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Unsere Jugend ist heruntergekommen und zuchtlos. Die jungen Leute hören nicht mehr auf ihre Eltern. Das Ende der Welt ist nahe.

 

Keilschrifttext aus Chaldäa, um 900 v. Chr.

Lix steckte den Kopf zur Tür herein. Shorty war bereits dabei, den Kabelschacht zu verschließen. Was wollte denn dieser lästige Controlletti schon wieder?

»Na also, geht doch«, sagte der Chef, um auf eine imaginäre Uhr an seinem Handgelenk zu tippen und gleich darauf wieder zu verschwinden.

»Es ist ein Unfall passiert«, fuhr die Stimme fort. »Oder sagen wir besser: eine Betriebsstörung. Allerdings eine ziemlich weitreichende. Stell dir das wie eine undichte Stelle in einem riesigen Tank vor. Nur dass in unserem Fall kein Wasser ausläuft oder andere kostbare Flüssigkeiten wie Blut, Wein oder Lethe, sondern Energie. Die Störung betrifft in erster Linie deinen Heimatplaneten, und zwar genau den Quadranten, in dem du lebst. Deshalb muss auch dort repariert werden. Wir haben vor, einen Trupp Arbeiter in deine Gegend zu schicken, der das in ein paar Minuten erledigt. Es ist wie gesagt nichts Dramatisches. Aber – und jetzt kommt das große Aber – mit diesem Aber kommst du ins Spiel, Shorty.«

Die Stimme legte eine bedeutungsschwere Pause ein. Die beiden Indonesier quälten immer noch schweigend den Boden. Es pflatschte und quiekte, das erdete Shortys angegriffene Nerven fast ein bisschen, sie standen im Raum wie zwei Fixpunkte zur Realität, wie zwei sichere Verbindungen zu seiner gewohnten und alienfreien Welt. Einem der indonesischen Cleaner fiel jetzt eine Glasflasche mit Reinigungsmittel zu Boden, die krachend zerschellte. Er fluchte laut. Auf Indonesisch, was sich sehr eigenartig und gar nicht besonders fluchig anhörte. Außer vermutlich für Indonesier.

»Die Reparatur darf von eurer Spezies keinesfalls bemerkt werden«, fuhr die Stimme fort. »Es entsteht zwar nur ein kleiner Blitz am Himmel, und das auch nur für einige Augenblicke, aber ihr befindet euch momentan – wie soll ich sagen – in einem ungünstigen Entwicklungsstadium. Wenn ihr noch im Mittelalter oder in der Steinzeit stecken würdet, dann bekämt ihr diese temporäre und lokal begrenzte Schwankung des Erdmagnetfeldes mangels genauer Messinstrumente gar nicht mit, wir könnten ohne weiteres reparieren. Wenn ihr andererseits schon zwei- oder dreihundert Jahre weiter wärt mit eurer … Physik –«, die Pause vor Physik war unverschämt lang, »– dann würde die menschliche Zivilisation die Zusammenhänge begreifen, wir könnten die Reparaturen mit euch absprechen und ganz offen durchführen. Aber momentan wäre eine drastische Veränderung der Takashi-Konstante auf der Erde vollkommen unerklärlich. Und, lieber Shorty: Etwas ganz und gar Unerklärliches ist für eine so wackelige Welt wie die eure verhängnisvoll.«

»Takashi-Konstante?«

»Ja, so nenne ich sie mal. Schlag es gar nicht erst nach. Ich schätze, dass der Japaner seine Untersuchung darüber bei euch nicht veröffentlicht hat.«

»Das musst du mir erklären. Was sollte geschehen?«

»Eure derzeitigen Wissenschaftler hätten keine Antworten für den Blitz und die schlagartige elektrische Spannungsveränderung in der Atmosphäre parat. Das ist ein idealer Nährboden für Spekulationen und Verschwörungstheorien. Glaub mir: Es käme über kurz oder lang zu Unruhen, zu großflächigen Panikreaktionen, am Ende sogar zu Kriegen. Es könnte das Ende der Zivilisation bedeuten.« Mit einem staatspräsidialen Beben fügte er hinzu: »Shorty, du hast die ehrenvolle Aufgabe, all das zu verhindern.«

Shorty lachte ungläubig auf.

»Ich soll also die Welt retten? Ausgerechnet ich?«

»Du scheinst dich darüber lustig zu machen. Aber wenn du so willst: ja. Die. Welt. Retten. Es klingt sehr abgegriffen, aber es trifft den Sachverhalt.«

»Und was genau soll ich tun?«

»Führst du jetzt schon Selbstgespräche, Shorty?«

Das war wieder Bluna, die sich aus dem Schrank einen Eimer Figurengießmasse holte. Die auf der Straße liegenden Bikinischönheiten, deren Schatten momentan senkrecht nach oben standen, bemerkte sie nicht. Sie lehnte sich an das untere Ende der wackeligen Stehleiter. Shorty warf ihr einen kurzen Blick zu. Das Blut schoss ihm in den Kopf. Er wurde unsicher, wenn ihm Bluna so nah kam.

»Echt gutes Hörbuch, das ich mir runtergeladen habe«, schnatterte er überflüssigerweise. »Ich habe es mir schon so oft angehört. Kann es fast mitsprechen.«

»Sag bloß«, entgegnete Bluna spöttisch und fingerte am Deckel des Eimers herum.

Dann stieß sie sich graziös von der Sprosse ab, vollführte eine unbestimmte Handbewegung, die er nicht recht deuten konnte, und verließ den Lagerraum. Nach einer Weile sagte die Stimme:

»Du arbeitest doch einmal die Woche als Putzer im Umspannwerk.«

»Ja, ich reinige die Kontakte der Sicherungen in den Schaltschränken. Warum?«

»Du wirst dort einen lokal begrenzten Kurzschluss erzeugen, der zu einem Stromausfall von ein, zwei Minuten führt. Das genügt als Ablenkung. In dieser Zeit reparieren wir. Und niemand von euch wird die Schwankung bemerken. Weil sie der Stromausfall überdecken wird.«

Shorty war enttäuscht. Ein klein bisschen hatte er gehofft, wegen seiner charakterlichen oder intellektuellen Fähigkeiten ausgewählt worden zu sein. Zum Beispiel wegen der einen Gehirnwindung mehr, die bisher noch niemandem aufgefallen war, die aber seinen Mitmenschen fehlte. Oder wegen seiner Fähigkeit, sich in jede nur erdenkliche neue Situation rasend schnell einzuarbeiten. Oder gar wegen seines noblen cäsarischen Aussehens. Unwillkürlich nahm er bei diesem Gedanken eine straffe Haltung an, drückte die Brust heraus und zog majestätisch den Bauch ein. Aber aus acht Milliarden Menschen nur wegen eines windigen Hausmeisterjobs herausgepickt zu werden … Shorty spürte, wie ein kleines Pfund Wut in ihm aufstieg. Und auch Misstrauen gegenüber der Stimme. Das aber zentnerweise. Klar, die Stimme wusste von seinem Job als Reinigungskraft im Umspannwerk. Aber der Ausdruck ›Putzer‹ hatte ihn geärgert. Zweifellos bestanden die meisten seiner Verdienstquellen aus unqualifizierten Arbeiten. Aber musste ihm das die außerirdische Intelligenz so deutlich unter die Nase reiben?

»Wie heißt du eigentlich?«, fragte Shorty. »Ich habe ganz vergessen, dich danach zu fragen.«

»Wir haben keine Eigennamen.«

»Und wie geht das? Wie redet man dich an?«

»Man redet mich gar nicht an. Wenn jemand anderer redet, dann kann ich aus dem Zusammenhang erkennen, ob ich gemeint bin oder nicht. Die Bäume im Wald wachsen auch ohne Eigennamen in die Höhe.«

Shorty schüttelte den Kopf.

»Wir von der Erde brauchen aber einen Namen für jemanden, mit dem wir sprechen.«

»Ihr von der Erde, ja, ich habe das schon bemerkt.«

»Wie wäre es, wenn du dir selbst einen Namen gibst?«

»Wozu?«

»Ja, Mensch, damit ich dich anreden kann.«

»Du redest mich doch an. Hör zu, meine Spezies ist ein Vielfaches älter als die deine, wir sind jetzt fünfundsechzig Millionen Jahre ohne Otto und Hugo und Ilse ausgekommen, warum soll ich in der Rumpelkammer eines Architekturbüros damit anfangen?«

Shortys Gesicht verzog sich zu einem kleinen Schmunzeln.

»Ich gebe auf«, seufzte er schließlich. »Dann bekommst du eben keinen Namen. Du bist für mich einfach Die Stimme.«

Der andere seufzte ebenfalls. Das Seufzen klang übertrieben, wie auf der Theaterbühne für die letzte Reihe. Imitierte und veräppelte er Shorty jetzt?

»Jedes einzelne Mitglied meines Volkes könnte man ›Die Stimme‹ nennen.«

»Und wie nennt sich dein Volk insgesamt?«

»Wir werden oft die Bageliten genannt, auch Lochkrapfen oder Tori, wie du willst.«

»Lochkrapfen? Im Ernst?«

»Manche nennen uns so. Die meisten nennen uns die Ruu’n.«

 

Shorty hatte den Gedanken noch nicht vollständig aufgegeben, dass alles ein riesengroßer Bluff war. Dass sich jetzt vielleicht ganz in der Nähe irgendwelche Typen kaputtlachten über seine Naivität, an einen unsichtbaren Außerirdischen zu glauben. Und sich mit ihm zu unterhalten!

»Warum steigst du eigentlich nicht einfach aus deinem Raumschiff und kommst hierher? Wir könnten uns diskret in der Tiefgarage treffen. Falls du Angst hast, wegen deines Äußeren aufzufallen.«

Die Stimme antwortete nicht sofort. Es rauschte und knackte wieder in der Leitung. Dann ertönte ein Geräusch, als ob ein Laster tonnenweise Glasflaschen im Vorgarten ablud.

»Das ist nicht möglich. Ich befinde mich nicht bei dir auf der Erde.«

»Was?«

»Ich sende Funksignale. Es sind eine Art Radiowellen.«

»Du bist in einem Raumschiff?«

»Nein. Die Entfernung zwischen uns und euch wäre auch mit dem leistungsfähigsten Raumschiff nicht zu überwinden. Ich sitze, wenn du so willst, in einem Büro, vor einem Funkgerät, und ich klinke mich in Lautsprechermembranen ein, die sich in deiner Nähe befinden. Das ist übrigens auch der Grund, warum wir das Ablenkungsmanöver nicht selbst durchführen können. Wir sind zwar in der Lage, irdische Computersysteme zu manipulieren. Aber das wäre für eure Techniker viel zu leicht nachzuverfolgen und würde zur Vermutung eines Hackerangriffs führen. Wenn aber du, Shorty, einen Stromausfall per Hand erzeugst, werden keine Spuren von uns zurückbleiben. Man wird es als Materialermüdung eines veralteten Moduls betrachten, und der Käse ist gebissen. Ich bereite deinen Auftritt vor, auf die Bühne musst du selbst steigen. Es wird ein großer, denkwürdiger Auftritt werden, Shorty. Du wirst mit ein paar kleinen Handgriffen die Zukunft der Menschheit sichern.«

Wieder dieses staatstragende Zittern in der Stimme der Stimme. Direkt gruselig, dachte Shorty.

 

Doch er ließ nicht locker. Er hatte wieder ein klein bisschen an Souveränität gewonnen.

»Aber wenn es möglich ist, dass du mit mir auf der Erde Kontakt aufnimmst, dann müsste doch umgekehrt auch ich –«

»Jetzt wird er aber übermütig, unser Shorty«, unterbrach ihn die Stimme, die eigentlich seine war, und sie mischte genauso einen Hauch Ironie hinein, wie er das gemacht hätte. »Aber ich habe die Frage erwartet. Ja, du kannst ein bisschen bei uns auf der Oberfläche herumspazieren.«