11

… und erlöse uns von uns, dem Übel!

 

Peter Handke

»Wie lange werden wir bis zu deiner Fischerhütte brauchen?«, fragte Bluna besorgt.

»Drei, vier Stunden vielleicht. Wir müssen erst ein paar Straßen durch dichtbesiedeltes Gebiet laufen, dann aber weiß ich einen Forstweg am Stadtrand, den kaum jemand kennt. Wenn uns wirklich Leute entgegenkommen, können wir uns jederzeit im nahegelegenen Wald verstecken. Aber mir ist auf dieser Strecke noch nie jemand begegnet.«

»Hast du den Schlüssel für die Hütte bei dir?«

»Sagen wir mal so: Ich kann da jederzeit rein. Machen wir uns auf den Weg!«

Shorty setzte unwillkürlich zu einer großen, beherzten Armbewegung an, um in die Richtung zu zeigen, die sie einschlagen wollten. Doch er zuckte schmerzhaft zurück. Immer wieder vergaß er, dass er gefesselt war. So wies er mit dem Kinn in die Richtung, in der der See und die Hütte lagen. Der Schlüssel lag in der Dachrinne. Shorty war schon oft dort gewesen, hatte sich meist Hörbücher und Videos reingezogen. Er rollte die Schulterblätter, um sich zu lockern. Wieder stöhnte er schmerzhaft auf. Er musste so schnell wie möglich an den Werkzeugkasten kommen. Sein Handikap, nur notdürftig verdeckt durch den pfirsichfarbenen Pulli, nervte ihn inzwischen tierisch.

»Na, dann mal los«, sagte Bluna.

Die Hauptstraße, in der sie sich momentan befanden, hatte sich schon wieder mit vielen hektisch in alle Richtungen laufenden Passanten gefüllt, einige waren auswanderungsbereit vollbepackt, andere zogen bunte Urlaubsrollkoffer hinter sich her. Vor der imposanten katholischen Kirche war besonders viel los. Ein riesiger Lkw des Technischen Hilfswerks parkte vor dem Hauptportal, Helfer luden sakrale Ölbilder, Heiligenstatuen und beschriftete Kisten ein. Evakuierte die Kirche schon? Ein Pfarrer, an seinem römischen Kragen erkennbar, trug eine in Seidentücher eingeschlagene Monstranz, selbst auf der Flucht war es ihm wichtig, die gebotene zweitausendjährige Würde zu bewahren. Zwei junge Priester im Messgewand schleppten einen reichverzierten, in allen Fugen ächzenden Kleiderschrank. Die Retter der Kirchenschätze arbeiteten verbissen schweigend, die Aktion sah gut organisiert und oft geprobt aus. Bluna und Shorty gingen eilig weiter. Sie kamen an eingeschlagenen Schaufensterscheiben und verwüsteten Auslagen vorbei, die ersten Plünderungen hatten schon stattgefunden. Dass die Fassade der Zivilisation so schnell bröckelte, bereits nach wenigen Stunden und lediglich auf einen ungewissen Verdacht hin, verwunderte Shorty. Eher hätte er erwartet, dass sich die Menschen, die nicht wussten, was da geschehen war, in ihre Wohnungen und Häuser verkrochen, aber anscheinend war genau das Gegenteil der Fall. Niemand wollte in einer Gegend bleiben, in der der Himmel ein Leck bekommen hatte. Mehrmals wurden sie grob angerempelt oder gar fluchend beiseitegestoßen. Plötzlich fielen zwei Schüsse, aus welcher Richtung, war nicht auszumachen. Die Passanten verharrten einen Moment in Angststarre, dann rannten sie wie auf ein unhörbares Kommando schreiend nach allen Seiten davon, stießen wieder zusammen, behinderten sich gegenseitig, suchten ungeschickt und sinnlos Deckung hinter Mauervorsprüngen und Toreinfahrten. Als sich der Platz schließlich geleert hatte, war eine Gestalt leblos auf der Straße liegen geblieben. Keiner hatte geholfen, keiner hatte sich um den Reglosen gekümmert. Doch jetzt näherten sich vorsichtig zwei Männer, beugten sich über ihn, tasteten ihn hastig ab, drehten ihn auf den Rücken, knöpften das Jackett des Mannes auf, pflückten seine Brieftasche heraus, streiften seine Uhr ab und verschwanden. Sogar seine Brille hatten sie mitgenommen. Es war ein erster Vorgeschmack auf das, was noch kommen sollte. Jetzt verstand Shorty, was die Stimme damit gemeint hatte, dass Ungewissheit und Unerklärbarkeit die größte Gefahr für den menschlichen Zusammenhalt bedeuteten.

 

Bluna wies auf die reglose Gestalt, die mitten auf der Straße lag. Ein Hund beschnüffelte sein Gesicht. Wortlos liefen sie hin und verscheuchten das Tier. Shorty kniete sich vor den großen, dünnen Mann und beugte sich über ihn. Gut, dass er ein paar Monate als Hilfspfleger in einem Krankenhaus gearbeitet hatte. Das zahlte sich jetzt sicher aus. Mehr als Grundkenntnisse besaß er zwar nicht, aber er erkannte auf den ersten Blick, dass der Mann lebte. Sein Brustkorb hob und senkte sich langsam und gleichmäßig. Bluna fühlte seinen Puls.

»Eiskalte Hände«, murmelte sie.

Es war ein großer, schlanker Mensch, sein blasser Teint und die kalten Finger wiesen auf niedrigen Blutdruck hin. Nahm man noch den Stress hinzu, deutete alles auf eine kreislaufbedingte Ohnmacht hin. Über ihnen öffneten sich einige Fenster.

»Wir brauchen einen Krankenwagen!«, rief Shorty ins Ungewisse. »Der Mann ist am Leben.«

»Ich suche inzwischen nach der Schusswunde«, sagte Bluna und knöpfte dem Mann das Hemd auf.

Sie untersuchte ihn von oben bis unten, konnte jedoch keine Wunde entdecken. Als Bluna den Mann auf den Bauch drehen wollte, schlug er die Augen auf.

»Was ist mit mir?«, flüsterte er erschrocken.

Dann richtete er sich schnell auf. Musterte die beiden misstrauisch. Griff in die Jacke. Und sah auf sein Handgelenk, an dem er die Uhr getragen hatte.

»Ihr Schweine habt mich beklaut!«, rief er. »Gebt mir sofort meine Kohle wieder!«

»Aber nein, wir wollten bloß –«, sagte Bluna in ruhigem Ton.

»Hilfe!«, schrie der Mann und sprang auf die Beine.

Er packte Bluna an den Schultern, die konnte sich jedoch losreißen.

»Komm, hauen wir ab!«

Shorty hatte im offenen Fenster eines ersten Stocks zwei Leute bemerkt, die sich anstießen, in ihre Handys schauten und dann wieder aufmerksam in seine Richtung deuteten.

»Da lang!«, rief er.

Sie rannten. Einige Zeit hörten sie noch die Schritte des dünnen Mannes und seine lauten Drohungen. Doch sie waren jünger als er.

»Ich fürchte, wir müssen den Plan mit der Hütte aufgeben«, sagte Shorty, als sie sicher sein konnten, ihn abgeschüttelt zu haben.

Bluna blickte ihn erstaunt an.

»Es dauert zu lang, bis wir dort sind.«

»Hast du eine bessere Idee?«

»Nur drei Straßen weiter liegt das Polizeirevier. Ich kenne dort jemanden. Von früher. Herrn Jamanke. Ich werde mich ihm stellen. Das ist besser, als dauernd Gefahr zu laufen, gefasst zu werden.«

Bluna musterte ihn ernst.

»Wie du meinst. Ich bringe dich hin.«

»Nein, Bluna, es ist besser, wir trennen uns. Ich will dich in die Sache nicht noch weiter reinziehen.«

Eigentlich hatte ja Bluna ihn in die Sache reingezogen, wenn auch unwissentlich. Doch das behielt Shorty für sich.

»Ich bringe dich hin«, wiederholte Bluna eindringlich.

 

Im Polizeirevier liefen immer noch die Telefone heiß.

»Beruhigen Sie sich bitte«, sagte Moritz Jamanke. »Ich. Weiß. Es. Auch. Nicht. Ich habe wirklich keine Ahnung, was sich da abgespielt hat –«

Diese Sätze hatte er wieder und wieder ins Telefon gesprochen. Er war schon ganz heiser davon. Er und seine Kollegen hatten die Tür zum Haupteingang von innen verriegeln müssen, eine Traube von besorgten, vorwurfsvollen, wütenden, verwirrten, aufgebrachten Menschen hatte sich versammelt, und es wurden immer mehr. Einer hatte versucht, die bruchsichere Verglasung mit einem großen Stein zu zertrümmern. Jamanke sah durchs Fenster, das nach hinten hinausführte, er bemerkte, dass ein Mann und eine Frau über die Wiese gelaufen kamen, die an das Revier grenzte. Die Frau kannte er. Sie arbeitete im Architekturbüro Lix & Partner. Das Gesicht ihres Begleiters konnte Jamanke nicht erkennen, er lief gebückt und hatte die Kapuze seines Sweatshirts tief ins Gesicht gezogen.

 

Bluna trommelte mit beiden Fäusten an das Fenster, zeigte auf Shorty und machte schwer deutbare Zeichen. Jamanke sprang auf, trat zum Fenster und öffnete es einen Spalt.

»Sie können hier nicht rein!«, rief er laut. »Gehen Sie zum Haupteingang und warten Sie dort!«

Doch jetzt rannte draußen jemand um die Ecke, direkt auf die beiden zu.

»Das ist er!«, schrie der Mann. »Wir haben den Verbrecher!«

Ihm folgte ein halbes Dutzend Leute unterschiedlichen Alters, sie trampelten johlend über die Terrasse und stürzten sich auf Blunas Begleiter. Dann packten sie ihn an den Schultern und rissen ihn herum. Jetzt erst bemerkte Jamanke, dass es Shorty war. Wollte er sich freiwillig stellen? Jamanke fragte sich, ob Shorty wirklich etwas mit der Sache zu tun hatte, wie im Fernsehen behauptet wurde. Vor vielen Jahren hatte er Shorty verhaftet und eingebuchtet. Hatte er wieder etwas ausgefressen? Jamanke konnte erkennen, dass Shortys Hände hinter dem Rücken gefesselt waren. Der Polizeibeamte öffnete die Hintertür, trat hinaus und versuchte, die aufgebrachten und jagdlüsternen Raufbolde vom Angegriffenen zu trennen.

»Gehen Sie auseinander! Lassen Sie ihn los!«, schrie er, doch er wurde beiseitegeschoben.

Es war ein Fehler gewesen, das Gebäude zu verlassen. Er griff nach seiner Dienstwaffe.

 

»Ich habe ihn!«, rief einer aus der kreischenden Menge. »Der ist an allem schuld!«

Shorty empfing einige Stöße und Ohrfeigen, schließlich Schläge und Tritte, lange konnte er mit auf dem Rücken gefesselten Händen nicht auf den Beinen bleiben. Zu seinem Glück wollte jeder der Raufbolde den Fang des vermeintlichen Verursachers der Katastrophe auf seine Fahnen schreiben. Sie rangelten und pöbelten jetzt untereinander. Zwei fingen an zu boxen und zu treten. Nach einem Faustschlag in den Magen ging einer wimmernd zu Boden. Jamanke richtete eine überraschend imposante Knarre auf die Meute, die hielt erschrocken inne und ließ von Shorty ab. Der witterte seine Chance. Er spurtete über die Terrasse. Niemand verfolgte ihn, Jamanke hielt die Gruppe in Schach.

»Komm zurück, Shorty!«, schrie er ihm nach.

Doch das hörte Shorty schon gar nicht mehr. Er rannte, was das Zeug hielt. Irgendein Instinkt trieb ihn an, in Richtung Kirche zu laufen. Vielleicht war der große Kleiderschrank mit den Talaren seine Rettung.

 

»Verschwinden Sie, aber sofort!«

Als die Randalierer und verhinderten Hilfssheriffs die Dienstwaffe von Jamanke sahen, kuschten sie und traten den Rückzug an.

»Hat er Sie bedroht?«, fragte Jamanke Bluna, als sie allein waren.

Bluna schüttelte den Kopf.

»Ich kann Sie hier nicht reinlassen.«

»Ich will auch nicht rein. Ich wollte Shorty nur helfen und ihn hier abliefern. Er ist psychisch krank. Er sieht Dinge, die nicht da sind. Er tut nur so, als hätte er mit der Sache etwas zu tun. Typisch für einen Menschen mit einer Konversionsstörung. Ich wollte ihn mit einem befreundeten Therapeuten zusammenbringen, den ich angerufen habe. Ich mache mir Sorgen um Shorty.«

Bluna musterte den Polizisten genauer. Die Ähnlichkeit mit Shorty war ihr gleich von Anfang an aufgefallen. Dieselbe Größe, dieselbe Statur und dieselbe edel-staatsmännische Erscheinung. Jamanke war eine ältere Version von Shorty. Jamanke war der Shorty in bürgerlich.

»Wenn Sie ihn sehen, sagen Sie, er soll sich bei mir melden!«, sagte Jamanke und ging zurück ins Gebäude.

Nachdenklich machte er sich wieder an die Arbeit. Eine Pressekonferenz stand an.

 

Bluna, die zweite Bauzeichnerin des Architekturbüros Lix & Partner, spürte eine Hand auf der Schulter.

»Hallo, Bluna, endlich habe ich dich gefunden.«

Sie drehte sich um und erschrak zutiefst. Diese Gestalt hatte sie als Letztes hier erwartet. Ein böser, ahnungsvoller Schauer lief durch ihren Körper. Die Hand auf ihrer Schulter wurde immer schwerer.