Sie hören Radio Plus, den Sender, mit dem Sie die neuesten Nachrichten miterleben können, als wären Sie vor Ort.
Heute Abend haben wir hier zu uns ins Studio eine Aktivistin gegen das Gesetz für vorzeitige Haftentlassung eingeladen. Wir wollen wissen, wie sie die gegenwärtige Situation beurteilt.
Guten Abend, Helena. Es herrscht gerade große Verwirrung darüber, wo der Haftentlassene Diego Abrio sich zurzeit befindet. In den Schlagzeilen ist zu lesen: Finte? Computerfehler? Verhaftung? Wie denken Sie darüber?
»Guten Abend! Ich verfüge nicht über mehr Informationen als Sie. Nach den letzten Angaben hält er sich im Justizpalast auf. Ein hochsymbolischer Ort, finden Sie nicht? Justiz kommt aus dem Lateinischen, iustitia bedeutet ›Gerechtigkeit‹. Wir sollten alle einmal darüber nachdenken, was das heißt: Gerechtigkeit. Dieses Verfahren der vorzeitigen Haftentlassung ist unmenschlich!«
Ich kann Ihren Argumenten folgen, Helena. Erlauben Sie mir trotzdem, an dieser Stelle den Advocatus Diaboli zu spielen und zu fragen: Denken Sie dabei auch an die Opfer?
»Ich habe höchsten Respekt vor den Opfern und ihren Familien. Aber eine solche Lynchjustiz hat nichts mit dem Mitgefühl oder der Unterstützung zu tun, die wir den Opfern schulden. Ein solches Lynchen, wie es vom Gesetz vorgesehen ist, ist nichts anderes als eine pseudolegale Form der Rache. Jeder Lynchtäter macht sich desselben Vergehens schuldig, das er verdammt. Wie kann dieselbe Gewalttat bei Privatpersonen einmal erlaubt und einmal nicht erlaubt sein? Ich bin dafür, dass die Schuldigen ihre Strafe abbüßen.«
Danke, Helena, dass Sie Ihren Standpunkt mit uns teilen. Sie sagen also, dass die Schuldigen ihre Strafe absitzen sollen. Wenn das Urteil lebenslänglich lautet – wollen Sie sie dann wirklich für den Rest ihres Lebens einsperren? Ist das nicht auch unmenschlich?
»Alle Täter werden für ihre Tat zur Verantwortung gezogen. Das sind sie – das sind wir – den Opfern und ihren Nächsten schuldig. Das soll in keinster Weise infrage gestellt werden. Aber die Haftstrafe im Gefängnis muss mehr als nur eine Strafe sein. Es muss für jeden Inhaftierten die Hoffnung auf eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft geben. Auf ein Leben danach. Menschen können sich ändern.«
»Helena, aus all dem entnehmen wir, dass Sie gegen das Gesetz und das Verfahren der vorzeitigen Haftentlassung sind …«
»Ja, absolut. Dieses Gesetz befriedigt die niedersten Instinkte, es setzt auf Ängste und spielt mit Gefühlen. Gerechtigkeit aber verlangt Ruhe und Gelassenheit. Etwas zu verstehen, setzt voraus, einen Schritt zurückzutreten und die Dinge aus einer gewissen Distanz zu betrachten. Man kann das Schicksal eines Menschen nicht einer Menge anvertrauen, die über die Hintergründe des Falls gar nicht Bescheid weiß und sich ganz von Gefühlen beherrschen lässt. Es müssen auch Vernunft und Verstand eingeschaltet werden.«
Danke, Helena. Was Sie vorgetragen haben, hat vielleicht manche aus unserem Publikum überzeugt.
Sie hören Radio Plus – immer am Puls der Zeit. Schalten Sie uns ein, wenn Sie mehr darüber wissen wollen, was sich hinter der überraschenden Ortung des Haftentlassenen Diego Abrio im Innern des Justizpalastes verbirgt. Finte? Computerfehler? Verhaftung? Wir werden es bald herausfinden!
Bleiben Sie am Apparat! Wir treffen uns in wenigen Minuten nach der Werbung wieder, um Sie über die neuesten Entwicklungen zu informieren!