Mittwoch, 20.17 Uhr
Diego hört, wie ein Schlüssel im Schloss umgedreht wird, dann geht die Tür auf. Ein Mädchen steht vor ihm, sieht ihn, erstarrt. Es dauert einen Moment, bis er erkennt, dass es sich um Monas jüngere Schwester handelt. Vic. In den drei Jahren hat sie sich sehr verändert. Sie ist jetzt kein Kind mehr. Tränen schießen ihr in die Augen. Sie haben dieselbe Farbe wie Monas Augen.
»Wer ist es?«, ruft ihre Mutter aus der Küche.
Vic öffnet den Mund, bringt aber keinen Ton heraus.
»Darf ich reinkommen? Ich würde gerne mit deinen Eltern reden.«
Vic bringt immer noch keinen Ton heraus.
»Vic?«, fragt die Mutter. Aus ihrer Stimme ist Misstrauen herauszuhören.
Monas Schwester tritt zur Seite, um ihn ins Haus zu lassen. Diego zögert. Am liebsten würde er davonrennen. Er weiß, dass die Begegnung schwierig sein wird, schmerzhaft, schwer erträglich. Vielleicht unerträglich. Für ihn wie für Monas Familie. Die Sätze, die er sich so oft wiederholt hat, haben sich in nichts aufgelöst.
Er macht einen Schritt nach vorne. Vom riesigen Fernsehbildschirm, den er durch die halb offene Tür ins Wohnzimmer sehen kann, blickt ihm sein eigenes Gesicht entgegen. Haftentlassener Abrio sorgt für Massenschlägerei. Bilanz: Zwölf Verletzte, darunter drei Schwerverletzte, lauten dazu die Schlagzeilen. Die unscharfen Bilder einer Überwachungskamera werden eingeblendet. Der fünfeckige Platz in der U-Bahn-Station ist zu erkennen, die aufgebrachte Menschenmenge, das Eintreffen der Polizei. Vic blickt zwischen ihm und dem Fernsehbildschirm hin und her. Diego würde ihr gerne alles erklären. Aber es würde nichts ändern.
Plötzlich taucht die Mutter auf. Sie hält einen Holzlöffel in der Hand. Hat eine Küchenschürze umgebunden, die für Biohühner mit Freilandhaltung wirbt.
»Was willst du hier?«
Monas Mutter hat ein hageres, ausgezehrtes Gesicht bekommen, wirkt vorzeitig gealtert. Eine so strenge Miene hatte sie früher nie. Ihre Augen sind verschattet. Wäre Diego ihr auf der Straße begegnet, hätte er sie nicht erkannt. Noch bevor er antworten kann, ruft sie nach ihrem Mann.
»Martin, komm schnell! Er ist da!«
Sie ruft es in einem scharfen Tonfall. Ihr Mund verzerrt sich dabei zu einer Grimasse, aus der Wut spricht. Trauer kann er darin weniger erkennen.
»Ich … ich möchte gern mit Ihnen reden.«
Als Diego in einem Silberrahmen ein Foto von Mona entdeckt, fängt er zu zittern an. Eine Vase mit einem frischen Blumenstrauß steht davor. Eine Kerze ist angezündet. Er kann sich kaum noch auf den Beinen halten, so sehr überwältigen ihn seine Gefühle. Diego nimmt kaum wahr, wie Vic hinter ihm die Haustür schließt. Unterdrückt mühsam seine Tränen. Er darf jetzt vor Monas Eltern nicht in Tränen ausbrechen. Er muss mit ihnen reden.
»Verschwinde! Ich muss mir nicht anhören, was du zu sagen hast. Ich will nichts mit dir zu tun haben. Raus! Du hast hier nichts zu suchen!«
Monas Mutter hat die Sätze schnell hervorgestoßen, ihre Stimme ist zum Schluss hin immer lauter und schriller geworden.
Ihr Mann fasst sie am Arm. Mit einer Schulterbewegung reißt sie sich los.
»Ich weiß, was Sie durchgemacht haben«, sagt Diego.
Aber er bewirkt damit genau das Gegenteil dessen, was er beabsichtigt hat. Seine Worte lassen eine Wut hervorbrechen, die drei Jahre lang auf diesen Moment gewartet hat.
»Du wagst es, zu uns zu kommen? Und uns zu sagen, dass du weißt, was wir durchgemacht haben? Du hast uns unsere Tochter genommen! Ich habe sie neun Monate lang in meinem Bauch getragen. Ich habe sie gestillt. Ich war für sie da, wenn sie Fieber hatte, wenn sie nachts Angst hatte, wenn sie am Leben verzweifelte. Mona war ein Teil von mir. Fleisch von meinem Fleisch. Ich hätte mein Leben gegeben, damit ihr nichts Schlimmes passiert. Und du, dem ich blind vertraut habe, du warst nicht in der Lage, sie zu beschützen. Noch viel schlimmer, du hast sie umgebracht!«
Sie macht einen Schritt auf Diego zu und ohrfeigt ihn, so heftig, dass er Ohrensausen davon bekommt. Die erste Ohrfeige trifft seine linke Wange, die zweite seine rechte. Dann lässt sie die Hände sinken. Diego wäre es lieber, sie würde weitermachen, nie mehr damit aufhören, ihn so lange ohrfeigen, wie es notwendig ist, um ihn von seinem Schmerz und Selbsthass zu erlösen. Das ist der Preis, den er bezahlen muss. Nur so kann er hoffen, sich daraus zu befreien. Als nichts mehr passiert, öffnet er die Augen.
Monas Mutter hat den Kopf gesenkt. Dann hebt sie ihn und schaut Diego an.
»Meine Tochter musste sterben, weil sie dich kennengelernt hat. Kapierst du das? Sie ist tot, und du, du hast sie umgebracht. Das werde ich dir niemals verzeihen. Niemals. Niemals.«
Ihre Stimme klingt kalt und schneidend.
Er hätte nicht kommen sollen. Nicht dass er damit gerechnet hätte, mit offenen Armen empfangen zu werden. Das nicht. Aber er hatte gehofft, ihnen sein tiefstes Bedauern ausdrücken zu können. Sie vielleicht um Verzeihung bitten zu können. Vielleicht würden sie seine Bitte ja sogar erhören. Oder ihm zumindest einen Weg eröffnen, wie er eines Tages ihre Verzeihung erlangen könnte. Stattdessen hat er das Gefühl, nur ihre Wunden wieder aufgerissen, ja Salz hineingestreut zu haben.
Vic ist Zeugin der Szene zwischen Diego und ihrer Mutter. Sie wirkt erschrocken. Diego dreht sich zu ihr, aber ihre Mutter schiebt sich zwischen sie beide.
»Geh jetzt! Lass wenigstens meine zweite Tochter in Ruhe«, befiehlt sie ihm mit strenger Stimme. »Ich habe dich in meiner Familie willkommen geheißen, aber du hast mein Vertrauen missbraucht.«
In Diego dreht sich alles. Nie wird er sich aus diesem Albtraum befreien können, genauso wenig wie Monas Familie.
»Ich habe sie geliebt. Es tut mir unendlich leid. Sie fehlt mir so sehr.«
Er schaut das Foto an. Er würde so gern die Zeit zurückdrehen. Alles ungeschehen machen. Er muss weinen. Das Foto ist im Garten aufgenommen worden. Er erkennt Monas Kleid wieder. Und vielleicht, wenn es ihm gelingt, sich richtig darauf zu konzentrieren, kann er sogar ihr Parfüm riechen.
»Hör auf, uns zu quälen. Wir haben wegen dir schon genug gelitten. Geh! Ich will dich nie mehr wiedersehen!«
In den Augen von Monas Mutter ist er ein Monster und wird es für immer bleiben.
Ein Sturm fegt durch Diegos Gehirn und lässt eine große Leere zurück. Erstarrt bleibt er stehen, unfähig, sich zu rühren. Da hebt sie die Hand, will ihn wieder ohrfeigen. Diesmal mischt ihr Mann sich ein. Er hält sie davon ab und nimmt sie in die Arme. Monas Mutter bricht in Tränen aus. Diego macht ein paar Schritte rückwärts, tastet mit der Hand nach der Klinke der Haustür. Sie hebt den Kopf und blickt über die Schulter ihres Mannes. Ihr Gesicht ist von einem unbeschreiblichen Kummer verwüstet. Voller Hass starrt sie ihn an.
»Wenn du nicht sofort verschwindest, schreibe ich eine Nachricht an alle, die nach dir suchen. Sie werden schon wissen, was mit dir zu machen ist.«