tonfall bekam etwas Lockendes, doch gab es nichts Reizvolles für Flann an der verfallenen Freizeitanlage.
„Gleichgesinnt? Ich glaube kaum, dass das so stimmt. Im Gegensatz zu dir töte ich keineswegs aus Spaß. Deine Geschichte hört sich ganz anders an. Du hast die Menschen hinterrücks umgebracht, sobald es dir einen Vorteil verschafft hat.“
Bei der Aussage sah die geisterhafte Gestalt geschmeichelt auf den Gestaltwandler.
„Du hast tatsächlich von mir gehört? Gibt es Berichte von mir und meinen Taten in den Geschichtsbüchern?“
Spöttisch lachend schüttelte der Tiger den Kopf.
„Nein, aber ich bin jetzt 500 Jahre alt. Ich war schon auf der Welt, als James Butler die Burg besessen hat. Du bist allerdings kein Duke of Ormonde, sondern ein Schurke, der sich in dem Gemäuer einnistete. Du warst der Verwalter, der von den Nachkommen der Grafen von Ormonde eingestellt wurde. Man hat dich damals gehängt, weil du ein junges Mädchen entehrt hast. Um deine Tat zu vertuschen, hast du sie im Lough Dergh ertränkt. Das nenne ich mal einen guten Grund, um als Geist in dem alten Castle herumzuspuken. Wobei du einige Menschen mehr auf dem Gewissen hast, stimmt es?“
Empörung zeigte sich jetzt deutlich auf dem Gesicht des Gespenstes.
„Ich war dazu berechtigt, mir meine Gespielin ins Bett zu holen. Das dumme Ding hat sich gewehrt. Sie ist gefallen und mit dem Kopf angeschlagen“, versuchte er sich zu verteidigen, aber Flann sah sofort, dass er log.
„Ich habe die Leiche damals gesehen, weil ich hier in Terryglass lebte. Ein unscheinbarer Fischer, den jeder gerne wieder vergisst. Du erinnerst dich nicht an mich? Ich war es, der die Milchmagd Kathy aus dem Wasser gezogen hat. Wenn sie mit dem Kopf aufgeschlagen ist, wieso hast du sie in den See geworfen?“
Aufmerksam sah Flann ihn an. Er erinnerte sich zu gut an das junge, hübsche Mädchen, das ihn immer freundlich behandelt hatte.
„Außerdem konnte man Würgemale an ihrer Kehle sehen. Also behalte deine Lügen für dich und scher dich endlich raus. Ich will mit Mördern nichts zu schaffen haben.“
Bei den Worten musste er selbst schlucken, denn im Grunde war er kaum besser.
„Die Male können auch von einem lebhaften Liebesspiel stammen. Oder wie erklärst du dir die Flecken am Hals von der pummeligen Frau in Demmers Begleitung?“
Hochmütig sah der Kerl auf ihn herab, doch ehe Flann etwas fragen konnte, verblasste das Bild.
Endlich hatte er seine Ruhe, nur jetzt musste er herausfinden, was es mit der Anspielung des nervenden Geistes auf sich hatte.
Schnell lief er ins Schlafzimmer, zog sich Jeans, Socken, ein eng anliegendes schwarzes Shirt und Schuhe an. Dabei wurde er schmerzhaft an seine Wunden erinnert, die zwar bereits verheilten, aber immer noch scheußlich wehtaten, sobald der Stoff seine Haut berührte.
Mit zusammengebissenen Zähnen wartete er einen Moment, bis der Schmerz nachließ, anschließend ging er zum Haupthaus rüber.
Hier fanden weitere Kämpfe statt, nur hielt ihn das kaum ab, um nach Darla zu sehen.
Er benahm sich schon wieder so idiotisch, wie vorhin. Was war aus seinem Vorhaben geworden, sich von der Kleinen fernzuhalten?
Einen Augenblick blieb er vor der Eingangstür stehen, um Ordnung in sein Gedankenchaos zu bringen. Natürlich versagte er auf ganzer Linie, denn Gefühl und Kopf lagen in einem erbarmungslosen Fight.
Sein Misstrauen feuerte seinen Verstand an, sich durchzusetzen, damit er umdrehte, ehe er sich lächerlich machte. Sein Instinkt unterstützte sein Herz, das ihn dazu drängte, Darla sofort vor allem Bösen zu beschützen.
Durfte er wirklich glauben, dass sie zu ihm hielt, sollte es hart auf hart kommen? Er war sich sicher, dass sie seine Gefährtin war, nur was, wenn sie sich nicht überzeugen ließ? Menschen besaßen leider nicht das Wissen der magischen Wesen.
Als ihm der Bericht des Geistes noch einmal durch den Kopf ging, blieb das Wort „Würgemale“ hängen. Auf keinen Fall sah er zu, wie man die Kleine misshandelte, egal, was aus ihnen am Ende würde.
Entschlossen stieß er die Tür auf, ehe er sich auf den Weg in den Computerraum machte.
Die Vorfreude darauf, Darla gleich wiederzusehen, unterdrückte er genauso wie die Gedanken, dass er dabei war, den größten Fehler seines Lebens zu begehen.
Vorsichtig öffnete er die Tür, hinter der er Demmers Nichte vermutete. Da er seinen Widersacher deutlich hörte, durfte er davon ausgehen, dass dieser sich im Moment in der ehemaligen Abstellkammer des DJs befand, von der aus er den Käfig beobachten konnte.
„Hey, Darla, hast du einen Augenblick Zeit?“
Er klopfte an den Rahmen, ehe er sie ansprach, damit sie sich nicht erschreckte.
Sofort drehte sie sich um, gleichzeitig legte sie eine Hand an ihre Kehle.
„Oh, du traust dich, alleine zu mir zu kommen? Wo ich doch die böse Furie bin, die dir in jeder Hinsicht schaden will?“
Spöttisch hob sie die Augenbrauen an, aber Flann ging überhaupt nicht auf ihren Ton ein.
Langsam kam er auf sie zu, packte vorsichtig ihr Handgelenk und zog es zur Seite, damit er ihren Hals begutachten konnte.
„Lass das“, fauchte sie, nur gegen ihn hatte sie keine Chance.
Sanft strich er mit den Fingerspitzen über die roten Flecken, die ihm zeigten, dass jemand sie gewürgt hatte.
„Wer war das?“
Seine Stimme klang behutsam, so als ob er sich bemühte, sie nicht zu erschrecken.
„Was geht es dich an? Vielleicht stehe ich auf harten Sex mit solchen Spielchen?“
Darla schluckte schwer. Zu gerne würde sie sich ihm anvertrauen, aber sie wusste ja, was er von ihr hielt. Außerdem brachte es keinem etwas, wenn Flann auf ihren Onkel losging.
Bevor sie sich abwenden konnte, packte er ihr Kinn, um sie zu zwingen, ihm ins Gesicht zu sehen.
„Bitte, sag mir, wer das war. Hat Thorsten sich an dir schadlos gehalten?“
Seine Augen schimmerten zärtlich oder bildete sie sich das jetzt ein? Wollte er ihr wirklich helfen?
„Thorsten? Quatsch, der hat doch viel zu viel Angst vor Matthias. Außerdem hat er deine Warnung sehr ernst genommen. Er geht mir komplett aus dem Weg, zumindest im Moment.“
Für einen Augenblick schloss Darla die Lider, genoss es, dass Flann mit seinem Daumen über ihre Wange strich, während er ihr Kinn festhielt. Seine Berührung beruhigte sie, gleichzeitig verstärkte sie ihre Sehnsucht nach etwas, das sie nie haben würde. Er wollte nichts von ihr, das hatte er deutlich genug gemacht.
„War es dein Onkel? Darla, sag es mir, sei ein braves Kind.“
Dass er genau die falschen Worte gewählt hatte, erkannte er in der Sekunde, in der sie ihn wieder ansah.
„Stimmt, ich vergaß, ich sollte ja lieber mit meinen Puppen spielen“, zischte sie, anschließend schlug sie seine Finger weg, um sich energisch umzudrehen.
„Hau ab und kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten.“
Die Abfuhr hatte er sich selbst zuzuschreiben, das war ihm klar, nur so leicht würde er nicht aufgeben.
Mit einem Schritt stand er hinter ihr, legte seine großen Hände auf ihre Schultern und drehte sie zu sich. Gut, dass sie auf einem Drehstuhl saß, sodass sie sich kaum wehren konnte.
„Ich habe dich falsch eingeschätzt, entschuldige.“
Sein Lächeln hatte etwas Entwaffnendes, trotzdem blieb Darla misstrauisch.
Welches Spiel spielte er jetzt wieder? Vorhin hatte er ihr ziemlich deutlich gemacht, was er von ihr hielt und plötzlich besann er sich?
„Ist schon gut. Ich muss weitermachen, würdest du mich bitte alleine lassen?“
Sie wollte sich erneut zu den Monitoren umdrehen, die alle ausgeschaltet waren, was Flann mit einem Lächeln bemerkte. Zumindest war sie nicht so sensationsheischend, dass sie sich die Kämpfe begeistert ansah.
„Nein.“
Seine Antwort warf sie komplett aus der Bahn, zumal er sie auch noch festhielt.
„Soll ich die Security rufen?“
Ihre Stimme klang unsicher, so als ob sie selbst nicht wusste, ob sie das wirklich zustande brachte.
„Ist dir meine Gegenwart so zuwider? Oder hast du Angst vor mir?“
Fragend sah er sie an, während er in ihren Augen las wie in einem offenen Buch.
„Wieso sollte ich mich vor dir fürchten? Wenn du mir etwas tun wolltest, hättest du vorhin in deinem Schlafzimmer die beste Möglichkeit dazu gehabt. Außerdem bist du auch nur ein Mann.“
Schnippisch hielt sie ihm stand, allerdings bemerkte Flann den sehnsuchtsvollen Gesichtsausdruck zu gut.
Mit einem sinnlichen Lächeln beugte er sich zu ihr herunter, legte eine Hand in ihren Nacken und strich mit seinen Lippen über ihre.
Genüsslich leckte er über ihre Unterlippe, anschließend drang er unnachgiebig in ihren Mund ein. Langsam und zärtlich erkundete er ihre Mundhöhle, kostete von ihr, berauschte sich an ihrem Geschmack.
Ein leises Seufzen entkam ihr, was ihm sagte, dass sie alles andere als abgeneigt war, ihm näherzukommen.
Gekonnt umspielte er ihre Zunge, bescherte ihr Gefühle, die sie vergessen ließen, wo sie gerade war. Mit zarten Bewegungen kraulte er ihren Haaransatz, jederzeit bereit zuzupacken, sollte sie den Kopf abwenden, aber Darla dachte gar nicht daran.
Im Gegenteil, sie hatte so sehr gehofft, dass er sie noch einmal küssen würde, ihr erneut ein wenig Zärtlichkeit schenkte.
Sie schloss die Augen, um ihre Umwelt ausschließen zu können. Der Moment gehörte nur ihnen, zumal sie wusste, wie schnell es wieder vorbei sein konnte.
Ihre Gedanken lösten sich auf, die Welt um sie herum versank, bis sie nur noch Flann wahrnahm, der dieses erotische Feuerwerk in ihrem Kopf auslöste.
Leise stöhnend schlang sie jetzt ihre Arme um seinen Hals, spürte, dass er sie in die Höhe zog, als er sich aufrichtete, aber er ließ nicht von ihr ab.
Zart saugte er an ihrer Unterlippe, bevor er erneut ihren Mund in Besitz nahm, um ihr die wundervollen Gefühle zu schenken.
Viel zu schnell gab er sie wieder frei und schob sie ein Stückchen von sich weg.
„Wir sollten das auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Dein Onkel wird kaum erfreut sein, wenn er uns hier erwischt.“
Die Worte katapultierten sie sofort in die Wirklichkeit zurück, sodass sie erschrocken die Augen aufriss.
Darla war so in diese Traumwelt, in der Flann sie wollte, eingetaucht, dass sie ihre Umgebung völlig vergessen hatte.
„Ich stimme dir zu, nur wird es keine Fortsetzung geben. Du hast deutlich genug gesagt, was du von mir hältst. Ich verstehe nur nicht, wieso du mich jetzt schon zum zweiten Mal geküsst hast.“
Fragend blickte sie zu ihm hoch, als sie sich wieder gesetzt hatte.
„Es tut mir leid, dass ich dich verletzt habe. Ehrlich. Aber ich bin misstrauisch und dazu hat mir dein Onkel auch mehr als einen Grund gegeben, wie du weißt.“
Verstimmt hob Darla die Augenbrauen an, wobei sie leicht den Kopf schüttelte.
„Ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Ich bin keineswegs so im Bilde, wie du anzunehmen scheinst.“
Wollte sie ihm wirklich den Bären aufbinden, dass sie nicht wusste, wie ihr Onkel ihn zum Kämpfen brachte? Das nahm er ihr niemals ab!
„Lass die Spielchen, Darla.“
Ärgerlich blickte er auf sie herunter, dabei erinnerte er sich, weshalb er überhaupt hergekommen war.
„Sag mir lieber, ob du die Verletzungen Demmer zu verdanken hast.“
Zornig erwiderte sie seinen Blick.
„Ich spiele nicht oder denkst du, dass das hier Spaß gemacht hat? Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten, Flann. Egal, was ich antworte, du glaubst mir doch eh kein Wort.“
Wütend drehte sie sich zu ihren Monitoren. Was bildete dieser Idiot sich eigentlich ein? Glaubte er wirklich, dass er sie küssen und anschließend wieder wie eine Schwerverbrecherin behandeln durfte?
„Gut, wenn du meine Hilfe ablehnst, dann ist das deine Sache. Solltest du es dir überlegen, weißt du, wo du mich findest. Nur in dem Fall erwarte ich Ehrlichkeit.“
Stinksauer wandte er sich zur Tür, um den Raum zu verlassen, als Matthias hereinkam.
„Flann? Was hast du denn hier zu suchen?“
Man hörte, dass Demmer alles andere als begeistert war, den Tiger bei seiner Nichte zu entdecken.
„Ich habe nachgefragt, was das mit den weiteren Kämpfen soll. So war das keineswegs abgesprochen.“
Abwartend verschränkte er die Arme vor der Brust, dabei sagte seine Körpersprache deutlich, dass man ihn lieber nicht reizte.
„Und dazu belästigst du Darla?“
Ungläubig sah Matthias von einem zum anderen, natürlich auch, um zu sehen, ob irgendetwas vorgefallen war, was er besser wissen sollte.
Darla zuckte leicht mit den Schultern.
„Ich hab ihm schon gesagt, dass er dich fragen muss, was du vorhast.“
Offen erwiderte sie den Blick ihres Onkels, dabei unterdrückte sie den Drang, die Würgemale am Hals zu verdecken.
„Die Leute sind mit deiner Leistung unzufrieden. Einige fordern bereits das Eintrittsgeld zurück. Beide Kämpfe zusammen haben kaum eine halbe Stunde gedauert. So geht das nicht. Ich musste ihnen versprechen, dass wir am kommenden Wochenende eine zusätzliche Show veranstalten. So lange wirst du hier unser Gast sein. Immerhin bekommst du einen guten Teil ab.“
Bei dem letzten Satz, den ihr Onkel hinterhältigerweise nachschob, horchte Darla auf.
Flann stieg in den Käfig, weil er auf das Geld scharf war? Das konnte sie nicht glauben.
„Du weißt genau, dass ich sofort auf die Kohle verzichte, wenn du mich endlich in Ruhe lässt. Aber dazu benötigst du wohl einen würdigen Nachfolger“, knurrte der Tiger in dem Augenblick.
Ihm entging das Entsetzen in Darlas Gesicht, da er Demmer lieber im Auge behielt.
Zu gerne hätte sie sich die Ohren zugehalten. Flann ließ sich mit Geld ködern, weil Matthias keinen besseren Gegner fand? Irgendwie fühlte sich die Aussage so unendlich falsch an, trotzdem wusste sie ja, was sie da gerade hörte.
„Lass uns rüber in mein Büro gehen. Darla sollte ungestört arbeiten können.“
Der Verbrecher deutete auf die Tür, woraufhin ihm der Tiger widerwillig folgte. Am liebsten würde er sofort nach Hause fahren, um diese miese Sache hier zu vergessen, inklusive Darla.
Demmer öffnete einen Raum, in dem ein protziger Schreibtisch, eine edle Ledergarnitur und ein Aktenschrank standen.
„Nicht ganz mein Geschmack, aber ich verbringe ja nur einige Stunden in dem Büro“, bemerkte Matthias, als er sich auf den Chefsessel setzte, gleichzeitig zeigte er auf den Stuhl.
Flann schüttelte leicht den Kopf, verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn auffordernd an.
„Wie lange willst du mich wirklich festhalten? Ich muss mich um mein Geschäft kümmern.“
Wütend taxierte er den Mann, der ihn aalglatt anlächelte. Zu gerne würde er ihn jetzt einfach töten, dann hätte er seine Ruhe. Dummerweise hatte Demmer vorgesorgt, sodass sein vorzeitiges Ableben den Tiger in enorme Schwierigkeiten brachte.
„Diese eine Woche wird das Fitnessstudio ohne dich auskommen. Ich bin im Bilde über deine Aktivitäten. Du hast fähige Mitarbeiter, die dich niemals hängen lassen. Also, wieso heulst du rum, wie ein kleines Mädchen?“
Flann sehnte sich danach, das süffisante Grinsen aus dem arroganten Gesicht zu kratzen, stattdessen ballte er nur die Hände zu Fäusten.
„Mir behagt es nicht, eingesperrt zu sein, das weißt du ganz genau, du Ratte.“
Belustigt schüttelte Demmer den Kopf.
„Was für eine ungehörige Ausdrucksweise. Schäm dich, Flann. Meine Nichte bleibt übrigens auch hier, da ich sie gerne in meiner Nähe haben möchte. Ein fleißiges kleines Ding, die mir so viele Sachen abnimmt.“
Gezielt sorgte Matthias dafür, dass der Tiger eine völlig falsche Vorstellung von Darlas Rolle in dem verbrecherischen Geflecht bekam.
„Sie geht mich einen feuchten Kehricht an. Wieso erwähnst du sie überhaupt? Du willst wohl kaum, dass ich mich um sie kümmere, oder?“
Aufmerksam betrachtete Flann ihn. Er roch, dass der Mann log, nur in welchem Punkt? Weshalb hatte er Darla hergebracht? Um ihm zu helfen oder um die Kämpfer zu umgarnen? Irgendetwas stank zum Himmel, nur kam er im Augenblick nicht darauf, was es war.
„Mir ist es egal, wenn die Kleine ihren Spaß hat. Aber ich glaube, dass du dir etwas anderes ins Bett holst. Auswahl ist ja genug da. Die Nutten bleiben natürlich auch und du bist mein Gast, mit allen Vorteilen.“
Beinahe hätte Flann sich vor Ekel geschüttelt. Auf keinen Fall wollte er so tun, als ob er eingeladen wäre.
„Vergiss es, Demmer. Ich bin hier, weil du die Macht hast, mich zu zwingen.“
Mit den Worten verließ er das Büro, um auf direktem Weg in das Ferienhäuschen zu laufen, das ihm zur Verfügung stand.
Missmutig warf er sich erneut auf die Couch und fluchte kräftig, als das Polster ihn an die Wunde an seinem Rücken erinnerte.
Müde ließ er sich das Gespräch mit Darla noch mal durch den Kopf gehen. Vermutlich hatte Matthias ihr die Würgemale beigebracht, nur wieso?
Mit Bestimmtheit konnte er ausschließen, dass es sich um die Folgen eines heißen Sexspiels handelte!
Flann kam es vor, als ob er ein Puzzlespiel lösen sollte, bei dem er nicht alle Teile kannte.
Demmer behauptete, dass Darla ihn extrem unterstützte, darüber hinaus habe er sie gerne in seiner Nähe, würgte sie aber so, dass man es deutlich sah. Oder hatte es doch jemand anderes getan? In dem Fall wäre Matthias niemals so ruhig geblieben.
Durfte er glauben, dass die Kleine keine Ahnung hatte, was ihr Onkel da trieb? Oder, dass sie gezwungen wurde, mitzuarbeiten? Nur weshalb lehnte sie dann seine Hilfe ab? Vielleicht war das alles ein ausgeklügeltes Spiel, um ihn noch tiefer in die Scheiße zu reiten?
Sein Misstrauen flüsterte ihm ein, dass sie ihm eventuell auch etwas vorspielte. Aber sein Verstand schaltete sich sofort ein, um die Vermutung als absurd zu verwerfen. Die Spuren an Darlas Hals zeigten ihm, dass sie in ernsthaften Schwierigkeiten steckte und sein Instinkt sagte ihm, dass ihr Onkel dabei eine entscheidende Rolle spielte.
In seinem Kopf jagte ein Gedanke den anderen, sodass er sich gequält die Hand vor die Augen presste.
Schnell nahm er sich vor, der Kleinen am kommenden Morgen auf den Zahn zu fühlen. So wie Demmer ihm mitgeteilt hatte, blieb sie die Woche über in der verlassenen Ferienanlage, anstatt zurück nach Deutschland zu fliegen.
Um sich ein wenig zu beruhigen, ging er in die Kochecke, schaltete den Wasserkocher ein und brühte sich einen Pfefferminztee auf. Er liebte den Tee, sodass er auch jetzt ein Döschen mit getrockneten Minzblättern mitgebracht hatte.
Gott sei Dank war Demmer in dem Punkt wirklich vorausschauend gewesen, denn dieses Feriendomizil war in Ordnung gebracht worden. Selbst die Küchenzeile konnte man benutzen.
Mit seiner Teetasse kehrte Flann in den Wohnbereich zurück, wo er sich müde auf die Couch setzte.
„Und? Bist du dem Geheimnis auf die Spur gekommen“, ertönte die Stimme des Hausgeistes.
Gequält seufzte der Tiger auf.
„Kannst du nicht jemand anderen nerven, James? Ich habe wirklich genug von deinem Geschwätz.“
Die fluoreszierende Gestalt lachte leise, ehe sie sich auf einem der Sessel niederließ.
„Du könntest höflicher sein. Immerhin war ich es, der dir mitgeteilt hat, dass die Kleine verletzt wurde. Außerdem musste ich über deine Worte nachdenken. Wir sind bestimmt keine Brüder im Geist, denn ich weiß meinen Vorteil zu nutzen, während du dich herumschubsen lässt.“
Unwillig stieß Flann den Atem aus.
„Klar, deshalb hat man dich auch aufgehangen, weil du so schlau warst. James, es reicht wirklich. Lass mich in Ruhe oder muss ich einen Exorzisten holen?“
Wie gerne hätte er das Gespenst am Kragen gepackt und hinausgeworfen, leider war er kaum in der Lage, ihn anzufassen.
„Und wenn ich dir noch etwas über die Kleine sagen kann?“
Mit einem hinterhältigen Lächeln sah die schemenhafte Gestalt auf den Tiger.
„Spuck es aus oder lass mich endlich alleine.“
Flann trank einen Schluck von seinem Tee, anschließend tat er so, als ob er seinen Besucher nicht mehr sah.
„Sie haben vorhin gestritten. Sie hat gedroht, ihren Onkel bei der Polizei anzuzeigen. Das ist ein ziemlich boshaftes Verhalten, wenn du mich fragst. Seinen einzigen Verwandten ans Messer zu liefern.“
Der Geist tat so, als ob er über seine eigenen Worte nachdachte, doch man merkte, dass er auf die Reaktion des Tigers gespannt war.
Im ersten Moment konnte Flann nicht einschätzen, was er davon halten sollte. Falls James die Wahrheit sagte, wusste Darla durchaus über die Machenschaften ihres Onkels Bescheid. Aber sie schien damit ein Problem zu haben, sonst würde sie kaum mit der Polizei drohen.
„Weshalb hat sie die Drohung ausgesprochen? Weißt du das?“
Neugierig sah Flann auf seinen Besucher, der nur leicht mit den Schultern zuckte.
„Nein, es hat mich nicht sonderlich interessiert. Ich konnte nur ein paar Wortfetzen aufschnappen, als ich vorhin durch das Hauptgebäude gestreift bin. Aber wenigstens redest du normal mit mir. Vielleicht kannst du mir jetzt auch helfen, diese verdammten Menschen loszuwerden?“
Fast schon flehend sah der Geist ihn an.
„Noch mal, mir sind die Hände gebunden, denn ich habe hier kein Mitspracherecht. Im Gegenteil, Demmer hat mich fest im Griff, sonst wäre ich kaum in den Käfig gestiegen.“
Müde lehnte Flann sich zurück, um seinen Tee auszutrinken. Die Bemerkung über Darla brachte ihn kein Stück näher an die Wahrheit heran. Sie hatte mit ihrem Onkel gestritten und ihm gedroht, so weit, so gut, nur was genau dahintersteckte, ob er ihr trauen durfte oder nicht, stand immer noch in den Sternen.
Wenn er sich doch wenigstens auf seinen Instinkt verlassen könnte. Nur in diesem speziellen Fall traute er sich das einfach nicht, dazu hing zu viel von ihm ab.
James jammerte ihm eine knappe halbe Stunde die Ohren voll, bis er sich verabschiedete, weil er keine Antwort erhielt.
Erst gegen zwei Uhr morgens hörte Flann die Autos abfahren. Jetzt herrschte endlich Ruhe, sodass auch der Tiger ins Bett ging.
Als er die leichte Decke über sich zog, musste er daran denken, wie Darla hier in diesem Zimmer gestanden hatte. Automatisch suchte er nach der Kamera in der Ecke, die, genau wie die anderen, aktuell ausgeschaltet war.
Genüsslich erinnerte er sich an den süßen Kuss, den er ihr gestohlen hatte. Wie gerne würde er sie zu sich holen, sie beschützend in seine Arme ziehen und dafür sorgen, dass nie wieder jemand wagte, ihr wehzutun.
Gleichzeitig schlich sich erneut sein Misstrauen in seine Gedanken. Vielleicht hatte Demmer sie auch auf ihn angesetzt, um ihn besser kontrollieren zu können. Sie wäre das ideale Druckmittel, sollte Flann sich auf sie einlassen.
Trotz des Gedankenkarussells schlief er nach kurzer Zeit ein, nur um von einer Darla zu träumen, die sich verlangend an ihn schmiegte.
~~°~~
Darla wachte schweißgebadet auf und sah sich irritiert um. Nach ein paar Sekunden fiel ihr ein, dass sie sich in einem Ferienhaus in der verlassenen Anlage in Irland befand.
Ihr Herz klopfte ihr immer noch bis zum Hals, während sie sich an den grauenvollen Albtraum erinnerte. Sie stand am Käfig, in dem Flann um sein Leben kämpfte. Sein Gegner war bereits verwundet, doch er verwandelte sich zurück. Wütend rief er, dass er nicht mehr töten würde. In dem Augenblick kam ihr Onkel, zog eine Waffe, um ihn kaltblütig zu erschießen.
Gott sei Dank war sie in der Sekunde, in der der Tiger umfiel, aufgewacht.
Es dauerte eine ganze Zeit, bis sie sich selbst klar darüber wurde, dass es wirklich ein Traum gewesen war. Wieso sie immer noch Gefühle für diesen Idioten hatte, konnte sie sich kaum erklären. So wie es sich für sie darstellte, bekam Flann seinen Anteil. Er tötete, um eine gute Bezahlung zu erhalten!
Darla dachte über die Aussage ihres Onkels nach, weil es sich für sie so unendlich falsch anfühlte.
Sie war davon ausgegangen, dass Matthias irgendetwas gegen den Tiger in der Hand hatte. Vielleicht schuldete Flann jemandem Geld? Aber das rechtfertigte doch keinen Kampf auf Leben und Tod, oder?
Müde rieb sie sich über die Augen, nur an Schlaf war kaum noch zu denken. Das, was sie erlebt und gehört hatte, sorgte dafür, dass sie nicht mehr einschlafen konnte, dabei war es gerade mal vier Uhr morgens.
Wieder wanderten ihre Gedanken zu dem Mann, der sie so beeindruckt hatte. Er hatte Gina verschont, ihr die Sache vor der Kamera extrem leicht gemacht. Außerdem war er zu ihr gekommen, als er von den Würgemalen erfuhr.
Bei der Überlegung stutzte Darla. Er wusste von der Verletzung, nur wer hatte ihm davon erzählt? Oder war es Zufall gewesen, dass er die Male entdeckte?
Schnell schüttelte sie den Kopf. Flann hatte den Raum betreten, anschließend zog er gezielt die Hand von ihrem Hals, um sich die Misshandlung anzusehen. Darüber hinaus sah es so aus, als ob er ziemlich wütend war, weil jemand sie dermaßen grausam behandelt hatte.
Seufzend gestand Darla sich ein, dass sie aus dem Kerl nicht schlau wurde. Zuerst küsste er sie, danach war sie das sensationslüsterne Luder für ihn, ehe er sie aus den Armen von Thorsten befreite. Sie hatte sich das eifersüchtige Aufblitzen in seinen Augen wohl kaum eingebildet! Auch die Art und Weise, wie er den Mann hinausgeworfen hatte, deutete darauf hin, dass er etwas von ihr wollte oder für sie fühlte. Andernfalls würde ihn ihre Verletzung keineswegs aus der Ruhe bringen.
Eventuell ging es dabei nur um ihren Onkel? Glaubte Flann vielleicht Matthias schaden zu können, wenn er wusste, dass er sie gewürgt hatte?
Aber wieso sollte er seinem Auftraggeber Steine in den Weg legen wollen? Damit verhinderte er ja, dass er Geld verdiente.
Angestrengt überlegte sie, ob sie irgendetwas übersah, doch ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Nur eins wurde ihr in der Nachtstunde extrem klar: Ihre Gefühle für den widersprüchlichen Tiger hatten sich überhaupt nicht verändert.
Seufzend stand sie auf, als der erste Silberstreif am Horizont sichtbar wurde. Es brachte nichts, weiterhin im Bett von einer Seite auf die andere zu rollen.
Eilig streifte sie einen Jogginganzug über, zog sich Sportschuhe an, anschließend verließ sie das kleine Häuschen, dabei ging sie gezielt auf die Allee zu, die von dem ehemaligen Rezeptionsgebäude wegführte. Das alte, verkommene Haus jagte ihr Angst ein. Warum das so war, konnte sie nur unzureichend erklären.
Darla hasste joggen, aber Nordic Walking liebte sie und der Schotterweg, der von großen Eichen gesäumt war, eignete sich hervorragend dafür.
Die hässlichen Worte ihres Onkels klangen in ihr nach. Seufzend gab sie ihm recht. Wenn sie verhindern wollte, dass die Leute sie als übergewichtig ansahen, dann musste sie schnellstens etwas gegen die überflüssigen Pfunde tun.
Es dauerte nicht lange, da kam sie in dem Dörfchen Terryglass an. Hier war keine Menschenseele auf der Straße unterwegs, was sie kaum wunderte, da die Uhr am Kirchturm gerade mal fünf anzeigte.
Sie wusste von zwei Heilbrunnen, die man irgendwo in dem Ort finden konnte. Einer sorgte angeblich dafür, dass Kopfschmerzen verschwanden, der andere heilte Augenleiden.
Noch war sie sich unsicher, ob sie daran glauben sollte, allerdings hätte sie auch nie gedacht, dass sie mal einen Gestaltwandler kennenlernen würde.
In ihren Gedanken versunken lief sie durch das verschlafene Städtchen, übersah den kleinen Einkaufsladen, den Pub und nahm genauso wenig die hübschen Häuser wahr. Nur das unscheinbare Schild, das auf den „Headache Well“ hindeutete, drang in ihr Gedankenkarussell.
Der Brunnen, der angeblich Kopfschmerzen linderte. Doch als Darla den Weg entlangblickte, sah sie nur eine ziemlich düstere Ecke, also beschloss sie, bis zum Jachthafen runterzulaufen.
Erst als sie an einem der Anlegestege stand, und auf das tiefblaue Wasser des Lough Dergh hinausblickte, fühlte sie sich ruhiger.
Es sah fast aus, als ob sie aufs Meer sehen würde. Dazu kam, dass der Sonnenaufgang einen herrlichen frühsommerlichen Tag versprach. Etwas, das nicht so oft in Irland vorkam. Jetzt Anfang Juni war es allerdings auch so warm, dass Darla ordentlich ins Schwitzen kam.
Sie fluchte leise, weil sie vergessen hatte, ihre langen Haare zurückzubinden. Der Wind wehte ihr die Strähnen in die Augen, bis sie die Haarpracht mit einer Hand zusammenhielt.
Gerne würde sie mit so einem Hausboot den Shannon hinauffahren oder wirklich mal einen Urlaub hier verbringen. Das Land bezauberte sie, zumal es so viel zu entdecken gab. An fast jeder Ecke stieß man auf die Spuren der Vergangenheit, auf Ruinen, Kirchen oder Friedhöfe.
Einmal hatte sie ihren Onkel darauf angesprochen, dass sie plante, ein paar Tage in Terryglass zu bleiben, die Antwort war eine schallende Ohrfeige gewesen.
„Du glaubst, dass du es dir auf meine Kosten gemütlich machen kannst, ja? Streich das sofort wieder aus deinem Kopf.“
Mit brennender Wange und Tränen in den Augen hatte sie ihm nachgeblickt.
Auch heute noch fragte sie sich, warum Matthias sie überhaupt bei sich aufgenommen hatte, wenn er sie doch so sehr hasste. Seufzend schob sie die Gedanken in den hintersten Winkel ihres Gehirns, zumal sie keine Antwort fand.
Seit acht Jahren lebte sie jetzt bei ihrem Onkel, der sie direkt nach dem Tod seines Bruders, ihrem Vater, zu sich geholt hatte. Die Tragödie ereignete sich kurz nach ihrem Abitur.
Darla wischte sich eine Träne aus den Augen, als sie an ihre Eltern dachte. Sie war geliebt worden und vermisste beide unerträglich. Als sie ihr Abiturzeugnis erhalten hatte, drückte ihre Mutter sie fest an sich, um ihr zu sagen, wie stolz sie auf ihre Tochter war.
Sechs Tage später verschwand das Ehepaar Demmer spurlos. Zwei weitere Monate darauf fand man sie. Jemand hatte sie mit einem Kopfschuss regelrecht hingerichtet.
Die Polizei tappte im Dunkeln, ihr Onkel weigerte sich, einen seiner Spürhunde auf die Tat anzusetzen, ansonsten gab es niemanden mehr, den es interessierte, weshalb man Noah und Marla Demmer getötet hatte.
Damals kamen ihr die ersten Gerüchte zu Ohren, dass ihr geliebter Papa keine so reine Weste besaß, wie sie es immer annahm.
Von den Waffenschiebereien, dem Drogenhandel oder dem Geschäft mit der Prostitution wusste sie wirklich nichts. Ihre Eltern achteten stets darauf, dass sie nie etwas mitbekam.
Bis zu dem unglücklichen Tag dachte Darla, dass ihr Vater zusammen mit seinem Bruder eine gut gehende Softwarefirma leitete, die ihre Programme besonders an Firmen ins Ausland lieferte.
Wie naiv sie doch gewesen war. Mittlerweile vermutete sie, dass da viel mehr dahintersteckte. Geldwäsche auf jeden Fall, zumal sie einige Konten gesehen hatte, die ihren Verdacht untermauerten.
Wenn sie ehrlich war, verzichtete sie lieber darauf, alles zu wissen. Der gestrige Tag hatte ihr sehr deutlich gezeigt, wie gefährlich das Terrain war, auf dem sie sich bewegen musste.
Schnell schob sie die Bilder weg, die sich in ihrem Kopf formierten. Sie wollte nicht mal in Gedanken erneut miterleben, wie Flann den Buchhalter oder den Mafiosi umbrachte.
Seufzend sah sie auf ihre Armbanduhr. Es wurde Zeit, zu der verfallenen Anlage zurückzukehren, denn sollte Matthias sie vermissen, erlebte sie garantiert ihr blaues Wunder.
Darla drehte sich um und lief die Straße hinauf, dabei kam sie an einem niedrigen Tor vorbei. Einen Augenblick überlegte sie, ob sie darüberklettern konnte. Sie wusste, dass der Weg dahinter sie direkt zum Terryglass Castle führte, das hinter dem Rezeptionsgebäude ihres Onkels lag.
Es schüttelte sie, als sie an das alte Gemäuer dachte, das mittlerweile schon ziemlich von Unkraut überwuchert war. Irgendetwas hielt sie davon ab, sich dort aufzuhalten, wenn es sich umgehen ließ, daher nahm sie jetzt auch den weiten Rückweg auf sich.