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Donnerstag, 1.25 Uhr

Der Steinbogen der kleinen Brücke bietet einen Unterschlupf, in den er sich geflüchtet hat. In diesem Versteck ist er sicher. Anfangs fühlte Diego sich, als würde er in seinem eigenen Grab liegen, mit der Brücke als Grabstein. Aber als er über sich das Brummen einer Drohne vernahm, war er froh über den Schutz. Wenn die Drohne nachts unterwegs ist, um ihn zu erspähen, dann muss sie mit einer Infrarotkamera ausgestattet sein. Es ist ein ungleicher Kampf. Während der Freilassungsprozedur mit der Richterin hat man ihm das nicht erzählt. Man hat ihm nicht gesagt, dass von vornherein schon alles klar ist, dass es für ihn so gut wie unmöglich ist, lebend aus der Sache rauszukommen.

In der Ferne hört Diego laute Rufe und Hundegebell. Es müssen Dutzende von diesen Schwachköpfen unterwegs sein, um ihn zu suchen. Sie durchstreifen mit Hunden das Gelände. Bis jetzt hat sich noch kein Trupp seinem Versteck genähert. Der Regen, der unablässig fällt, hat seine Spuren sicherlich fortgespült. Die Spürhunde können keine Fährte aufnehmen.

Die Drohne war bisher das einzige ernste Warnsignal.

Vom Brückenbogen tropft es unaufhörlich auf ihn herunter. Längst ist Diego vollkommen durchnässt und durchgeweicht. Ein ständiger feuchtkalter Luftzug macht den Ort zusätzlich ungemütlich.

Diego friert bis auf die Knochen und schlottert vor Kälte. Um, so gut es geht, dagegen anzukämpfen, hat er sich zusammengekauert. Aber wenn er auf den abschüssigen Steinen nicht das Gleichgewicht verlieren will, muss er einen Fuß im Wasser lassen.

Er denkt an den Jungen, den er gefesselt und geknebelt hat. Dessen Lage ist schlimmer als seine eigene. Aber vielleicht ist es ihm ja gelungen, sich zu befreien. Oder die anderen Jäger haben ihn gefunden. Wenn es so ist, dann muss er ihnen eine Beschreibung von ihm geliefert haben, die der eines wilden Tieres gleicht. Schließlich will er ja nicht für einen Feigling oder Schwächling gehalten werden. Und wenn sie den Jungen ausgefragt haben, wohin er verschwunden ist, hat er ihnen vielleicht die falsche Richtung angegeben, aus Angst, dass er, Diego, tatsächlich gefasst werden könnte, aber vorher schnell noch das Foto von ihm ins Internet stellt.

Wie lange er wohl noch hier in diesem Versteck ausharren muss? Egal. Wichtig ist nur, dass er es vor 19 Uhr verlassen kann, sonst sitzt er wirklich in der Falle.

Im Gefängnis hat Diego schnell gelernt, der Zeit keine Beachtung zu schenken, sie verstreichen zu lassen, ohne ungeduldig zu werden oder die geringste Gefühlsreaktion zu zeigen. »Willst du von mir einen Rat?«, hatte während seines ersten Hofgangs, unmittelbar nach seiner Verurteilung, ein Mann ungefragt zu ihm gesagt. Die tiefen Falten, die sein Gesicht durchzogen, und seine dichten weißen Haare verrieten, dass er schon recht alt war. Diego hatte zuerst mit einer Antwort gezögert, dann, immer noch misstrauisch, genickt. »Der Mensch fürchtet die Zeit«, fuhr der Mann fort, »aber die Zeit fürchtet das Nichts. Wer im Gefängnis anfängt, die Stunden oder die Tage zu zählen, die Monate oder auch nur die Jahre, der dreht durch. Alle, die das machen, klappen irgendwann zusammen … Auch die, die bereits ein langes Vorstrafenregister haben.« Dabei hatte er Diego direkt in die Augen geschaut. »Und wie macht man es dann besser?«, fragte Diego. Der Alte hatte gelächelt, als fände er die Frage naiv. »Würde denn jemand in den Sinn kommen, bei einem vorbeifließenden Fluss zu zählen, um wie viele Liter Wasser es sich dabei handelt?«, antwortete er. Dann entfernte er sich. Diego hatte mit dem »alten Narren«, wie ihn die anderen Häftlinge nannten, kein zweites Mal gesprochen. Alle Neuankömmlinge bekamen von dem Mann lediglich diesen einen Rat. Danach beachtete er sie nicht mehr.

Der Alte war wenige Wochen später an einer Lungenentzündung gestorben. Von diesem Tag an war Diego seinem Rat gefolgt und hatte die Zeit verstreichen lassen, ohne sie jemals zählen, wiegen oder messen zu wollen. Auch jetzt setzen wieder die Reflexe ein, die er in seiner Gefängniszeit gelernt hat: nicht messen und zählen, nicht versuchen, die Zeit zu verlangsamen oder zu beschleunigen, um nicht unnötig Kraft zu vergeuden.

Er vergräbt das Gesicht in den Armen und schließt die Augen. Versucht, nicht mehr zu denken. Wenn er überleben will, muss er den Kopf leer bekommen, sich von allen Fragen und Überlegungen lösen, ins Nichts starren. Ab und zu wirft er ein paar schnelle Blicke um sich, um zu wissen, wie die Lage gerade ist.

Plötzlich reißt ihn ein Geräusch aus seinem Halbschlaf. Er lauscht angespannt. Hört nichts als das Murmeln des Wassers, das unter dem Steinbogen durch das Echo vervielfacht wird. Aber dann hört er Schritte. Jemand nähert sich.

Es handelt sich nur um vereinzelte Schritte … um die Schritte eines einzelnen Menschen. Diego zieht den Fuß aus dem Wasser, tastet nach einer Stelle, an der er sich abstützen kann, um nach rechts oder links zu springen, je nachdem, woher die Bedrohung kommt.

»Diego!«

Vic! Es ist Vic. Was allerdings nicht ausreicht, um ihn zu beruhigen. Sie scheint es ernst gemeint zu haben, als sie ihm diesen Fluchtort vorgeschlagen hat. Trotzdem hat er noch seine Zweifel. Schließlich weiß er gar nichts von ihr. Und wenn sie mit ihrem Bruder unter einer Decke steckt?

»Ist dir jemand gefolgt?«

Sie ist nur noch wenige Schritte entfernt.

»Nein. Alle weit weg. Sie suchen dich auf der anderen Seite, im Industriegebiet. Inzwischen sind es ungefähr hundert. Sie stürmen jede Lagerhalle.«

Diego schaut sie schweigend an.

»Ich weiß, ich komme spät. Aber davor ging es einfach nicht«, entschuldigt sie sich. »Sie waren überall. Da, nimm.«

Sie reicht ihm ein Päckchen mit Schokokeksen.

»Ist leider alles, was ich gerade dahatte.«

Diego nimmt die Kekse, murmelt hastig »Danke«. Stopft sie gierig in sich hinein, lässt die Schokolade auf der Zunge schmelzen. Der Zucker gibt ihm etwas Energie zurück.

»Stimmt es, dass du vorher schon mal wegen Drogenhandel verurteilt worden bist? Und dass du wegen Alkoholsucht vom Gymnasium geflogen bist?«

Er fühlt sich ertappt, wendet den Blick ab.

»Woher hast du das?«

»Macht in den sozialen Medien die Runde. Antworte mir, ich muss es wissen.«

»Und was würde das ändern?«

»Nichts«, sagt sie. »Ich will es einfach nur wissen.«

»Ja«, sagt er. »Das ist alles wahr. Ich hab da ein paar Dinge falsch gemacht und jetzt fällt mir das krass auf die Füße. Aber ich war da noch so jung. Wer macht denn in dem Alter keine Dummheiten?«

Vic antwortet einen Moment lang nicht.

»Ich«, sagt sie schließlich und schaut ihm dabei in die Augen. »Ich habe keine Dummheiten gemacht. Weil ich dachte, dass es für meine Eltern irgendwie ein Trost ist, wenn sie eine perfekte Tochter haben.«

Eine Weile herrscht Schweigen.

»Ich verurteile dich nicht«, fährt Vic dann fort. »Für mich ist nur wichtig, dass du mir ehrlich antwortest.«

»Danke, dass du mir vorhin geholfen hast abzuhauen.«

Sie seufzt.

»Ich hab noch nie geglaubt, dass Rache die Lösung für irgendetwas ist. Aber du musst meinen Bruder verstehen. Er ist auch Opfer. Er war bei dem Unfall dabei. Mona und er waren sich sehr nahe. ›Die Zwillinge‹ haben wir sie immer genannt.«

Ihre Sätze schneiden Diego ins Herz. Das weiß er alles selbst. Aber sie erzählt es ihm, als wäre er für ihre Familie ein Fremder. Er sagt nichts, wartet darauf, dass sie fortfährt.

»Seit Jules mit ihm Schluss gemacht hat, hat er sich immer stärker zurückgezogen. Er ist ein Einzelgänger geworden. Wenn er jemanden kennenlernt, dauert es nie länger als ein, zwei Monate. Er hat mir mal erzählt, dass er immer eine Kluft zwischen sich und den anderen spürt. Dass niemand ihn wirklich verstehen kann.«

Widersprüchliche Gefühle überfluten Diego. Alex wollte ihn töten. Trotzdem empfindet er für ihn aufrichtiges Mitgefühl.

»Und du? Gibt es jemand in deinem Leben?«, fragt er Vic.

Sie setzt sich neben ihn auf den Stein, zieht die Beine zu sich heran, umfasst sie mit den Armen.

»Nein. Bei Unglück und Trauer halten sich die Menschen von dir fern. Als ob es ansteckend wäre. Ich …«

Diego unterbricht sie.

»Zeigst du mir den Ort, an dem ihr die Asche von Mona verstreut habt?«