Mittwoch, 20.53 Uhr
Alex bleibt drei Meter vor Diego stehen. Weicht seinem Blick aus. Auf dem Kopf hat er eine schwarze Kappe mit dem Logo einer Baseballmannschaft. Wie Vic hat er sich stark verändert. Das Teenagerstadium scheint er endgültig hinter sich gelassen zu haben. Der dichte schwarze Bart lässt sein Gesicht hart wirken. Sein Körper ist nicht mehr schlaksig, sondern schwer und muskulös. Hat ihn der Kummer so schnell erwachsen werden lassen? Diego fängt zu zittern an. Die Vergangenheit, die bisher nur stückweise in ihm hochgekommen war, stürmt jetzt von allen Seiten auf ihn ein.
Seit Alex aufgetaucht ist, liegt eine neue Spannung in der Luft. Sie kann sich jederzeit entladen.
Plötzlich blickt ihm Alex direkt ins Gesicht. Er mustert Diego, schüttelt mehrmals den Kopf.
»Du hättest niemals hierherkommen dürfen«, verkündet er nur scheinbar ruhig.
»Ich bedauere zutiefst, was geschehen ist«, antwortet Diego. »Es tut mir unendlich leid. Um euch das zu sagen – deinen Eltern, deiner Schwester und dir –, bin ich gekommen.«
Alex schüttelt wieder den Kopf, lacht dann auf. Es klingt gekünstelt und falsch.
»Du bedauerst, was geschehen ist? Es tut dir leid, ja? Dafür ist es zu spät. Davon hat niemand was. Das macht die Fehler, die du begangen hast, nicht ungeschehen. Tote werden davon nicht wieder lebendig.«
Die Typen hinter ihm johlen zustimmend.
»Wir hätten damals nicht mit dem Auto zurückfahren dürfen.«
»Wir?«, fragt Alex schneidend zurück. »Du warst der Fahrer!«
»Ja, das stimmt. Ich war der Fahrer. Ich will mich da auch gar nicht rausreden. Ich sage nur, dass wir alle nicht mehr ganz zurechnungsfähig waren und dass keiner von uns Stopp gesagt hat.«
»Lass dich von ihm nicht einwickeln, Alex!«, ruft einer von hinten.
Diego schaut Alex an, der mit keiner Wimper zuckt. Dann blickt er zu dem Typ, der das gerade gerufen hat.
»Los!«, ruft der. »Machen wir ihn fertig! Schluss mit dem Arschloch!«
Zustimmendes Gemurmel der Gruppe.
Diego richtet sich kerzengerade auf. Blitzartig sieht er die Meldung vor sich, die bald an alle User der App Guilty verschickt werden wird:
Diego ABRIO
Grob fahrlässige Tötung
22 Jahre
Urteilsvollstreckung im Zeichen der Volksjustiz heute um 21.07 Uhr
Panik erfasst ihn. Aber das dürfen die anderen nicht merken. Nacheinander schaut er jedem Einzelnen in die Augen. Alex braucht nur ein Zeichen zu geben, dann prügeln sie hemmungslos auf ihn ein. Mit dem reinen Gewissen derer, die davon überzeugt sind, zu den Guten zu gehören.
Diego beschließt, sich ganz auf Alex zu konzentrieren. Alle anderen auszublenden. Er muss versuchen, Alex weiter alles zu erläutern. Ihm zu erklären, wie es damals war. Um ihn wirklich umzustimmen oder nur um etwas Zeit zu gewinnen? Er weiß es nicht. Hat keine andere Waffe als seine Worte. Wie ein Fels steht Alex vor ihm.
»Erinnerst du dich an Jules?«, fragt der.
Diego wird von der Frage kalt erwischt und stammelt ein ungelenkes »Ja«.
»Fünf Wochen im Koma, sagt dir das was?«
Alex’ Stimme ist voller Verachtung.
»Na gut, er hat’s überlebt. Er ist wieder aufgewacht«, fährt er fort. »Darüber könnten wir jetzt alle froh sein. Bloß dumm, dass Jules das anders sieht. Er hat sich so für seine Sprachstörungen und seine Probleme beim Gehen geschämt, dass er lieber mit mir Schluss gemacht hat. Wollte kein Klotz am Bein für mich sein. Er weigert sich strikt, sich von mir helfen zu lassen. Er hat sich total zurückgezogen, will niemand von uns mehr sehen. Manchmal erfahre ich was von seiner Mutter.«
Diego stochert verzweifelt im Alkoholdunst, der seine Erinnerungen an die Party und den Unfall vernebelt. Er würde sich gerne an irgendeine besondere Kleinigkeit erinnern. Nichts, was seine eigene Schuld mindern würde, das nicht. Aber irgendetwas, das ihn hier vor Monas Bruder menschlicher und mitfühlender wirken lässt.
»Ich denke jeden Tag an den Unfall. Ich habe deine Schwester geliebt. Ich liebe sie immer noch.«
»Du hast nicht das Recht, so von ihr zu sprechen!«, ruft Alex. »Mona ist tot! Du hast sie umgebracht!«
Die Heftigkeit seiner Reaktion verunsichert Diego.
»Ich liebe sie immer noch«, murmelt er. »Ich darf auch an sie denken.« Er sagt es mehr zu sich selbst als zu Alex. Aber laut genug, dass der es hören kann.
Alex reagiert sofort. Sein Blick wird noch härter. Er macht mit ausgestreckter Hand einen Schritt nach vorn, um Diego am Handgelenk zu packen. Diego weicht unmerklich zurück, will nicht durch eine unbedachte Geste den Angriff provozieren.
Doch der ist sowieso nicht mehr aufzuhalten. Denn Alex stürzt sich noch in derselben Sekunde auf ihn und die anderen machen es ihm nach. Kurz darauf hält er Diego im Klammergriff vor sich, den Arm so fest um seinen Hals gepresst, dass Diego kaum Luft bekommt. Alex dreht sich mit ihm nach allen Seiten, um seiner Horde die Beute vorzuführen.
»Motherfucker!«
»Wir werden ihm die Fresse polieren!«
»Er kriegt von uns, was er verdient!«
Alex drückt Diego immer stärker die Luft ab. Diego hat das Gefühl, dass ihm gleich der Kopf explodiert. Mit dem Rest an Denkfähigkeit, der ihm noch geblieben ist, ballt er seine Fäuste, spannt die Muskeln seiner herabhängenden Arme an. Ein Fausthieb, vielleicht zwei, zu mehr wird er nicht in der Lage sein. Er darf nicht mehr länger zögern. Die Meute wartet nur auf ein Zeichen ihres Anführers, um sich auf ihn zu stürzen. Danach hat er keine Chance mehr.
»Er muss so leiden, wie er uns hat leiden lassen!«, ruft eine weibliche Stimme.
Diego kann nur die Beine des Mädchens sehen und ihre Springerstiefel. Mit einem Fuß hämmert sie nervös auf den Boden.
Spucke landet in seinem Gesicht. Hat sie ihn angespuckt oder jemand anders? Auch egal. Er würde gerne Vic um Hilfe rufen, sich an sie wenden – die Einzige, die versucht hat, seine Not zu verstehen, wie schwer das Schuldgefühl auf ihm lastet. Aber er kann sich nicht rühren, bringt kein einziges Wort heraus. Ist sie noch da? Er kann nichts tun, spürt in sich keine Energie mehr. Er ist allein, von allen verlassen. Das ist sein Ende. Er weiß es. Willenlos nimmt er es hin. Die Hitze, die von der Meute um ihn herum aufsteigt, ihr scharfer, beißender Geruch werden ihn ersticken. Viel mehr braucht es gar nicht.
Ein erster Fausthieb landet in seinem Gesicht, ein Schlag auf den Schädel, dann ein Stoß ans Schienbein. Die Party beginnt, denkt er. Noch ein Fausthieb ins Gesicht. Blut läuft ihm in den Mund, das Nasenbein muss gebrochen sein.
Sein Blut.
»Nicht hier!«, brüllt Vic.
Die entfesselte Meute erstarrt.
»Hier könnt ihr das nicht machen«, ruft sie. »Bei uns im Haus ist der Tod schon viel zu gegenwärtig! Alex, bitte!«
Ihr Bruder lockert den Klammergriff um Diegos Hals. Diego schnappt nach Luft, beugt sich vor, hustet, richtet sich wieder auf. Mit der Hand fährt er über seine Nase, aus der weiter Blut fließt. Um ihn herum stehen alle wie versteinert da. Auf der Straße drängen sich ein paar Schaulustige.
»Los!«, befiehlt ihm Alex und stößt ihn von sich weg. »Vorwärts!«
Diego gehorcht.
Hinter sich hört er Alex mit der Gruppe diskutieren, an welchem Ort sie ihr Werk fortsetzen wollen. Mitten auf der Straße? Im Park nebenan? Vielleicht sogar an der Stelle, an der der Autounfall passiert ist?
Sie sind ungefähr zwanzig Meter durch den Garten gegangen. Hinter ihm fangen Alex und seine Kumpels zu streiten an. Da nutzt Vic einen unbeobachteten Moment und nähert sich Diego.
»Geh nach dem Gartentürchen nicht steil runter zum Industriegebiet, sondern schräg links zum Bach. Dann weiter bis zur Brücke. Versteck dich darunter!«
Dann ist sie wieder weg.