Dienstag, 12.03 Uhr
Losrennen, bis zu den Bäumen dort am Ende des Felds. Diego ist nur noch ein verängstigtes Kaninchen, nicht mehr. Am liebsten würde er in einem Erdloch versinken und nie mehr daraus auftauchen. Er hört, wie der Polizeitransporter davonfährt. Sein Leben hängt nur noch an einem seidenen Faden. Jeden Augenblick, in einer Minute, einer Stunde, einem Tag, kann es beendet sein …
Diego ist schwindlig, er muss aufpassen, dass er nicht stolpert und hinfällt. Sein lauter Atem übertönt die Geräusche um ihn herum. Er hat das Gefühl, dass ihn tausend Augen beobachten. Als er die Bäume erreicht, kommt er sich vor, als hätte er die erste Etappe eines großen Siegs geschafft. Und auch wenn es lächerlich ist: Er freut sich darüber total. Noch nie hat er sich so verletzlich gefühlt. Er stürzt zwischen den Bäumen in den kleinen Wald hinein. Biegt die Zweige auseinander, damit sie ihm nicht ins Gesicht peitschen. Ein Spinnennetz klebt sich an seine linke Wange, angeekelt wischt er es mit dem Handrücken weg. Dann wird er langsamer, duckt sich und kriecht ins Unterholz, dort, wo es am dichtesten ist. Hier kann er sich eine Zeit lang verstecken. Hier wird ihn niemand suchen. Er krabbelt noch eine Weile weiter, immer tiefer hinein, dann hockt er sich auf einen abgebrochenen dicken Ast. Sein Herz klopft zum Zerspringen. Er keucht. Bei jedem Atemzug brennt es ihm in der Kehle.
Es dauert mehrere Minuten, bis er wieder zu sich kommt. Ängstlich lauscht er auf jedes noch so leise Blätterrascheln, das Knacken von dürren Zweigen. Wenn ein Verfolger auftaucht, der ihn töten will, dann hat er nur eine Chance: Er muss schneller als der andere sein, muss als Erster zuschlagen. Stark genug dafür ist er. Aber natürlich muss der andere allein sein. Und danach, wenn er ihn ausgeschaltet hat, muss er weiterrennen. Fliehen. Für immer.
Um ihn herum haben die Vögel wieder zu zwitschern angefangen. Diego denkt darüber nach, wie es jetzt mit ihm weitergehen soll. Er ist aus dem Gefängnis entlassen worden. Aber mit seiner Freiheit kann es jeden Augenblick vorbei sein. Wie lange er es schaffen wird, zu überleben, weiß er nicht. Das Einzige, was er weiß, ist: Er wird es niemals allein schaffen. Seine Eltern? Kommt nicht infrage, sie um Hilfe zu bitten. Er ist sicher, dass seine Verfolger jeden ihrer Schritte überwachen. Alles, was seine Eltern tun, beobachten. Und außerdem hat er alle Beziehungen zu seinem früheren Leben abgebrochen: zu ihnen und zu allen anderen. Den wenigen, die ihm nach dem Urteil geschrieben haben, hat er nicht geantwortet. Wenn im Besuchszimmer des Gefängnisses jemand auf ihn gewartet hat, ist er in seiner Zelle geblieben. Er wollte ihr Mitleid nicht.
Diego beugt sich vor, nimmt den Kopf zwischen die Hände. Denkt nach. Schaut auf den Boden. Eine Ameisenstraße zieht sich vor ihm entlang. Ein paar Ameisen sind mit einem toten Insekt beschäftigt. Andere schleppen bereits Körperteile zu ihrem Ameisenhaufen. Diego stellt sich vor, das wäre er selbst. Das könnte er sein, nachdem seine Verfolger ihn zu Tode gehetzt haben. Was er da beobachtet, könnte ihn endgültig in Verzweiflung stürzen. Aber er sieht sich nur bestätigt: Die Menschen sind eine Tierart wie alle anderen, nicht mehr … Sie sind Tiere und er selbst auch, da ist er sich seit seiner Tat sicher.
Er könnte hier warten, bis man ihn entdeckt. Bis seine Verfolger da sein werden, kurz nachdem die elektronische Fußfessel seine Position gemeldet hat. Oder er könnte beschließen, seinem Leben ein Ende zu setzen, und sich an einem Ast erhängen – was seinen Verfolgern die Freude an ihrem Sieg nehmen würde. Die Party hätte er ihnen jedenfalls verdorben. Doch beides kommt für ihn nicht infrage.
Er zieht das Handy heraus, geht die Liste seiner Kontakte durch, scrollt dabei schnell durch alle Namen. Sie dringen wie ein Vorwurf tief aus der Vergangenheit zu ihm. Er wählt eine Nummer. Landet auf einer Mailbox, bei einer Stimme, die tief und männlich klingt. Nicht wie die Stimme, die er gern hören wollte. Auf die er gehofft hat. Die von Diana.
Er hatte sie im Gymnasium kennengelernt, während der Vorbereitungen auf das große Abschlussfest nach dem Abitur. Der Abend sollte für sie alle das Ende eines großen Lebensabschnitts markieren. Alles war auf Neuanfang gestellt: Schluss mit der Schule, bald würde die Uni beginnen, sie hatten ihre Zeugnisse in der Tasche, jetzt kamen erst einmal lange Ferien, von nun an gehörten sie zur Welt der Erwachsenen, sie würden frei sein, eine grenzenlose Freiheit wartete auf sie … jedenfalls glaubten sie das. Diana war Sängerin in einer Band. Sie sang und tanzte und träumte davon, als Musicalsängerin Karriere zu machen. Fast hätte er sich in sie verliebt. Irgendwann aber merkte er, dass ihn nur ihr Talent umgehauen hatte. Zwischen ihnen war nie etwas gewesen und sie waren gute Freunde geworden. Er vertraute ihr. Er hatte ihr viel von sich erzählt. Wie sein Leben heute wohl aussehen würde, wenn sie beide ein Paar geworden wären? Wenn er damals mit ihr auf die Party gegangen wäre?
Sein Handy vibriert. Eine Textnachricht. Man schlägt ihm vor, die App Guilty runterzuladen. Damit könne er sich an künftigen Abstimmungen über die vorzeitige Freilassung von Häftlingen beteiligen und außerdem all diejenigen tracken, die schon freigelassen wurden. Freigegeben für die Hetzjagd.
Schockiert liest Diego die Nachricht mehrmals hintereinander.
»Diese Arschlöcher!«, ruft er.
Guilty. Ein Name wie für eine TV-Serie oder ein Videospiel.
Ekel erfüllt ihn. Ihm wird kotzübel. Trotzdem lädt er sich die App herunter, weil er wissen will, was darin über ihn steht. Nach ein paar Sekunden hat er die Homepage vor sich. Darauf wird ihm mitgeteilt, dass es sich nicht um ein Spiel handelt, sondern dass Guilty den Bürger*innen des Landes die Möglichkeit bieten soll, sich direkt an der Rechtsprechung durch das Volk zu beteiligen. Sein Alter wird überprüft. Danach klickt Diego sich durch die Website. Eine Liste von Namen ploppt auf. Häftlinge, über die abgestimmt werden kann. Menschen, die bald in derselben Situation sein werden wie er. Entscheiden Sie, wer als Nächste*r freigelassen wird.
Er klickt beim Menü auf den nächsten Button. Verfolgen Sie die Freigelassenen. Sein Name steht da, außerdem noch zwei weitere … drei Kaninchen, die zur Treibjagd freigegeben sind.
Er liest, warum ihm der Prozess gemacht wurde. Seinen Urteilsspruch. Seine Gefährlichkeit: drei von zehn Punkten. Angaben zu seinem Puls, seinem emotionalen Stabilitätsindex (ESI) und seinem genauen Standort fehlen … darauf müssen die User bis 19 Uhr warten. Das lässt ihm knapp sechs Stunden. Danach wird die Meute seine Spur aufnehmen, wird sich auf ihn stürzen.
Diego überfliegt das Profil der beiden anderen Freigelassenen. Der erste ehemalige Häftling, ein Vierundzwanzigjähriger, ist schon seit achtzehn Tagen auf der Flucht. Sein Name ist Denis. Seine Gefährlichkeit wird mit 10/10 angegeben. Verurteilt wegen zweifachen Mordes, begangen an den beiden Polizisten, die sich ihm nach einem bewaffneten Raubüberfall in den Weg stellten. Ein kurzer Blick auf die Zahlen zeigt, dass es ihm gut geht: Sein Puls liegt konstant bei 60, sein ESI bei 8/10. Diego stellt sich ein kaltes Monster vor und klickt weiter zum nächsten Namen. Eva, zwanzig Jahre alt, verurteilt, weil sie ihren Vater umgebracht hat. Erst vor fünf Tagen wurde sie vorzeitig entlassen. Es muss ihr ziemlich dreckig gehen. Ihr ESI liegt bei 2/10. Ihre Kommentarspalte quillt über. Alles Einträge, die unerträglich, unmenschlich und ekelhaft sind.
Joe_the_king
So eine hat es nicht verdient, geboren worden zu sein! Knallt sie ab!
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Beleidigungen, Obszönitäten, Aufrufe zu Vergewaltigung und Mord … in der Anonymität des Internets entladen sich die widerwärtigsten Gewaltfantasien.
Mit zitternden Fingern wechselt Diego zurück auf seinen eigenen Namen. Auf die Kommentare hat er vorher gar nicht geachtet. Was da alles über ihn steht, treibt seinen Puls blitzartig in die Höhe. Ein gewisser Eagle421 hat bereits die genauen Koordinaten des Ortes eingestellt, an dem er ausgesetzt wurde. Ein Mädchen, das ihn verteidigt, wird von anderen verhöhnt und grob beleidigt.
Diego scrollt sich durch die Kommentare. Weiter unten stößt er auf einen Eintrag, bei dem ihm eiskalt wird. Der Kommentar wurde von 65 Usern gelikt und 16-mal geteilt.
Gun_27
Bin schon unterwegs.
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Dragon_13 @Gun_27
Ich auch, Gun_27, bin gleich dort.
Bist du ein einsamer Jäger?
Oder wollen wir zusammen auf die Jagd gehen?
12:21
Diego würde gern die Antwort von Gun_27 abwarten. Aber er muss schnell weiter. Es ist 12.28 Uhr.