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Dienstag, 17.53 Uhr

Diego kauert reglos zwischen den Baumstämmen. Seine Muskeln tun ihm allmählich weh, aber er traut sich nicht, sich zu bewegen. Stundenlang hat er die Insekten auf dem Waldboden beobachtet, hat sogar eine Hirschkuh gesehen, die plötzlich weiter hinten zwischen den Bäumen aufgetaucht und dann mit großen Sprüngen im Unterholz verschwunden ist. Er hofft, dass die Arbeiter im Sägewerk um sechs Uhr Feierabend machen und dann so schnell wie möglich mit ihren Autos verschwinden. Im Moment bleibt ihm nichts anderes übrig, als weiter in seinem Versteck zu verharren, zu warten und kein Geräusch zu machen.

Er schickt Elliot noch einmal eine Nachricht mit den GPS-Koordinaten seines Standorts und erinnert ihn an die Uhrzeit.

Pünktlich um sieben Uhr. Sehr wichtig!

Er hofft, dass die Übermittlung seiner Vitalwerte und seiner Position tatsächlich zum vorgesehenen Zeitpunkt erfolgt und dass die verdammte elektronische Fußfessel ihm keinen Streich spielt. Nicht zu früh meldet, wo er sich aufhält. Oder viel zu spät. Seine Strategie beruht darauf, dass alles nach Vorschrift funktioniert; jede Abweichung würde ihn gefährden. Im Moment kann er nur abwarten und darauf vertrauen, dass die Technik ihm dabei hilft, seinen Plan auszuführen. Dann ist er für die nächsten 24 Stunden gerettet. Wenn nicht, wartet auf ihn der sichere Tod.

Um sich die Zeit zu vertreiben, checkt er in regelmäßigen Abständen die neuen Meldungen auf Guilty. Was er sich nur deshalb erlauben kann, weil der Akku seines Handys noch fast voll ist. Die Kommentare unter seinem Profil erspart er sich. Der Hass, der ihm da entgegenschlägt, würde ihn zu sehr treffen. Würde seinen Überlebenswillen schwächen.

Diego überfliegt die Profile der Häftlinge, deren Schicksal in den Händen der Nutzer von Guilty liegt. Es sind sechs, die vielleicht bald freigelassen werden. Oder besser: ausgesetzt. Genauso wie er. Ein Button schlägt ihm vor, sich an der Wahl zu beteiligen. Nur einmal mit dem Finger antippen … das genügt, um einen kleinen Beitrag zu mehr direkter Gerechtigkeit zu leisten!

Ein Name fällt ihm besonders auf. Marc Bardys. Diegos Vater heißt auch Marc. Vielleicht ist das der Grund, weshalb er das Profil von Marc aufmerksamer durchliest. Zwanzig Jahre alt. »Verurteilt wegen Angriffs auf eine vulnerable Person.« Eine vulnerable Person. Besonders verletzlich und gefährdet. Was ist damit gemeint? Ein alter Mensch? Ein Kind? Er selbst ist in diesem Augenblick auch besonders verletzlich. Sogar fürchterlich verletzlich. Und die ihn töten, werden dafür nie zur Rechenschaft gezogen, werden dafür nie verurteilt werden. Obwohl sie sich auch schuldig machen und ein Kapitalverbrechen begehen. Einen Menschen ermorden werden. Aber man wird sie dafür nicht vor Gericht stellen. Menschenleben haben in der Gesellschaft, in der er lebt, nicht alle denselben Wert. Verbrechen ziehen nicht alle eine gerechte Strafe nach sich. Ja, er selbst, Diego, ist schuldig. Aber die Kampagne für die sogenannte Volksgerechtigkeit ist für ihn ein riesengroßer Schwindel. Es geht dabei nur darum, durch vorzeitige Haftentlassungen die überfüllten Gefängnisse zu leeren. Das alles widert ihn an. Am liebsten würde er laut aufschreien. Er kann sich gerade noch beherrschen. Um seine Wut loszuwerden, tritt er mit dem Fuß gegen einen Baumstamm, bis es ihm wehtut. Wütend ist er trotzdem noch.

Unter dem Profil von Marc Bardys zeigt ein Zähler an, wie viele Stimmen für ihn bereits abgegeben wurden: 1223647. Plötzlich taucht ein neuer Kommentar auf:

Patty

Iris war meine geliebte kleine Schwester. Sie war zwölf Jahre alt und saß im Rollstuhl. Wegen diesem Typ, der ihr das Handy klauen wollte, ist sie gestorben.

Bitte. Helft mir. Stimmt für ihn.

17:59

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Eine Fülle von Emotionen überflutet Diego. Jetzt, wo er die Geschichte von Iris erfahren hat, schämt er sich dafür, sich selbst als vulnerable Person gesehen zu haben. Er hat Mitgefühl für sie. Aber mehr noch beschäftigt ihn der Aufruf der Schwester. Nicht, dass er sie nicht verstehen könnte. Gleichzeitig muss er an Alex denken, Monas Bruder. Ob er auch einen Aufruf in den sozialen Medien gestartet hatte, um Stimmen für seine vorzeitige Entlassung zu sammeln? Diego hat das Gefühl, dass ihm gleich der Kopf platzt. Ihm wird ganz heiß. Hat Alex vielleicht …

Um zu verhindern, dass er noch weiter in diesen negativen Strudel hineingerissen wird, fixiert er eine Glasscherbe, die ein Stück vor ihm auf dem Boden liegt und in der Sonne glänzt. Er stellt sich vor, dass es sich dabei um eine Art kosmisches Augenzwinkern handelt, das ihm Hoffnung machen will. Ihm sagen will, dass eines Tages alles vorbei sein wird. Dass die Sonne dann für ihn wieder aufgehen wird. Aber das mit dem Tagträumen will nicht so recht klappen. Das Gefängnis hat alle seine Hoffnungen verschlungen. Es gab keine einzige Nacht, in der er geträumt hätte. Sobald er die Augen schloss, durchlebte er immer wieder denselben Film, die langen Sekunden, in denen das Auto sich überschlug und überschlug und überschlug, als würde es an unsichtbaren Fäden in der Luft hängen, bevor es endgültig mit dem Geräusch zerberstenden Metalls auf dem Asphalt aufprallte.

Vom Gelände des Sägewerks ist eine Sirene zu hören, die das Ende des Arbeitstages verkündet. Es ist Punkt 18 Uhr. Der Druck auf Diegos Brust verschwindet, er spürt, wie ihn hektische Betriebsamkeit erfasst. Bald wird er handeln müssen. Und er darf dabei keinen Fehler machen.

Er schaltet sein Handy aus und beobachtet, wie die Arbeiter einer nach dem anderen das Sägewerk verlassen. Roller sausen vorbei. Autos geben Gas. Er sieht erschöpfte Menschen an sich vorbeifahren, stellt sich vor, wie sie jetzt alle nur noch nach Hause wollen. Sich ausruhen wollen, noch etwas Spaß haben wollen. Zwei Männer trödeln herum und unterhalten sich auf dem Parkplatz. Er verflucht sie. Hofft, dass sie verschwinden, sobald sie ihre Zigaretten zu Ende geraucht haben. Aber sie zünden sich noch eine zweite, dann eine dritte an. Wenn er sein Versteck jetzt verlässt, riskiert er, von ihnen erkannt und verraten zu werden. Oder von ihnen selbst verfolgt. Sein Foto ist durch die Medien überall verbreitet worden. Wie soll er die Reaktionen der Menschen im Vorhinein einschätzen können? Es gibt für ihn nur eins: warten. Im Kopf geht er noch einmal jedes Detail des Plans durch, den er sich in den vergangenen Stunden ausgedacht hat. Nicht einmal oder zweimal, sondern hundertmal hat er innerlich jeden Schritt eingeübt. Er will perfekt vorbereitet sein, um – das hofft er jedenfalls – keine Zeit zu verlieren, wenn es so weit ist.

Um Viertel vor sieben geben sich die beiden Männer endlich die Hand, steigen jeder in sein Auto und fahren nach einem letzten Abschiedshupen davon. Diego klettert aus seinem Versteck, späht einen Moment lang umher und mustert aufmerksam jeden Baum, um sicher zu sein, dass nicht plötzlich jemand im Wald auftaucht.

Und dann? Verläuft alles genau nach Plan. Fast mechanisch spult Diego die Folge von Handlungen ab, die er vorher mental eingeübt hat.

Als Erstes zieht er sein T-Shirt aus und reibt damit über die Stämme, hinter denen er sich versteckt hat. Er hebt die Glasscherbe vom Boden auf, macht danach ein paar Schritte zurück ins Unterholz und presst das T-Shirt so weit oben wie möglich gegen mehrere Bäume, um die Hunde verrückt zu machen, mit denen die Jäger anrücken werden. Er drückt die Sohlen seiner Sneaker fest in die Erde, um deutliche Spuren zu hinterlassen, wälzt sich am Boden und achtet darauf, dass dabei möglichst viele Zweige und Farnblätter geknickt werden. Seine Verfolger sollen glauben, dass er mehrmals vergeblich versucht hat, auf einen Baum zu klettern, aber immer wieder runtergefallen ist. Schließlich umklammert er die Glasscherbe, holt tief Luft, beißt die Zähne zusammen und setzt sie mit der schärfsten Kante an seinem Handgelenk an. Dann fährt er mit schneller Bewegung über die Haut. Ein gezielter Schnitt. Es dauert einige Sekunden, bis die ersten Blutstropfen hervorquellen. Diego sieht zu, wie sie langsam von seinem Handgelenk auf den Boden tröpfeln, achtet darauf, dass dabei steinige Flecken getroffen werden.

18.51 Uhr.

Die Spur, die er hinterlässt, reicht nicht aus. Deshalb schneidet er sich noch einmal ins Handgelenk, unterdrückt einen Aufschrei, als ihn ein heftiger Schmerz durchfährt. Seine Verfolger sollen glauben, dass er ernsthaft verletzt ist. Anschließend läuft er zum Sägewerk. An einem der Gebäude ist ein Gerüst errichtet. Mit den Fingern der anderen Hand fährt er über seine Wunde, verschmiert das Blut in beiden Händen und klettert danach das Gerüst hoch. Es soll den Eindruck erwecken, dass er sich ins Innere des Sägewerks geflüchtet hat und dort versteckt hält.

18.58 Uhr.

Er klettert wieder herunter. Unten angelangt untersucht er seine Fußfessel. Bald muss sie das Standortsignal aussenden. Diego stellt das Handy wieder an, ruft sein Profil in Guilty auf, scrollt sich durch die neuesten Kommentare. Dort sind inzwischen nicht nur noch mehr Schmähungen und obszöne Beleidigungen zu lesen, sondern auch jede Menge menschenverachtende Witzeleien. Es werden Wetten abgeschlossen, wie lange es wohl dauern wird, bis seine Verfolger ihn niedergestreckt haben. Ein User wettet darauf, dass er weniger als 24 Stunden überleben wird. Ein anderer lädt den Kommentarschreiber auf zwei Bier ein, wenn sich seine Vorhersage bewahrheitet. Diego hat den Eindruck, in einem makabren, obszönen Spiel gelandet zu sein, als bloße Unterhaltung und Ablenkung der Chatter von ihrer Langeweile zu dienen. Dass er ein Mensch ist, scheint dabei keinen zu interessieren. Es ist keineswegs ausgemacht, dass für ihn alles gut endet. Die hasserfüllte Gewalttätigkeit, die sich da in den Kommentaren entlädt, ist für ihn noch schlimmer als das Bedürfnis nach Rache, das einige antreibt. Er spürt, wie ihm schlecht wird, fühlt sich hin- und hergezerrt zwischen Wut und Überlebenswillen – und dem Wunsch, sich einfach hinzulegen und einzuschlafen. Der Hass und die Menschenverachtung seiner Verfolger sind zu viel für ihn. Ihm wird übel und er muss kotzen. Sein Puls schnellt nach oben. Sein ESI dürfte gegen null gehen. Beides wird jetzt auf seinem Guilty-Profil sichtbar sein. Genau das wollte er. Die User, die seine Flucht mitverfolgen, werden darauf reagieren. Ein paar von ihnen sind vielleicht sogar enttäuscht, dass ihre Beute so schnell zu erledigen ist. Dass die Jagdpartie nur so kurz gedauert hat. Ein leichtes Spiel. Wahrscheinlich wird er bald sterben müssen. Aber zu leicht wird er es ihnen nicht machen. Er wird bis zum Schluss kämpfen.

19.00 Uhr.

Mit einem Ekelgeschmack im Mund blickt Diego abwechselnd auf das Display seines Handys und die Kieszufahrt, die von der Straße zum Sägewerk führt.

Dann geschehen die zwei Dinge, auf die er wartet, genau im selben Moment. Sein Profil auf Guilty zeigt einen Puls von 143 und einen ESI von 1/10 an.

Elliott teilt ihm in einer Textnachricht mit, dass er in einer Minute da sein wird.

Über Diegos Gesicht strömen Tränen der Erleichterung.