Ich heiße Patty. Ich bin neunzehn Jahre alt.
Mein Leben hat sich an einem Januartag von einem Moment auf den anderen radikal verändert. Es war schönes, klares Wetter. Ungefähr vier Uhr nachmittags. Die Sonne stand bereits tief, die eine Hälfte der Straße lag schon im Schatten, und eisige Kälte begann sich über alles zu legen. Keine Ahnung, warum sich in mein Gedächtnis so viele Einzelheiten eingegraben haben.
Die Straße mit ihren breiten Bürgersteigen erstreckte sich endlos lang. Die aufgereihten Bäume mit ihren kahlen Ästen bildeten einen stummen Trauerzug.
Iris wollte unbedingt die Zeitschrift haben, in der ein Artikel über ihre Lieblingsband stand, und schickte mich in den Laden rein, um sie ihr zu kaufen. Sie wartete lieber draußen auf mich. Ihren Rollstuhl hatte ich so geparkt, dass ihr die letzten Sonnenstrahlen ins Gesicht schienen. Ich wollte nicht, dass sie sich erkältete. Schnell die Bremsen reingeschoben und dann ab ins Geschäft. Die Zeitschrift sprang mir zwischen den vielen anderen in der Auslage sofort ins Auge. Iris hatte mir das Cover haargenau beschrieben. Durchs Fenster habe ich ihr mit dem Exemplar in der Hand zugewunken, sie hat gelächelt, danach habe ich mich an der Kasse angestellt.
Plötzlich starrte die Verkäuferin auf etwas, das hinter meinem Rücken auf der Straße geschah. Der Mund blieb ihr offen stehen. Wie die beiden anderen Frauen vor mir in der Schlange drehte ich mich um. Nie werde ich vergessen, wie sich in diesem Augenblick das Rad in der Luft drehte … das Rad eines umgestoßenen Rollstuhls, das sich leer, lächerlich und sinnlos weiterdrehte.
Die Zeitschrift fiel mir aus der Hand. Ich stürzte nach draußen. Iris lag bewusstlos auf dem Boden. Aus ihrem Mund floss ein dünnes Rinnsal Blut. Ich bat einen der Passanten, mit mir den Rollstuhl wieder aufzurichten, damit ich sie hineinsetzen konnte. Aber jemand sagte zu mir, man dürfe keinesfalls ihre Lage verändern, das sei gefährlich, er habe einen Krankenwagen gerufen, die würden sich gleich darum kümmern.
Ich kauerte mich neben Iris, streichelte ihr die Wange und bat sie, die Augen aufzumachen. Bitte mach die Augen auf! Schau mich an! Ich habe mit ihr geredet. Ich habe gar nicht mehr aufgehört zu reden. Ich habe ihr alles erzählt, was mir durch den Kopf ging. Sogar Geschichten habe ich für sie erfunden. Um uns herum hatte sich eine kleine Menschenmenge gebildet. Alle redeten durcheinander. Erzählten, was sie von der Tat mitbekommen hatten. Oder einfach, was sie gerade unbedingt loswerden mussten. Manche hatten beobachtet, wie es passiert war. Andere berichteten, in welche Richtung der Täter davongerannt war. Wieder andere klagten über die zunehmende Gewalttätigkeit in unserer Gesellschaft. Wegen nichts.
Wegen nichts? Nicht ganz. Später kam heraus, dass der Täter ihr das Handy klauen wollte. Das alles wegen einem Handy.
Ich hörte die Sirene des Krankenwagens. Hatte das Gefühl, dass es eine Ewigkeit dauerte, bis sie kamen. Dann waren sie da. Die Menge der Schaulustigen zerstreute sich. Ein Arzt beugte sich über meine Schwester, horchte sie ab, rief einen der Sanitäter herbei. Ich weiß nicht mehr, was er zu ihm sagte, nur dass seine Stimme ernst klang. Dringlich. Ununterbrochen machten sie irgendwelche Tests mit Iris. Ich musste dauernd die Blutflecken auf ihrem rosa Anorak anstarren, ihrem Lieblingsanorak. Schließlich haben sie meine Schwester vorsichtig auf eine Bahre gehoben und in den Krankenwagen geschoben. Ein Sanitäter fragte mich nach ihrem Namen und Vornamen, nach unserer Adresse. Er trug mir auf, unsere Eltern zu benachrichtigen, und teilte mir mit, in welches Krankenhaus sie Iris brachten. Und dann stand ich allein da und schaute dem Krankenwagen nach. Der Rollstuhl meiner kleinen Schwester lag immer noch umgekippt auf dem Bürgersteig. In meiner Erinnerung dreht sich das Rad immer noch.
Iris lag drei Tage im Koma. Wir haben uns an ihrem Bett abgewechselt. Am dritten Tag verschlechterte sich plötzlich ihr Zustand. Mitten in der Nacht ist sie gestorben. Meine Mutter war bei ihr.
Ich war damals sechzehn. Iris zwölf.
Sie war nicht mehr ganz in den Mädchenkokon eingesponnen, aber auch noch kein Schmetterling.
Es fehlen noch knapp eine Million Klicks. Dann wird der Täter vorzeitig aus der Haft entlassen.