Freitag, 01.37 Uhr
Das Auto fährt eine steile Rampe hinunter, die in eine Tiefgarage führt. Hinter ihnen schließt sich ratternd ein Tor. Diego hat während der Fahrt keine einzige Frage gestellt. Tränen laufen ihm übers Gesicht, unter der Augenbinde hervor, die ihm einer der Männer kurz nach dem Einstieg ins Auto umgelegt hat. Seine drei Begleiter haben seither geschwiegen. Mit großer Geste hatte Vic ihm nachgewunken, als sie vom Parkplatz der Lagerhalle losgefahren waren. Ihr Gesicht und Monas beginnen, einander zu überblenden.
Das Auto hält an. Kurz darauf wird die Tür von außen geöffnet.
»Du kannst jetzt deine Augenbinde abnehmen«, sagt der Mann neben Diego.
Helena ist da, lächelt Diego an.
»Du hast die richtige Entscheidung getroffen.«
Diego antwortet nicht. Er hat nicht das Gefühl, wirklich eine Wahl gehabt zu haben … Helena zeigt auf eine Tür. Geht voran. Sie marschieren einen Gang entlang, betreten ein Büro. Sie macht ein Zeichen, dass er sich hinsetzen soll, und nimmt gegenüber Platz, hinter einem kleinen Schreibtisch aus hellem Holz.
»Deine Haftbedingungen werden dieselben sein wie in einem herkömmlichen Gefängnis … bis auf die Regelung zur vorzeitigen Haftentlassung. Dir muss natürlich bewusst sein, dass es sich bei unserer Einrichtung um ein geheimes Gefängnis handelt. Wir alle, die wir hier arbeiten, sind Mitglieder der Partisanen für mehr Rechtsgerechtigkeit und teilen die Überzeugung, dass das Gesetz zur vorzeitigen Haftentlassung ethisch nicht zu rechtfertigen ist und einen Irrweg unseres Justizsystems darstellt. Ein Verurteilter muss seine gerechte Strafe in einem Gefängnis absitzen und damit seine Schuld gegenüber der Gesellschaft abbüßen können. Dir bleiben laut Gerichtsurteil noch zwölf Jahre. Du wirst sie hier verbringen. Aber wir sind auch der Überzeugung, dass dem Gefangenen ein Leben danach ermöglicht werden soll. Darauf wollen wir dich vorbereiten. Du sollst danach einen Platz in der Gesellschaft finden. Damit sich nicht wiederholt, weshalb du im Gefängnis gelandet bist – niemals. Zu unserer aller Sicherheit. Ich setze dich hiermit noch einmal davon in Kenntnis, dass dieses Gefängnis außerhalb der Legalität existiert. Die Verbüßung deiner Strafe bei uns wird von der staatlichen Justiz nicht anerkannt. Für sie bist du untergetaucht und wirst für immer ein entflohener Häftling bleiben. Auch nach Begleichung deiner Haftstrafe wirst du von ihnen immer noch steckbrieflich gesucht werden. Das bedeutet, dass zu unseren Bemühungen um gesellschaftliche Wiedereingliederung nach Ende der Haftzeit auch gehört, dir eine neue Identität zu verschaffen. Wir werden chirurgische Eingriffe vornehmen, um deine Gesichtszüge zu verändern. Bist du immer noch einverstanden?«
Diego nickt stumm. Helena öffnet eine Schublade und zieht ein Formular heraus, das sie vor ihn hinlegt. Zusammen mit einem Kugelschreiber.
»Lies das durch und unterschreib rechts unten.«
Diego liest das Dokument nicht durch. Er unterschreibt hastig und lässt sich in seinem Stuhl nach hinten fallen. Er kann nicht mehr nachdenken. Sein Kopf ist leer, sein Gehirn fühlt sich taub an.
Zwei Männer betreten das Büro.
»Wir werden dir jetzt deine elektronische Fußfessel abnehmen. Danach gibt es für dich kein Zurück mehr.«
Diego zieht fragend die Augenbrauen hoch.
Helena versteht sofort, was ihn beschäftigt, und sagt: »Dieses Zimmer ist absolut sicher. Es dringen keine Signale nach draußen.«
Während die zwei Männer sich an der Fußfessel zu schaffen machen, schaltet sie einen Computer ein, dreht den Bildschirm zu Diego.
Die Männer benutzen eine Art Pinzette, die an ein Notebook angeschlossen ist. Einer von ihnen tippt immer wieder Befehle ein und nach ein paar Minuten springt die Fußfessel auf. Auf dem Bildschirm vor Diego ist noch in derselben Sekunde eine Meldung zu lesen:
Diego ABRIO
Grob fahrlässige Tötung
22 Jahre
Urteilsvollstreckung im Zeichen der Volksjustiz heute um 1.43 Uhr
Diego stockt der Atem. Er denkt an Mona. Dann an Eva Alcid, die nicht so viel Glück hatte wie er.
»Geschafft«, verkündet Helena. »Von nun an führst du ein Leben im Untergrund. Aber ab jetzt beginnt auch dein neues Leben, die Erfindung deiner neuen Identität und deine Wiedereingliederung, parallel zur Haft.«
Diego begreift noch nicht, was damit wirklich gemeint ist. Dafür ist es noch viel zu früh. Er kann nicht mehr, will nur noch schlafen, die Augen schließen. Alles vergessen, und sei es auch nur kurz, was in seinem Leben und in den letzten Stunden passiert ist. Helena steht auf und macht ein Zeichen, dass er ihr in das Zimmer nebenan folgen soll. Dort bittet sie ihn, seine Taschen zu leeren und seine Schuhe auszuziehen. Er fängt mit den Schuhen an, stellt sie auf dem Tisch ab. Aus seiner Tasche zieht er den roten Seidenschal.
»Darf ich den behalten? Er ist mein einziges Erinnerungsstück von Mona.«
»Nein, das ist nicht erlaubt. Das ist zu gefährlich … falls du es eines Tages doch bereust.«
Obwohl Diego weiß, dass der Schal nicht mehr nach Mona duftet, hält er ihn unter die Nase und atmet tief ein. Er stellt sich Mona an ihrem Lieblingsort vor. Wie sie auf die Ebene hinausschaut. Wünscht sich, dass sie ihm lachend zuwinkt. Aber es klappt nicht.
Er legt den roten Seidenschal neben seine Turnschuhe.
Helena reicht ihm ein Paar Plastiklatschen.
»Du wirst in einer Doppelzelle untergebracht«, teilt sie ihm mit, während sie die Liste mit allen Gegenständen überfliegt, die er ihr übergeben hat.
Diego ist erleichtert. Aber er zeigt es nicht. Er war noch nie ein Einzelgänger. War immer mit seiner Clique unterwegs … früher. Auch im Gefängnis war er nie allein gewesen. Einsamkeit macht ihm Angst.
»Ich weiß nicht, ob das erlaubt ist«, sagt er zu Helena. »Aber ich hätte gerne, dass du Elliot und Lya benachrichtigst. Ihnen verdanke ich, dass ich hier bin.«
Helena antwortet nicht. Geht zur Tür. Er folgt ihr ins Treppenhaus. Zwei Männer schließen sich ihnen an. Zwei Stockwerke tiefer wird erst eine Tür für sie geöffnet und dann wieder verschlossen, danach eine zweite. Dahinter liegt ein Gang mit mehreren Metalltüren. Jede ist mit einem Guckloch versehen. Helena macht einem der beiden Männer ein Zeichen, dass er herkommen soll.
»Hier ist es. Dein Mithäftling in der Zelle wird dir die Verhaltensregeln erklären. Wenn du Fragen hast, kannst du sie morgen deinem Betreuer stellen. Er wird dich während deiner gesamten Haftzeit begleiten. Aber das erfährst du alles morgen.«
Der Mann tippt einen Code ein, um die Zellentür zu entriegeln. Dann öffnet er sie.
»Gute Nacht«, sagt Helena.
Die Metalltür schließt sich hinter ihm. Im Dämmerlicht der Zelle braucht Diego eine Sekunde, bis er die Gestalt des Menschen ausmacht, mit dem er von nun an sein Leben teilen wird. Er sitzt aufrecht auf einem Hocker, hat die Arme auf den Schenkeln abgelegt. Wirkt in sich zusammengesunken. Seine grauen Haare fangen das schwache Licht in der Zelle ein. Der Mann steht auf und hält ihm die Faust hin. Kurzer cooler Check. Sie begrüßen sich wie zwei alte Kumpels.
»Ich heiße Jimmy.«
»Ich bin Diego.«
»Warum bist du hier?«
Die Frage klingt weder neugierig noch aufdringlich. Hört sich nach einer Einladung an.
Diego setzt sich auf die Bettkante, dem Mann gegenüber. Holt tief Luft.
»Ihr Name war Mona …«