8

And you tell me

over and over and over and over again my friend,

You don’t believe we’re on the eve of destruction.

 

Barry McGuire

Schlechte Blutwerte, Arthritis, ein löchriges Immunsystem, das mühsame Aufkommen vom Fernsehsessel, Appetitlosigkeit, Rheumatismus, lästige Schluckstörungen, dauerndes Kribbeln in den Zehen – das alles und noch viel mehr war Knut Polz. Der marode Rentner war keuchend und sein vorgerücktes Alter verfluchend die kleine Gasse hinuntergestapft, um Zigaretten im nahegelegenen Schreibwarenladen zu holen. Wie immer war er vor dem Schaufenster stehen geblieben, um ein wenig zu verschnaufen. Neidisch und mit so viel aufflammendem Groll, wie ihm noch möglich war, hatte er die Gruppe der jungen und gesunden Menschen betrachtet, die vorbeiströmten. Sie starrten allesamt in ihre metallisch schimmernden Flachziegel, und jeder Einzelne von ihnen war bestimmt frei von Nackensteifigkeit, Gicht, Schlaflosigkeit und Durchblutungsstörungen. Knut Polz hatte sein Basecap abgenommen, sich den Schweiß von der Stirn gewischt und den verrunzelten Kopf in den Nacken gelegt, um hinaufzuschauen ins herb-sommerliche Azur. Doch jetzt blinzelte er ungläubig. Den Kopf zu schütteln scheute er sich, er befürchtete, dass das blieb und sich zu einem leibhaftigen Morbus Parkinson auswuchs. Der Himmel über der Gasse wurde mit einem Mal fleckig und bunt, es hatten sich ölig schimmernde Klötzchen gebildet, die ihn im ersten Augenblick an seinen alten Fernsehapparat erinnerten, bei dem es mit dem Empfang nicht mehr so richtig stimmte. Ein Teil des Himmels war mit dieser gigantischen Bildstörung bedeckt. Hilfesuchend blickte er sich um. Doch außer ihm befand sich nun kein Mensch mehr auf der Straße. Klar, es war gerade Abendessenszeit. Oder es gab ein Fußballspiel im Fernsehen. Als er erneut hinaufsah in den Augusthimmel über den Dächern, waren die Klötzchen auch schon wieder verschwunden. Knut Polz blies hörbar Luft aus. Vielleicht sollte er morgen zum Augenarzt gehen. Schlechte Blutwerte, Arthritis, das schwere Aufkommen vom Fernsehsessel – und jetzt auch noch der Graue Star. Er betrat den Zeitschriftenladen.

»Wie immer ohne Filter, Herr Polz?«, fragte der Verkäufer.

 

Selma Öksüz war mit ihrem Taxi den schmalen Forstweg durch den Stadtwald geknüppelt, aus den Boxen wummerte Musik des angesagten türkischen Rappers Zafer Yazıcıoğlu. Sie hatte ihren Blick dabei träumerisch auf den Schotter und die verstreuten Zweige gerichtet. Selma kannte die Strecke. Carl-Gastreich-Straße, Alter Postweg, Böckenheck – eine beliebte Bummelstrecke für Liebespaare. Sie taxelte jetzt schon zwanzig Jahre. Doch als sie über eine Hügelkuppe bretterte, bremste sie panisch ab, schlidderte zehn, zwanzig Meter auf dem knirschenden Kies, drehte sich, verlor die Orientierung, bekam ihre Karre endlich zum Stehen, riss die Tür auf und sprang aus dem Auto. Fassungslos stierte sie zum Himmel, der in der Mitte ein Stück auseinandergerissen war. In dem Spalt pulsierten bunt schillernde, scharfkantige Würfel, die ihre Größe rasend schnell veränderten, sich zitternd voneinander entfernten, wieder zusammenstießen, um mit grellen Lichtspielen zu zerbröseln. Selma Öksüz stieß ein paar schlecht übersetzbare türkische Flüche aus. Die Himmelserscheinung hatte sie auf die Knie gezwungen. Sie legte die Hände flach auf den Boden und flüsterte ein inbrünstiges Stoßgebet. Doch als sie kurz darauf aufblickte, strahlte der Himmel schon wieder in unschuldigem Blau. Sie schwor sich, niemandem von dieser Erscheinung zu erzählen.

 

Horst Frenken hatte die Teetasse leise und sorgfältig abgestellt, er sah aus dem Fenster und machte seine Frau Ilse auf ein kleines, blasses Witzwölkchen aufmerksam.

»Ich fürchte, das wächst sich aus«, sagte sie. »Es soll regnen. Ich weiß nicht, ob aus unserem Abendspaziergang was wird. Du bist doch immer so empfindlich –«

Bevor er etwas entgegnen konnte, explodierte der Himmel. Von einem Augenblick auf den anderen entstand eine klaffende Lücke, die von unfassbarer Größe sein musste. Beide schrien gellend auf. Er war Gymnasiallehrer und Bildungsbürger der alten Schule, folgerichtig dachte er als Erstes an einen apokalyptischen Blitz, an den gehörnten Antichrist, an kochende Blutmeere, aus denen die giftspritzenden siebenschwänzigen Schlangen aufstiegen. Das ganze Setting der biblischen Johannesoffenbarung, und das alles quasi vor der eigenen Haustür. Nach dem ersten Schrecken lief ein nahezu wohliger Schauer über den Rücken des ehemaligen Oberstudiendirektors Horst Frenken. Das Buch mit den sieben Siegeln, die letzten drei Posaunen, die sieben Plagen, der Untergang Babylons, Erde und Himmel verschwinden, das Weltgericht tagt … Vielleicht erschienen als Nächstes gleich die vier apokalyptischen Reiter, ritten in den schmalen Vorgarten der Frenkens und klopften mit eisernen Fäusten an die Tür. Gewundert hätte es ihn nicht. Seine Frau Ilse wiederum war Friedensbewegungsaktivistin der ersten Stunde gewesen, eine veritable Alt-68erin, ihr passten sogar noch die Klamotten von damals. Sie ging deshalb sofort von einem militärischen Desaster aus, vom Dritten Weltkrieg mit zwanzigfachem Overkill und radioaktivem Fallout, ausgelöst durch einen durchgeknallten amerikanischen Militär. Wie auch immer – Horst und Ilse Frenken ließen sich zu Boden fallen und verkrochen sich unter dem Teetisch. Dort verharrten sie eine Stunde lang reglos. Erst als der Lärm auf der Straße unheilvoll und unerträglich anschwoll, als sich das Geschrei von vielen Menschen mit den Sirenen der Einsatzkräfte mischte, wagten sie, den Kopf zu heben. Es klingelte an der Haustür.

»Das sind sie!«, schrie Frenken.

»Wer?«, flüsterte seine Frau.

»Die vier apokalyptischen Reiter!«, schrie er weiter.

»Quatsch, die klingeln doch nicht«, entgegnete sie.

Die Frenkens robbten aus der sicheren Deckung des Teetischchens heraus in Richtung Schrank und verbarrikadierten sich darin. Aus dem Abendspaziergang wurde jedenfalls nichts mehr.

 

Gesine und Jan hatten ihre Selfiesticks zu Hause vergessen, deshalb mussten sie, richtig vorsintflutlich, einen Passanten in der Fußgängerzone bitten, mit ihrem Smartphone ein Foto von ihnen zu schießen. Sie stellten sich in Pose. Vor reichlich denkmalgeschütztem Kram und einem Eiscafé im Hintergrund. Der freundliche Passant suchte nach dem geeigneten Bildausschnitt und drückte ab.

»Zur Sicherheit noch ein zweites!«, rief Gesine.

Der Passant lächelte gutmütig, doch plötzlich ließ er die Kamera sinken und ein Ausdruck des fassungslosen Entsetzens erschien auf seinem Gesicht. Die Augen quollen ihm schier aus den Höhlen, er wurde blass wie ein Stück Papier. Er hatte den Mund zum Schreien geöffnet, doch es kam nichts als ein dürftiges, klagendes Winseln heraus. Zitternd hob er die Hand und zeigte über ihre Köpfe hinweg auf etwas hinter ihnen. Als sich Gesine und Jan erschrocken umdrehten, konnten sie nichts erkennen, was des Schreiens und Krächzens wert gewesen wäre. Das Foto, das der Passant geschossen hatte, sollte allerdings um die Welt gehen.

 

Die Sprechstundenhilfe der Augenarztpraxis stieß, ohne anzuklopfen, die Tür zum Behandlungszimmer auf.

»Was gibts?«, fragte der Augenarzt mürrisch.

»Komische Sache, Herr Doktor. Ein Anruf nach dem anderen, siebzehn bisher.«

»Und?«

»Alle klagen über Blitze vor den Augen.«

»Klingt nach Netzhautablösung.«

»Ja, aber gleich siebzehn Netzhautablösungen innerhalb von ein paar Minuten! Das gibt’s doch nicht.«

Der Augenarzt wandte sich wieder seinem Patienten zu. Wahrscheinlich war gerade ein Gesundheitsmagazin im Fernsehen gelaufen, so was wie: Ablatio retinae – die Pest ab 60. Er tippte auf Harald Lesch.

 

Der Art Director der Werbeagentur Craft & More lümmelte auf der Dachterrasse der Capricorn Bar in einem Büffelledersofa und hatte schon den dritten Gurki intus. Da war er am kreativsten. Mensch Meier, dachte er, nachdem er die Erscheinung am Himmel gesehen hatte, da hat sich aber jemand marketingmäßig irre reingehängt. Das hätte einem selbst einfallen müssen. Wahrscheinlich Lasereffekte.

 

Moritz Jamanke saß im Polizeirevier und erledigte Bürokram. Als das Telefon klingelte, war Joschi am Apparat, und Jamanke musste lächeln, als ihm der etwas von Klötzchen am Himmel erzählte. Der Joschi schon wieder! Es wurde immer schlimmer mit ihm. Die Frau weg, das Geschäft eingegangen, er nicht mehr ganz richtig im Kopf, es ging nur noch abwärts mit ihm. Und jetzt auch noch Klötzchen am Himmel. Wirklich lachhaft. Doch nach den nächsten vier Anrufern, die mit der gleichen Geschichte daherkamen, verging dem Polizisten das Lachen. Er schaltete den Fernsehapparat ein. Dort wurde ein Mann gezeigt, der angeblich etwas mit dem Vorfall zu tun hatte. Jamanke kannte den Mann. Er hatte ihn schon einmal verhaftet. Es war Shorty. Was hatte der Junge jetzt schon wieder ausgefressen?

 

Der Chirurg Professor Dr. Lukretius, der auf einer Parkbank saß und Eichhörnchen mit biologisch angebauten, schweineteuren Erdnüssen fütterte, hatte schon viel gesehen in seinem Leben, deshalb überraschte ihn die Erscheinung jetzt auch nicht so besonders. Er fühlte sich beim Anblick des Desasters sofort an einen chirurgischen Bauchaufschnitt des äußeren Gewebes erinnert. An die ersten Minuten einer Operation. Wie wenn mit einem gläsernen Skalpell ein riesengroßer Schnitt geritzt worden wäre und hinter dem blassen Außengewebe die blutigen Innereien erschienen. Doch im Gegensatz zu einer Operation war der Blick hinter die Kulissen des Weltgetriebes gleich wieder verschwunden. Mit einem großen Schwung schüttete Dr. Lukretius den Rest der Tüte auf den Boden und faltete sie sorgsam zusammen.

 

Harry der Bauchredner schlug die Plane zurück und verließ das Zirkuszelt. Sein Auftritt war gerade zu Ende gegangen. Er hatte nur eine einzige Nummer im Repertoire. Die ventriloquistische Matrjoschka-Nummer. Eine Bauchrednerpuppe, die eine weitere Bauchrednerpuppe führte, die wiederum eine Bauchrednerpuppe führte … Und alle diese Bauchrednerpuppen hatte er sich aus Blechdosen gebastelt. Als Harry die Himmelserscheinung sah, bekreuzigte er sich nicht, er fluchte nicht, er warf sich nicht auf den Boden, und er dachte auch nicht an eine Netzhautablösung. In seinem Inneren breitete sich vielmehr eine Ruhe aus, wie er sie noch nie erlebt hatte. Er hatte nichts anderes erwartet, als dass das Ende der Welt hinter dem Zirkuszelt stattfand. – (Sorry, Harry, aber du irrst dich. Das ist nicht das Ende der Welt. Das noch nicht.)

 

Obwohl der Großteil der Bevölkerung den eigentlichen Vorfall nicht mitbekam, waren binnen weniger Minuten die Leitungen sämtlicher öffentlicher Stellen im Umkreis von vierzig Kilometern hoffnungslos überlastet. Unzählige Bürger riefen bei den Polizeidienststellen an, beim Ordnungsamt, beim Lokalradio, bei der Feuerwehr, bei den Zeitungen. Auch beim Wetterdienst, beim Fernsehen, beim Roten Kreuz, bei der zivilen Flugüberwachung, beim Bundesamt für Strahlenschutz …

 

Die Leitstelle für zivilen Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, davon eine speziell eingerichtete Unterabteilung, nämlich die Schutzkommission beim Bundesministerium des Innern, hätte die Aufgabe gehabt, alle diese Behörden und Einrichtungen im Fall der Fälle zu koordinieren. Und zwar in den ersten Minuten nach Bekanntwerden einer Katastrophe. Die einschlägigen Mitarbeiter waren auf so ziemlich alles vorbereitet: auf Waldbrände, Terroranschläge, Flugzeugabstürze, Reaktorzwischenfälle, Pandemien, Vulkanausbrüche, Erdbeben – und natürlich auch, der Vollständigkeit halber, auf Erstkontakte mit Außerirdischen. Für alles gab es amtliche Ansprechpartner, Worst-Case-Szenarien und Prozessablaufschemata – jedoch war niemand auf den Fall vorbereitet, dass der Himmel für einen kurzen Moment aufplatzte wie eine angeschnittene Brühwurst, sich dann wieder schloss – und sonst weiter nichts geschah.

 

In einem winzig kleinen Büro des Max-Planck-Instituts für extraterrestrische Physik saß der indische Astrophysiker Dr. Mukhopadhay vor seinem Rechner und sah sich das Video der Himmelserscheinung an. Zum zwanzigsten Mal. Ein befreundeter Wissenschaftler hatte ihm die wenige Sekunden dauernde Aufnahme aus seinem Urlaub geschickt. Dr. Mukhopadhay drehte sich kopfschüttelnd zu seinem Kollegen, der sich über seine Schulter beugte.

»Ich verstehe es einfach nicht«, sagte er. »Nach unseren Messungen müsste die Welt explodiert sein. Eine riesige Datenflut zum fraglichen Zeitpunkt, enorme elektromagnetische Turbulenzen, aber kein Erdbeben, kein Polsprung, nichts. Es ist so, als ob nichts geschehen wäre.«

»Ich verstehe es auch nicht«, erwiderte der andere Astrophysiker kopfschüttelnd. »Man könnte fast meinen –«

Er brach ab. Mukhopadhay nickte.

»Wenn der Gedanke nicht so abwegig wäre, würde ich sagen, dass die Erscheinung genau in unser Fachgebiet fällt.«

Er brauchte nicht weiterzureden. Sein Kollege verstand ihn auch so. Draußen auf dem Türschild der beiden Wissenschaftler war zu lesen:

Mukhopadhay/Geibel

Forschungsgruppe Dunkle Materie

Ein Witzbold hatte mit Bleistift Angewandte Faschingsphysik dazugeschrieben.

 

Nick war Computernerd. Als er kurz von seinem Rechner aufgeblickt und in den sommerlichen Augusthimmel geschaut hatte, war ihm sofort der Gedanke gekommen, dass es sich bei der Erscheinung um einen typischen Fall von Rendering handelte. Bei diesem Effekt wurde eine Bildschirmgrafik aufgrund geringer Rechenzeit nicht vollständig dargestellt, sondern nur vorläufig und skizzenhaft. Was er dort oben gesehen hatte, war ein Stück vom Himmel, der quasi noch nicht vollständig hochgefahren war. Es schien so, als wären die Farbe Blau, die Entfernung vom Betrachter und weitere Faktoren wie Ausdehnung, Füllung und Skalierung noch nicht in den gewohnten klaren Augusthimmel umgesetzt worden. Nick hatte das Rezept für das Farbgemisch gesehen und nicht die Farbe. Doch bevor er weiter darüber nachsinnen konnte, wie das möglich war, wurde er von seinen Eltern zum Essen gerufen. Gemein! Nick war jetzt fast sieben Jahre alt und wurde vom Computer weggescheucht wie ein Kleinkind.