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Am 30. Mai ist der Weltuntergang!

Wir leben nicht mehr lang! Wir leben nicht mehr lang!

 

Die Toten Hosen

Immer noch unfähig zu antworten, vernahm Shorty jetzt technische Störgeräusche, die in den Ohren schmerzten, ein übersteuertes Jaulen und Fiepen, als ob ein Radioapparat die automatische Sendersuche gestartet hätte. War es ein defekter Stecker? Er wollte den Kopfhörer schon abnehmen, da löste sich die Stimme von Simon Jäger ganz deutlich aus dem Geräuschchaos:

»Shorty! Kannst du mich hören? Verstehst du mich jetzt? Hallo, Shorty! Hat es dir die Sprache verschlagen?«

Dann verstummte die Stimme des Hörbuchsprechers abermals. Shorty blickte sich misstrauisch im ganzen Raum um. Doch außer ihm war niemand da. Die Tür zum Büro hatte Bluna wieder geschlossen, ein Lautsprecher war nirgends zu sehen. Die Stimme konnte nur aus seinen eigenen EarPods gekommen sein. Hatte es etwas mit den Leitungen an der Decke zu tun? Vorsichtig zupfte er an dem Drahtverhau, berührte eine Lüsterklemme mit dem elektrischen Schraubenzieher, doch er wusste vorher schon, dass die Stimme nichts damit zu tun haben konnte.

»Bitte antworte, Shorty«, wiederholte die Stimme freundlich. »Ich muss wissen, ob ich auf der richtigen Frequenz bin.«

Wieder knackste und fiepte es in der Leitung, ein wasserfallähnliches Rauschen brandete auf, durchsetzt von zwei, drei üblen Rückkopplungen. Schließlich dröhnte ihm das ganze Spektrum an Buzz, Squeak und Rattle in den Ohren. Shorty kniff die Augen zusammen. Schnell ging er einige seiner Freunde und Arbeitskollegen durch. Ein Joke von der Geselligen Runde? Vielleicht hatten sie Simon Jäger für den Anruf engagiert. Aber war es überhaupt ein Anruf? Er lauschte angestrengt, kam sich dabei ziemlich albern vor. Schließlich hörte das Knacken in der Leitung auf.

»Entspann dich«, fuhr die Stimme fort. »Es gibt keinen Grund zur Panik. Arbeite einfach an deinen Leitungen weiter und hör mir zu.«

»Wer bist du? – Warst du das, der vorhin schon mal angerufen hat?«, unterbrach Shorty flüsternd. »Vorhin in der S-Bahn?«

Rappelvoll war die S8 gewesen, er hatte gerade noch einen Platz ergattert. Bei dem grobschlächtigen Mann neben ihm hatte plötzlich das Handy geklingelt. Die Frau gegenüber zog pikiert die Augenbrauen hoch: Na, toll. Ihr Sitznachbar lächelte nachsichtig. Doch der Grobschlächtige schien den Anrufer nicht zu kennen.

»Mit wem spreche ich bitte? –« Er lauschte und blickte auf. »Entschuldigung, heißen Sie Shorty? Ich glaube, das ist für Sie.«

Kopfschüttelnd und verständnislos hatte Shorty das Handy angenommen.

»Ja? Hallo, wer ist denn da?«

Die Tonqualität war jedoch so schlecht gewesen, dass er schließlich aufgelegt hatte. Eine komische Sache. Woher hatte der Anrufer gewusst –

»Ja, aber da ist die Verbindung dauernd zusammengebrochen«, fuhr der Unbekannte mit der Stimme Simon Jägers jetzt fort. »Hier ist sie wesentlich besser. Und dort, wo du momentan stehst, ist sie perfekt. Hör einfach zu. Was ich dir jetzt sage, ist wichtig. Äußerst wichtig.«

Der Unbekannte legte eine bedeutungsvolle Pause ein. Shorty lauschte noch angestrengter als vorher. Der Schweiß brach ihm aus, sein Hemd klebte am Rücken. Was zum Teufel war das für ein böses Spiel, das man mit ihm trieb?

»Es wird entscheidend für dein Leben sein. Und nicht nur für deines. – Shorty! Hörst du mich?«

»Ja.«

Shortys Ja war mehr ein Krächzen als ein Ja. Die Stimme ließ sich jetzt sehr viel Zeit, schließlich sagte sie langsam und mit rücksichtsloser Ernsthaftigkeit:

»Es geht um den Fortbestand der Menschheit.«

Shortys Mund öffnete sich. Der Schraubenzieher glitt ihm aus der Hand und bohrte sich splatternd durch eines der achtstöckigen Hochhäuser. Er blickte kurz nach unten. Nur der Knauf lugte noch aus dem Dachgarten heraus. Die Bikinischönheiten waren mit ihren Liegestühlen größtenteils umgefallen oder ganz vom Hochhaus gepurzelt. In seinen EarPods rauschte und knackte es.

»Sorry«, sagte die Stimme. »Das werden wohl Funklöcher sein. Interferenzen, atmosphärische Schwankungen, was weiß ich. Ich bin kein Techniker.«

»Wer oder – was bist du – sind Sie – denn dann?«, flüsterte Shorty atemlos.

Was, wenn jetzt jemand in den Raum kam? Hektisch fingerte er sein Smartphone aus der Tasche. Möglicherweise hatte er vorhin aus Versehen aufs Display getippt, dabei das Hörbuch angehalten und irgendeine andere App aktiviert. Doch keine einzige Audiodatei war geöffnet. Shorty wischte weiter angestrengt auf dem Display herum. Vielleicht hatte jemand angerufen und war noch in der Leitung.

»Hallo!«, rief er ins Smartphone.

Keine Antwort. Ein weiterer Mitarbeiter des Büros stieß die Tür mit dem Fuß auf und wuchtete ächzend einen Stoß verschiedenfarbiger Aktenordner in eines der Regale. Es war der Chef des Unternehmens, Stararchitekt Ingolf Lix höchstpersönlich, der schon mal anpackte, wenn Not am Mann war. Das war aber auch das einzig Positive an ihm. Shorty hatte es in der Woche, in der er hier arbeitete, hautnah mitbekommen. Er war ein schlechter Chef: ungerecht, launisch, herablassend, cholerisch, nachtragend, humorlos, jähzornig – aber er half manchmal bei niederen Büroarbeiten. Besser als umgekehrt. Nachdem er alles verstaut hatte, blickte er Shorty ärgerlich an.

»Was ist los? Du schaust, als hättest du einen Geist gesehen. Und jetzt beeil dich gefälligst.« Er klopfte die Worte rhythmisch aneinander wie ein paar schmutzige Schuhe. »Arbeite weiter. Ich bezahle dich nicht fürs Musikhören.«

Hatte er mit der ganzen Sache zu tun? Nein, ihm traute Shorty am allerwenigsten einen Joke zu. Durch die offene Tür drangen laute Gespräche, Begrüßungen, Gelächter, vielleicht waren Kunden gekommen. Oder es wurde irgendein Abschluss gefeiert. Nachdem Lix den Raum verlassen hatte, stieg Shorty von der Leiter, zog den Schraubenzieher aus dem Hochhaus (dieses Malheur hatte der Chef zum Glück nicht bemerkt) und kletterte wieder hoch zu dem Gewusel der Leitungen. Mechanisch setzte er seine Arbeit fort, dabei überlegte er fieberhaft. Wer steckte hinter diesem unerklärlichen und verstörenden Anruf? Er konnte sich nicht mehr auf seine Schrauberei konzentrieren. Nachdenklich starrte er auf das Handy. Vielleicht war jemand durch eine Fehlschaltung zufällig in die Leitung geraten. Einer, dessen Stimme der von Jäger ähnelte. Ja, das war eine plausible Erklärung. Eine simple Phasenverschiebung – und er wäre vor Angst fast von der Leiter gefallen! Fortbestand der Menschheit, sehr witzig, eins drunter ging es ja wohl nicht. Gerade als er sich einigermaßen beruhigt hatte, knackte und schmatzte es erneut in der Leitung. Diesmal klang es wie vierzig rostige Schaufeln auf rauem Asphalt. Dann vernahm er klar und deutlich:

»Shorty, ich habe mit dir zu reden. Hör mir einfach zu, o.k.? Arbeite so unauffällig wie möglich weiter und spitz die Ohren.«

»Bist du Simon Jäger, der Hörbuchsprecher? Wir haben uns mal in einem Tonstudio kennengelernt –«

»Nein, bin ich nicht. Die Situation ist ohnehin schon so verwirrend für dich, also habe ich seine Stimme gewählt, weil du sie schon kennst.«

 

Shortys Mund fühlte sich staubtrocken an. Seine Knie gaben nach. Was zur Hölle war da los? Er musste sich an der Decke abstützen, so wackelig war er auf den Beinen. Sein Gesicht brannte wie Feuer. Was stimmte nicht mit ihm? Waren akustische Halluzinationen nicht die Hauptsymptome von Schizophrenie? Vor einiger Zeit hatte er einen Bericht darüber gesehen. Stimmenhören war so etwas wie das Gratisticket in die Geschlossene. Shorty atmete kräftig ein und aus. Er spürte, dass er am ganzen Körper nassgeschwitzt war. Und ein und aus. Und ein und aus. Er musste etwas entgegnen. Vielleicht verschwand der Spuk ja dadurch. Sicher klärte sich auf diese Weise alles auf. Ganz sicher sogar. Nervös wischte er sich eine störrische Haarsträhne aus der Stirn.

»Wer – wer – bist du?«

Die Worte kamen leise und brüchig, noch immer mehr herausgekrächzt als gesprochen.

»Das ist nicht ganz leicht zu erklären«, erwiderte die Stimme. »Um es auf den Punkt zu bringen: Ich wende mich an dich, weil ich deine Hilfe brauche, Shorty.«

»Meine Hilfe? Warum – was willst du von mir?«

 

Plötzlich straffte sich Shortys Körper. Er richtete sich auf. Warum war ihm das nicht gleich eingefallen! Ein Grenzflächenmikrophon, das jemand mit einem daumennagelgroßen Pflaster irgendwo auf seinen Körper geklebt hatte. Dazu eine Membran, die als Lautsprecher fungierte, so dass man die Tonquelle nicht lokalisieren konnte und den Eindruck hatte, man hörte Stimmen im Kopf. Er hatte mal einen Film gesehen, in dem die U.S. Army so was als ›Weiße Folter‹ verwendete. Hieß nicht der Film auch so? White Torture? Egal jetzt. Vollkommen egal. Ein Sender irgendwo da draußen. Ein drahtloses Audioset. Und ein technisch versierter Spaßvogel, der eine Riesensache mit ihm veranstaltete. Und nun erinnerte er sich auch, dass ihn heute Morgen beim Herweg jemand angerempelt hatte. Genau! Nach der Geschichte in der S-Bahn, auf dem Bahnsteig. Er knöpfte sein Hemd auf.

»Was machst du da, Shorty?«, mischte sich die Stimme ein.

»Ich suche nach dem Mikro, das ihr mir verpasst habt. Du billiger Simon-Jäger-Verschnitt! Du sitzt doch da draußen irgendwo vor deinem Computer und lachst dich über deinen Riesenfez kaputt!«

Die Stimme in den EarPods hörte sich jetzt fast traurig an.

»Nein, Shorty, Mensch, mach mir keinen Kummer, spinn nicht so rum. Das ist kein Riesenfetz !« Der Unbekannte sprach das aus der Mode gekommene Wort so aus, als ob er es nicht kennen würde. »Die Sache ist ernst und wichtig. Knöpf zuerst einmal dein Hemd wieder zu.«

Zorn flammte in Shorty auf. Er riss die EarPods herunter und stopfte sie in die Hosentasche. Dann stieg er hastig von der Leiter, zwängte sich zwischen den Arbeitstischen und Regalen durch, stürmte durch zwei weitere menschenleere Lagerräume in die sogenannte Stiefelkammer, in der die schmutzigen Schuhe nach Baubegehungen gewechselt wurden. Er riss die Tür zur Angestelltentoilette auf und zog sich drinnen vollständig aus. Zentimeter für Zentimeter begann er seinen Körper zu untersuchen. Von oben bis unten. Und schon wieder hörte er ganz deutlich die Stimme:

»Es hat keinen Sinn, Shorty, du bist auf dem Holzweg. Gib es auf. Und zieh dich wieder an. Stell dir vor, wenn jemand hereinkommt. Was soll der von dir denken.«

Der Wahnsinn! Eine Kaskade von winzigen Nadelstichen durchlief Shortys Körper. Die Stimme befand sich in seinem Kopf! Ganz ohne Mikro. Das war furchterregend. Und der Unbekannte konnte ihn sehen! Das war der reinste Horror.

»Was – was soll das –?«, stotterte Shorty und griff sich mit beiden Händen an die Schläfen. Er ballte die Fäuste und hämmerte auf ihnen herum. Die Stimme blieb ruhig.

»Nein, du Idiot, ich bin nicht in deinem Schädel. Wirf mal einen Blick auf den kleinen Deckenlautsprecher da oben. In den habe ich mich eingeklinkt. Ich kann nur über die Membran eines Schallwandlers mit dir in Kontakt treten. In dein Eiweißhirn komme ich nicht rein, jedenfalls nicht, ohne es zu beschädigen.«

Shortys Atem flatterte immer noch. Eiweißhirn? Wieso Eiweißhirn? Splitternackt stand er da, und er kam sich nun doch ziemlich lächerlich vor.

»Solche Tricks wollte ich eigentlich vermeiden, Shorty. Du ziehst dich jetzt sofort wieder an, gehst in den Lagerraum zurück und arbeitest dort weiter. Schraubst die braun markierten Drähte in die linke Öffnung der Klemme, die blauen in die rechte, vergisst die Erdung nicht, du weißt schon: grün-gelb –«

»Was weißt du über meinen Job hier?«

»Shorty, ich weiß über alle deine Jobs Bescheid. Ich kann sie dir aufzählen, wenn du mir nicht glaubst. Tomatenpflücker, Bademeister, Stadionsprecher …«

»Stadionsprecher?« Shorty schluckte. »Das habe ich bloß mal für drei Stunden gemacht. Und es ist ewig lange her. Wie kannst du das wissen, Mensch?!«

Die Stimme war unerbittlich.

»… Möbelpacker, Inventurhelfer, Nachrufschreiber … Und eben auch Elektriker. Und in dieser Funktion brauchen wir dich. Also bitte, geh zurück an die Arbeit.«

»Ja, gut«, versetzte Shorty eingeschüchtert. »Aber dass du Simon Jägers Stimme hast, bringt mich total durcheinander.«

»Ich kann auch eine andere Stimme verwenden, wenn es nur das ist, was dich verwirrt.«

Rauschen und Kratzen, Fiepen und Rückkopplungen. Dann:

»Eins zwei, eins zwei, das ist jetzt eine andere Stimme, ebenfalls eine angenehme, wohlige Stimme. Eins zwei – besser so?«

 

»Ja, besser so«, murmelte Shorty.

Die Stimme, die Shorty jetzt hörte, kam ihm entfernt bekannt vor. Er war jedoch zu aufgewühlt, um sie einordnen zu können. Widerwillig und wie in Trance kleidete er sich an und verließ die Toilette. Die beiden indonesischen Reinigungskräfte hatten inzwischen begonnen, den schmutzigen Boden der Stiefelkammer zu putzen. Sie blickten kurz auf und nickten unverbindlich. Hatten sie etwas mitbekommen? Und wenn schon. Shorty hielt kurz inne, drehte sich von ihnen weg, griff sich sein Handy und wählte eine Nummer. Einen letzten Versuch, das Ding auf eine reale Ebene zu stemmen, wollte er noch wagen.

»Ja, Praxis Dr. Flessen.«

»Hallo, Günter. Shorty hier. Hast du gerade einen Patienten?«

Der andere verneinte. Dr. Flessen war ein Mitglied der Geselligen Runde.

»Nur ganz kurz.«

Shorty schilderte seine Unterhaltung mit der ›Stimme‹ und fragte, ob es möglich war, dass er sich das einbildete. Ob es sich vielleicht um Tinnitus handeln könnte.

»So, wie du das beschreibst, ist es kein Tinnitus.« Nach einem viel zu langen Zögern sagte der Arzt ernst und eindringlich: »Aber es ist besser, du kommst bald mal bei mir vorbei.«

Shorty bedankte sich und legte auf. Mit zittrigen Knien ging er wieder zurück in den Lagerraum, bestieg die Leiter, steckte sich die EarPods in die Ohren und nahm seine Arbeit auf, noch verkrampfter und mechanischer als vorher. Das Kabelwirrwarr verschwand langsam in dem Schlitz, und als Lix hereinkam, um eine Mappe mit Holzmustern aus dem Regal zu nehmen, pfiff der sogar anerkennend durch die Zähne.

»Sieh zu, dass du heute noch fertig wirst.«

Der Stararchitekt, wie ihn die Zeitungen oft bezeichneten, rauschte aus dem Zimmer. Ein wirklich unangenehmer Typ. Der hätte bei Shortys Cäsar-Dreh einen schön fiesen Brutus abgegeben. Von der Stimme war momentan nichts zu hören. Shorty sah auf die Uhr. Bald war Mittagspause für die Angestellten. Wenn er hier fertig war, würde er nach Hause in seine verwinkelte Altbauwohnung fahren, die Tür hinter sich zuknallen und sich im Bett verkriechen. Aber dass die Stimme jetzt ganz und gar schwieg, machte ihn auch nervös. Schließlich hielt er es nicht mehr aus.

»Bist du noch da?«, fragte er leise und vorsichtig.

Buzz, Squeak und Rattle. Eine besonders schmerzhaft helltönige, laute und kratzende Rückkopplung.

»Ja, Shorty. Ich höre dich.«

Shorty ließ sich mit der Frage Zeit. Er hatte Angst, sich lächerlich zu machen. Schließlich begann er zögerlich:

»Bist du –«

Er schämte sich, das Wort auszusprechen. Das war noch peinlicher, als nackt im Klo zu stehen und seinen schweißnassen Körper nach Minilautsprechern abzutasten.

»Bist du – ein Alien? – ein Außerirdischer?«

»Nun ja, die Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. Ich würde sie aber im Endeffekt bejahen. Ich gehöre einer Spezies an, die unvorstellbar weit von dir entfernt ist. Unvorstellbar weit für dich , mein Lieber. Wollen wir es zunächst dabei belassen, o.k.?«

Shorty befand sich im freien Fall. Jemand hatte ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Das Weltall. Unendliche Weiten. Fremde Spezies. Psychiatrische Anstalt.

»Aber … aber –«, stotterte er, heiser flüsternd. »Wieso gerade jetzt, mitten in der Arbeit? Ich stehe hier momentan auf einer wackeligen Leiter, jeden Augenblick kann jemand reinkommen –«

»Ich weiß, ich weiß.«

»Woher –?«

»Ich bin in Eile, Shorty. Ich habe schon öfter versucht, mit dir Kontakt aufzunehmen, aber es hat nie geklappt. In der S-Bahn, im Bootshaus, bei dir zu Hause.«

»Und von wo genau kommst du?«, stieß Shorty hastig und heiser hervor.

Er biss sich auf die Lippen. Das war eine dümmliche Frage. Was spielte es schon für eine Rolle, von wo genau. Verstohlen sah er sich um, ob auch niemand hereingekommen war. Oder ob ihn jemand durchs Fenster beobachtete.

»Nun, ich könnte dir natürlich Koordinaten nennen«, fuhr die Stimme geduldig fort. »Zahlen, Lichtjahre, Sternbilder, Energieraumpunkte, Zeitkrümmungsrelationen – ich könnte dich mit viel billigem Datenschmutz bewerfen, doch mit all dem würdest du nichts anfangen können.«

»Aber – Moment!«, rief Shorty und richtete sich auf. »Natürlich, das ist es!«

Plötzlich wusste er, warum ihm die Stimme so bekannt vorkam.

»Verdammt nochmal, sprichst du etwa mit meiner Stimme?« Er war so laut geworden, dass er Angst bekam, dass man ihn im Nebenzimmer gehört hatte.

»Ist dir deine eigene Stimme nicht angenehm?«, fragte der andere fast besorgt. »Ich habe sie ganz bewusst gewählt. Ich dachte, sie käme dir am wenigsten fremd vor.«

»Glaub mir«, keuchte Shorty. »Es gibt nichts Fremderes als die eigene Stimme.«

Die Stimme seufzte.

»Weißt du, ich bin mit den Feinheiten menschlicher Artikulation nicht so vertraut. Also, du willst weder den Hörbuchsprecher noch deine Stimme –«

»Kannst du nicht die eigene nehmen?«, zischte Shorty, jetzt fast ärgerlich. »Ich meine: deine eigene.«

Der andere lachte das erste Mal laut auf. Es war das Lachen Shortys. Dem kam es allerdings reichlich gekünstelt und unecht vor.

»Shorty, Shorty, was meinst du, wie dich das erschrecken würde! Ich gehöre einer Spezies an, die auf andere Weise kommuniziert.« Es folgte ein Brummen, Knarren und Schleifen. Die Nebengeräusche waren wirklich lästig. Aber sie kamen wenigstens nur noch in großen Abständen. »Ich bin eine Art Übersetzer. Ein Translationator. Ein Gondoliere, der dich von einem Ufer der Bedeutung ans andere bringt. Ich habe deine Sprache, wenn auch mühsam, erlernt. Meine eigene Stimme würde dich, wie soll ich sagen, in Angst und Schrecken versetzen! Willst du denn eine andere Stimmfärbung? Eine Frau? Deinen Lieblingsschauspieler? Einen italienischen Akzent, wie man ihn zum Beispiel in einem bestimmten Stadtteil von Neapel spricht? Die Lehrerin aus der Grundschule? Bill Gates? Die Stimme der Mutter von Howard Wolowitz, ganz authentisch aus dem Nebenzimmer gebrüllt? Oder lieber etwas Historisches? Martin Luther, Napoleon, Hitler …«

»Nein, um Himmels willen, belassen wir es dabei, so schlimm finde ich meine Stimme nun auch wieder nicht.«

»Aber gerne, Shorty«, sagte die Stimme Shortys zu Shorty in dessen angenehmstem Timbre. »So schlimm klingt deine Stimme tatsächlich nicht.«

 

Shortys Puls ging immer noch auf hundert. Die beiden Indonesier kamen mit Putzkübeln und Lappen in den Lagerraum und begannen hier mit ihrer Arbeit. Fiel ihnen nicht doch etwas auf? Hatte der eine von ihnen nicht gerade wissend und verschwörerisch gelächelt? Nein, das bildete er sich bloß ein. Lix beschäftigte die beiden schwarz, das wusste er von Bluna. Sie verstanden kein Wort Deutsch, reagierten nur auf das Wort »verschwinden«. Wenn Lix das zischte, so hatte ihm Bluna erzählt, liefen sie sofort in die Stiefelkammer, zogen sich um, verließen die Büroräume durch eine Seitentür, setzten sich auf die Terrasse des Bistros gegenüber und spielten die Touristen, mit Selfiesticks, Sonnenbrillen und dem zerfledderten Fremdenführer ›Europa in acht Tagen‹. Dabei unterhielten sie sich angeregt und deuteten bewundernd auf einen fernen Kirchturm. Jedenfalls so lange, bis die Jungs vom Ordnungsamt wieder weg waren. Ob die Geschichte stimmte? Zuzutrauen war es Lix. Mit offenem Mund starrte Shorty auf eine schillernde Seifenblase auf der Oberfläche des Spülwassers im Eimer, die größer und größer wurde, um sich schließlich mit einem schmatzenden Geräusch in nichts aufzulösen. Interessiert hätte es ihn schon, ob der Fremde die Stimme seiner Grundschullehrerin getroffen hätte. Oder wie die Stimme von Napoleon geklungen hatte. Stattdessen sagte er:

»Verrate mir bitte endlich, warum du mich kontaktiert hast. Ich fühle mich wirklich geehrt. Aber wie bist du auf mich gekommen? Was ist so Besonderes an mir?«

 

Shorty wusste allzu gut, dass an ihm ganz und gar nichts Außergewöhnliches war. Er bewegte sich auf der sozialen Skala nicht gerade ganz oben. Er hatte zwar sein Dasein als Jobhopper durchaus freiwillig gewählt, und er stand auch dazu. Doch manchmal beschlich ihn trotzdem das Gefühl, dass er sich sein Leben ein wenig schönredete. Ewig konnte das vermutlich nicht so weitergehen. Wie jeder kreative und neugierige Mensch träumte er davon, sich selbständig zu machen, doch dazu fehlte die Kohle, denn richtig gut bezahlte Jobs hatte er naturgemäß selten ergattert. Durch den ständigen Wechsel hatte er viele Menschen kennengelernt, doch Freunde im engeren Sinn hatte er kaum. In der Geselligen Runde wurde er geduldet, quasi als Quotenluftikus. Vorgestern, an seinem zweiundvierzigsten Geburtstag, hatte ihm bezeichnenderweise niemand gratuliert. Lediglich sein Physiotherapeut, bei dem er vor Jahren einmal in Behandlung war, hatte ihm eine vorgedruckte Grußkarte geschickt.

 

»Wir haben ein Problem.«

»Wer ist wir? Und was für eines? Und vor allem: Was habe ich damit zu tun?«

»Zunächst zu deiner letzten Frage: Du kannst es lösen. Du und nur du, Shorty.«

Du und nur du, Shorty. Das machte ihn trotz aller Verwirrung, in der er momentan steckte, fast ein wenig stolz.