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Donnerstag, 19.14 Uhr

Diego klettert auf den Rücksitz des Rollers und setzt den Helm auf.

»Schnell! Fort von hier!«, ruft er Vic zu.

Aus der Tiefgarage rasen zwei Polizeiwagen auf die Straße, mit heulenden Sirenen. Ihre Blaulichter tauchen die Häuser in ein unwirkliches, flackerndes Licht. Weiter links entdeckt Diego vor dem Justizpalast eine Menschenansammlung. Schaulustige? Enttäuschte Lynchjägerinnen? Es ist ihm egal. Wichtig ist, dass er jetzt mit Vic so schnell wie möglich von hier wegkommt. Je größer die Entfernung zwischen ihnen und ihm, desto besser. Auch wenn sein Plan nicht ganz so funktioniert hat wie gewünscht, ist es gerade nicht schlecht für ihn ausgegangen. Da war Improvisation gefragt. Jedenfalls ist er seinen Verfolgern wieder entkommen. Eigentlich hatte er pünktlich um 19 Uhr ins Büro der Richterin einbrechen wollen, um von dort seine Standortdaten übermitteln zu lassen. Danach hätte er sich blitzschnell aus dem Staub gemacht. Gleichzeitig hätte er auf Social Media verbreitet, dass er Schutz durch die Richterin verlange und so lange in ihrem Büro bleiben werde, bis sie zu einem persönlichen Gespräch mit ihm bereit sei. Dadurch hätten sich sicherlich viele täuschen lassen. Doch die Wachleute hatten ihn überrascht. Es war wirklich kritisch für ihn geworden. Ohne sicher zu sein, dass man ihn einfach wieder vor die Tür setzen würde, hat er seinen Plan leicht abgeändert. Und es hat funktioniert. Die allgemeine Verwirrung wird ihm jetzt erlauben, etwas durchzuschnaufen, bevor er einen neuen Plan fasst.

Während sie durch die Straßen fahren, lässt Diegos Angst allmählich nach, und es gelingt ihm, ruhiger und regelmäßiger zu atmen. Am Himmel ziehen Wolken auf. Es fängt zu dämmern an. Sobald sie angehalten haben, wird er die Guilty-App checken. Und anfangen, darüber nachzudenken, wie er am nächsten Abend seine Verfolger täuschen kann. Er ist bereits dabei, mehrere Möglichkeiten auszuarbeiten. Da legt Vic ihm kurz die Hand aufs Knie. Er zuckt innerlich zusammen. Sein Körper verkrampft sich. Vielleicht braucht sie diese Berührung ja nur, um ihre Anspannung abzubauen. Oder vielleicht will sie ihm mitteilen, wie erleichtert sie ist.

Plötzlich drückt ihn ein riesengroßes Gewicht nieder. Er bekommt kaum mehr Luft.

Diego blickt um sich. Sie hatten vorher keine Zeit, über das Ziel ihrer Flucht zu sprechen. Ohne dass er es gemerkt hat, ist Vic mit ihm in das Industriegebiet in der Nähe des Wohnviertels ihrer Eltern gefahren.

»Hier sucht dich jetzt keiner«, sagt sie, nachdem sie den Motor abgestellt hat. »Die Lagerhallen sind alle geschlossen und Lieferwagen rollen erst morgen früh wieder an.«

Er hilft ihr dabei, den Roller in eine verlassene Lagerhalle zu schieben. Ihre Geräusche hallen unter dem hohen Metalldach wider. Auf dem Boden liegen Trümmer. Sie verstecken den Roller hinter kaputten Regalen.

»Perfekt«, sagt sie und dreht sich zu ihm.

Er versucht, ihren Blick zu deuten. Befürchtet, dass ihre Hand wieder irgendwo seinen Körper berühren will. Nichts.

»Komm mit«, sagt sie.

Vic geht mit ihm zu den alten Büroräumen. Die Wände sind über und über mit Graffitis besprüht. Sie will wissen, wie es im Justizpalast gelaufen ist. Will Einzelheiten erfahren. Er behauptet, alles sei gelaufen wie geplant.

Vic checkt ihr Handy. Sie grinst.

»Was ist?«, fragt er.

Als Antwort hält sie ihm das Handy hin.

Eilmeldung

Finte? Computerfehler? Überraschende Verhaftung? Die Daten der elektronischen Fußfessel des Haftentlassenen Diego Abrio, heute Abend pünktlich um 19 Uhr übermittelt, geben als Standort das Innere des Justizpalastes an – offenbar genau den Raum, in dem Abrio vor zwei Tagen die Fußfessel angelegt wurde, kurz nach Verkündung seiner Entlassung.

»Da sind sie jetzt erst mal beschäftigt«, sagt sie.

Sie wissen alle beide, dass die Ruhepause nur kurz sein wird. In weniger als dreiundzwanzig Stunden wird die elektronische Fußfessel wieder Diegos Standort durchgeben. Und in der Zwischenzeit werden die Verfolger sich noch besser organisiert haben. Und werden wahrscheinlich noch zahlreicher sein. Bestimmt zieht die ungewöhnliche Jagd noch mehr Leute an als sonst. Die Spannung bei so vielen Hindernissen und das Adrenalin sind da noch höher.

Eine unendliche Müdigkeit erfasst Diego. Er möchte sich nur noch hinlegen und schlafen. Plötzlich schreckt ein Geräusch ihn auf.

»Mein Vater«, verkündet Vic.