Viertes Buch Harsche Beschränkung

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Weltende

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,

In allen Lüften hallt es wie Geschrei,

Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei

Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

 

Jakob van Hoddis

BE PREPARED ! – Das war Klaus Tietzes Motto, und genau das stand auch über dem gemauerten Eingangsbereich seines unterirdischen Weinkellers, der etwas außerhalb der Stadt in einem spärlich bewohnten Gebiet lag. Tietze kam selten zu den Treffen der Geselligen Runde, war auch nicht sonderlich beliebt, es wurde viel gelästert über ihn. Doch in der momentanen Situation waren ihm alle außerordentlich dankbar. Denn der Wissenschaftsjournalist, der die Relativitätstheorie so locker und plausibel erklären konnte, hatte neben seiner glasklaren, verstandesorientierten Seite noch eine verschwommene und zwielichtige. Legte man bei ihm einen Schalter um (was oft bereits nach dem zweiten Glas Wein der Fall war), verwandelte er sich in einen radikalen und endlos salbadernden Verschwörungstheoretiker. Niemanden hatte es gewundert, als Klaus Tietze sich schließlich als Prepper geoutet hatte. Er war ledig, sparsam und Nichtraucher, und er hatte jeden Groschen und jede freie Minute in den Ausbau eines stillgelegten Weinkellers gesteckt, um ihn nach und nach in einen veritablen Katastrophenschutzbunker zu verwandeln. Die Katastrophe war nun eingetreten, und die meisten Mitglieder der Geselligen Runde waren plötzlich heilfroh über den verschrobenen Tietze, der sie per Rundruf eingeladen hatte, die nächsten Wochen – »Bis das Gröbste vorüber ist!« – in seinem Bunker zu verbringen. Seinen Berechnungen zufolge konnten hier zwei Dutzend Menschen monatelang ausharren. Eine knappe Woche war seit dem Riss im Himmel vergangen, und die Geschützdonner, Kommandoschreie und Krankenwagensirenen, die man von draußen hörte, waren inzwischen seltener geworden. Niemand schien sich um den Bunker zu kümmern, der zudem rundum durch dichten Waldbewuchs vor neugierigen Blicken geschützt war. Er war vollständig mit Gras und Gestrüpp überwachsen, der Eingang war mit einem Felsbrocken getarnt, und nur durch eine kleine, dicke Panzerglasscheibe konnten die Insassen die Außenwelt beobachten. Doch kaum jemand kam vorbei oder begehrte Einlass.

 

Es gab Erdbeerbowle. Am Tisch saß Oberstudienrat Horst Frenken samt Frau Ilse. Beide waren von Selma Öksüz aus ihrem Versteck geholt und hierher verfrachtet worden. Auch der sammelwütige Rechtsanwalt und Bootshausbesitzer, der von der Prügelei immer noch ziemlich ramponiert aussah, war inzwischen eingetroffen. Er hatte allerdings darauf bestanden, seine Miniaturen mitzubringen: einen Gips-Kilimandscharo im Maßstab 1:50000, einen kleinen Goldbarren, eine Minidrehorgel … Er breitete seine Stücke gerade in einem Nebenraum aus. Die Sammlung war vollständig, der Rechtsanwalt hatte nichts zurückgelassen, lediglich die kleine Swiss Mini Gun fehlte, eine handtellergroße, aber durchaus funktionsfähige Pistole, die er, nachdem sich in der Nähe des Bootshauses ein Schuss gelöst hatte, kurzerhand in den See geworfen hatte.

 

Man wollte Strom sparen, also brannte lediglich eine kleine Funzel an der Decke, doch die Augen aller hatten sich schon längst an die Dunkelheit gewöhnt. Die Gesichter waren schemenhaft, ineinanderfließend, geistergleich. Man flüsterte, als ob man schauerliche Geheimnisse und gefährliche Wahrheiten austauschen wollte. Es stellte sich langsam so etwas wie eine Routine ein, mit der neuen Situation umzugehen, selbst irrationale Gedanken hielten Einzug in die Gespräche. Niemanden hätte es groß verwundert, wenn sich plötzlich der Erlkönig mit seinen Töchtern zu ihnen an den Tisch gesetzt hätte.

»War es nicht doch etwas zu früh, hier runterzukommen?«, fragte Selma Öksüz, die türkische Taxifahrerin.

Der Art Director der Werbeagentur Craft & More schüttelte den Kopf.

»Aber keine Sekunde zu früh! Ich bin heilfroh, hier zu sein. Und mich bringen auch keine zehn Pferde mehr raus. Kaum ein Haus ist mehr sicher vor Plünderung und umherziehenden Horden.«

»Umherziehende Horden? Als ich gestern durch die Straßen gefahren bin, habe ich aber kaum mehr Menschen gesehen. Entweder haben sich die alle in ihre Häuser verkrochen oder sie haben sich in Luft aufgelöst.«

»Aber wie konnte das alles nur so schnell kommen?«, sinnierte Frenken. »Seit dem Riss sind nicht mehr als fünf Tage vergangen. Und alles geht den Bach runter. Wenn wir wieder rauskommen, werden wir uns wahrscheinlich in der Steinzeit wiederfinden.«

»Ich bin der Meinung, dass manche Menschen nur darauf gewartet haben, dass solch eine Katastrophe eintritt.«

Das war Harry der Bauchredner. Er hatte allerdings nicht selbst gesprochen, sondern diese Sätze vielmehr eine leere Konservenbüchse quäken lassen, die er über dünne, fast unsichtbare Marionettendrähte führte. Die Blechfigur saß momentan auf Harrys Schoß, sie hatte aufgemalte Augen, der bewegliche Deckel bildete den Mund. Die Mitglieder der Geselligen Runde hatten sich schon daran gewöhnt, dass Harry nur noch auf diese Weise mit ihnen kommunizierte.

»Na ja, unser Klaus Tietze hat auf jeden Fall auf die Katastrophe gewartet«, sagte Selma. »Und ich für meinen Teil bin ihm sehr dankbar dafür, dass er das getan hat.«

Die Gesellschaft im Bunker schwieg. Alle starrten auf die Blechbüchse, die fröhlich weiterspekulierte.

»Wo sich Shorty wohl gerade aufhält? Meine letzte Information ist die, dass man ihn gefasst haben soll.«

»Schon wieder einmal«, sagte der Art Director. »Rund um den Globus wimmelt es inzwischen von falschen Shortys.«

Die Blechbüchse sprang auf den Tisch und wandte sich an alle.

»Was glaubt ihr: Hat er etwas damit zu tun oder nicht? Ich meine natürlich unseren richtigen Shorty. Unseren Jobhopper-Shorty, über den wir uns oft so lustig gemacht haben. Erinnert ihr euch noch an die Geschichte von dem Jazzakkord, den er im Berliner Hotel Adlon gespielt haben will?«

 

Shorty hatte ihnen die Geschichte so erzählt, dass er nicht rausgeworfen worden wäre, nachdem er in die Tasten gegriffen und den vierfach verminderten und kreuzweise erhöhten Quartsextakkord gespielt hätte. Der Hotelmanager hätte ihn vielmehr gefragt, ob er nicht als Jazzpianist im Adlon arbeiten wollte. Der echte wäre krank geworden und er hätte das richtige Jazzgesicht. Shorty aber hätte den Hotelmanager schließlich davon überzeugen können, dass er diesen Job nicht antreten könnte. Gartenarbeiten, Kellnern, Elektrik – gerne. Aber nicht das. Doch die Geschichte hätte ihn schwer belastet. Oft hätte er nachts davon geträumt und es wäre immer derselbe Traum gewesen. Bei Dienstbeginn nahm er am Flügel Platz, der in der Lobby des Hotels stand, er klappte den Deckel hoch und setzte sein allerschrägstes und zusammengekniffenstes Jazzgesicht auf. Dann griff er in die Tasten. Die Traumgäste, die an der Bar und an den Tischen saßen, unterbrachen ihre Unterhaltungen und sahen verwundert hoch. Sogar die Fische im Aquarium versammelten sich hinter der Scheibe. Die Kellner unterbrachen ihre Arbeit, die Köche kamen neugierig aus der Küche. Der vierfach Verminderte war so jazzig, so weichhart, so absolut gringe, so Chick-Corea-mäßig – und dazu das Wahnsinnsjazzgesicht. Alle warteten gespannt darauf, wie es wohl weiterging. Wie sich das verrätselte Klanggemisch auflöste. Und warteten weiter. Shorty aber ließ den Akkord verklingen, und nachdem wirklich der letzte Tropfen herausgepresst war, lehnte er sich zurück. Er machte keinerlei Anstalten weiterzuspielen. Die Gesichter der Hotelgäste verhärteten sich. Sie wurden wütend. Ein paar standen auf und krempelten die Ärmel hoch. Einer hatte sich eine Eisenstange gegriffen und kam auf ihn zu. Er holte aus und – hielt inne. So wie Shorty am Flügel innegehalten hatte, hielt der Wüterich im Schlag inne. Darüber wachte Shorty meistens auf. Aber nur, um wieder einzuschlafen und den Traum gleich nochmals zu träumen.

 

Klaus Tietze beteiligte sich nicht an dem Gespräch, das momentan im abgedunkelten Wohnzimmer des Bunkers stattfand. Er schichtete in einem Lagerraum weitere Konserven auf und trug Zahlen in eine Liste ein. Der Art Director gesellte sich zu ihm.

»Kann ich helfen?«

»Nein, eigentlich nicht. Ich habe da mein System.«

Der Art Director zögerte. Schließlich sagte er:

»Was glaubst du: Werden alle Menschen bei dieser Katastrophe umkommen?«

»Ich befürchte es. Alle außer vermutlich der legendäre ostsibirische Büßer und Asket, Väterchen Jakutskeijew, der alle zivilisatorischen Annehmlichkeiten von sich weist. Der wird vielleicht überleben.«

»Und wir eben.«

»Ja, vielleicht.«

 

Dr. Geibel und Dr. Mukhopadhay hatten nicht das Glück, in solch einem sicheren Raum zu sitzen. Zunächst sollten sie, wie alle akademischen Lehrkräfte des naturwissenschaftlichen Instituts, als systemrelevante Personen im Keller der Universität einquartiert werden. Doch im Keller war schließlich kein Platz mehr, und wer braucht in Notzeiten schon Wissenschaftler, die sich mit Dunkler Materie beschäftigen. So hatten ausgerechnet sie, die der Wahrheit bezüglich des Risses schon so verdammt nahe gekommen waren, sich notdürftig im verlassenen und völlig verwüsteten Café der Mensa eingerichtet. Sie machten sich über die Vorräte her, die noch genießbar waren. Kaffee zum Beispiel gab es genug, auch schon fertig gebrühten, der sogar noch ein bisschen warm war. Am Sonntag wurde in der Cafeteria immer Kaffee in großen Mengen gekocht und in 5-Liter-Thermoskannen abgefüllt. Der reichte für die ganze Woche. Und es hieß, dass Naturwissenschaftler nicht so großen Wert auf Qualität legen würden. Der Inder schenkte sich ein und hielt ein über und über vollgekritzeltes Blatt in die Höhe.

»Nach meinen Berechnungen deuten die Energieschwankungen, die von überallher gemeldet werden, zusammen mit den Mustern der Klötzchen am Himmel auf ein Phänomen hin, das der Physiker Takashi vor fünfzig Jahren theoretisch errechnet hat. Alle hielten ihn damals für verrückt.«

»Takashi? Ist mir kein Begriff.«

»Soviel ich weiß, hat er die Arbeit nur in der Jahrgangsschrift zu seinem Klassentreffen veröffentlicht. Die Takashi-Konstante besagt, dass sich Zahlen in der Nähe eines Nullpunkts anders verhalten als im Rest des Zahlenraums. Sie spielen verrückt und gehorchen nicht einmal den einfachsten Rechengesetzen. Der Nullpunkt selbst kann unter Umständen einen Wert annehmen, der weniger als null beträgt. Innerhalb des Nichts gibt es also einen Raum, der nicht nichts ist.«

»Wie ist das möglich?«

»Stell dir einen Kreis vor, zu dem der Kreismittelpunkt nicht dazugehört. Keine Gerade kann durch den Nullpunkt laufen, sie verschwindet sozusagen an der Punktgrenze. Außerdem gibt es keinen gesicherten Radius des Kreises, weil es ja keinen Mittelpunkt gibt. Takashi hat nachgewiesen, dass so etwas theoretisch möglich ist. Meinen Berechnungen zufolge kreisen unsere Klötzchen um solch einen Punkt, dessen Wert und Ausdehnung nicht null, sondern weniger als null beträgt.«

Geibel blickte von seinen Aufzeichnungen hoch. Sein Gesicht erhellte sich.

»Ich verstehe. So ein eigentlich unmöglicher Punkt könnte nur in der Mitte eines Raums mit Dunkler Materie vorkommen, der wiederum in der Mitte des Universums liegt.«

»Ja, genau. Die Takashi-Konstante führt zu der Schlussfolgerung, dass es in der Mitte des Universums ein uns unbekanntes Nichts mit seinen eigenen Gesetzen gibt.«

Geibel nickte.

»Das mathematisch und physikalisch Unmögliche, das Nicht-einmal-Nichts.«

Dr. Mukhopadhay beugte sich vor und sagte leise und eindringlich:

»Wir in Indien haben einen besonderen Begriff dafür. Wir nennen so ein Phänomen das Nirwana. Das Ziel allen Lebens und Strebens. Und es soll sehr hübsch dort sein. Wenn man es denn irgendwann einmal erreicht.«

 

An der Panzerglasscheibe des Weinkellerbunkers von Klaus Tietze erschien ein Gesicht. Niemand sah nach oben zum Eingang. Die Gestalt winkte. Es war ein Kind mit verbundenem Gesicht. Der Verband war halb um den Kopf gewickelt, am Ohr war viel Blut durchgesickert. Seine Haare hingen ihm ins Gesicht, sein Blick hatte etwas zutiefst Verzweifeltes. Das Kind klopfte mit seinen kleinen Fäusten an die Panzerglasscheibe und schrie erbärmlich. Doch keiner der Bunkerinsassen hörte den Schrei, und immer noch blickte keiner auf. Schon zu lange hatte niemand mehr dort geklopft. Und niemand sah, wie das Kind plötzlich weggerissen wurde. Niemand sah, wie es sich seinerseits losriss, sich schließlich aufrappelte und sich in einen mittelalterlich anmutenden Kämpfer mit Helm und Halsberge verwandelte. Doch bevor der Kämpfer zum Schlag ausholen konnte, schleuderte eine Frau mit auffällig kurzgestutztem Blondschopf und gedeckter Safarikleidung einen flammenden Blitz gegen ihn. Der Kämpfer wankte und zerfiel in tausend kleine Klötzchen.

 

»Schmeckt immer noch gut, der Kaffee«, sagte Geibel in der Cafeteria der Mensa, und Mukhopadhay, der Leiter der kleinen Forschungsgruppe Dunkle Materie, stimmte ihm zu.