Donnerstag, 22.06 Uhr
»Papa!«, ruft Alex wieder.
Seine Stimme klingt noch nervöser als vorher.
»Papa?« Er ist bereits in der Lagerhalle.
Vom Parkplatz dringen Motorgeräusche herüber. Autos halten an. Wagentüren werden zugeschlagen. Allgemeines Durcheinander. Aus dem Stimmengewirr sind knappe Befehle herauszuhören. Das Gebäude soll umstellt werden. Die Schlinge um Diego zieht sich allmählich zu. Da schneidet sich plötzlich Vics Vater mit dem Diamantfaden die Wange auf, zerreißt danach mit jäher Geste sein Hemd.
»Was tust du da?«, ruft Vic und deutet entsetzt auf das Blut in seinem Gesicht.
»Versteckt euch alle beide! Schnell! Und macht keinen Mucks, bevor sie nicht verschwunden sind!«
Die Rufe von Alex kommen näher. Klingen immer besorgter. Vic schaut ihren Vater verständnislos an.
»Tu, was ich dir sage!«, befiehlt er ihr.
»Aber …«
»Ich will nicht, dass mein Sohn ein Mörder wird«, sagt er, um alles klarzustellen.
Dabei wirft er Diego einen kalten, harten Blick zu. Diego, der schon vorher verstanden hat, greift nach Vics Hand und rennt mit ihr los. Als er einen Blick über die Schulter wirft, sieht er, dass Vics Vater sich auf den Boden gelegt hat, um einen verlorenen Kampf vorzutäuschen. Diego rennt mit Vic den Flur entlang, an den leeren Büroräumen vorbei. Sie müssen sich im hintersten Zimmer in der Zwischendecke verstecken. Die Horde wird überall in der Lagerhalle suchen, aber dieses Versteck übersehen sie vielleicht. Hastig stellt er einen Stuhl auf den Schreibtisch unter der Klappe, stößt sie auf. Er hält den Stuhl fest, sagt Vic, dass sie auf die Lehne klettern und dann durch die Klappe krabbeln soll.
Die Lagerhalle dröhnt von schweren Schritten wider. Die Lynchmeute stürmt bereits in das Gebäude.
Diego sieht Vic dabei zu, wie sie sich durch die Klappe zwängt. Es kommt ihm unendlich lange vor. Dann ist sie verschwunden. Er wirft einen Blick zur Tür, klettert nun ebenfalls auf den Stuhl, greift nach der Hand, die sie ihm hinhält, schwingt sich nach oben. Der Stuhl ist ein Problem. Wenn er ihn herunterstößt, hören es die Verfolger. Wenn der Stuhl auf dem Tisch stehen bleibt, ist das ein klares Zeichen, dass sie sich dort oben versteckt haben.
Diego zieht die Klappe unter sich hoch. Um sie herum ist es finster. Er schubst Vic weiter. Sie kriechen im Staub vorwärts, kriegen kaum Luft. Schreie dringen zu ihnen herauf. Lärm und Geräusche aller Art: zerbrochenes Glas, umgekippte Regale … Diego würde sich am liebsten die Ohren zuhalten. Er legt seine Hand über Vics Hand. Ihre Finger verschränken sich ineinander.
»Sucht überall!«, brüllt direkt unter ihnen eine Stimme. »Er kann nicht weit sein!«
Der Lärm verdoppelt sich. Wird ohrenbetäubend.
In seiner Hosentasche vibriert das Handy. Sicherlich Helena, die ihm weitere Anweisungen gibt. Er will sein Handy gerade herausziehen, um ihr eine Nachricht zu schicken und sie zu warnen, dass sie besser erst später kommen soll. Da wird unmittelbar neben ihnen die Decke durchstoßen. Kurz darauf ein Stück weiter noch einmal. Diego kriecht hastig in die Gegenrichtung. Vic auch. Die Stöße gegen die Decke kommen wieder näher. Wenn sie nicht schneller sind, werden sie gleich entdeckt. Durch die Öffnungen dringt das Licht von Taschenlampen. Sie kriechen hastig weiter. Bald sind sie an der Wand angelangt. Was tun?
Der Staub juckt Diego in den Augen. Mühsam unterdrückt er ein Husten. Auf einmal merkt er, dass er sein Handy nicht mehr in der Hand hält. Idiot, verflucht er sich. Wenn es durch ein Loch in der Decke fällt oder erneut zu vibrieren beginnt, sind sie verloren.
Herausgebrochene Stücke der Decke und Staub wirbeln um sie herum. Vic presst die Hand vor den Mund, um einen Hustenanfall zu ersticken. Wieder sucht der Lichtstrahl einer Taschenlampe den Zwischenraum der abgehängten Decke ab. Sie pressen sich gegen die Wand.
»Wenn ich euch doch sage, dass er meine Schwester entführt hat! Er ist längst mit ihr abgehauen!«, brüllt Alex. »Dieses Schwein hat Vic entführt und meinen Vater verletzt!«
Unter ihnen wird es still.
»Er ist nicht mehr da!«
Alex tobt vor Wut und Sorge um seine Schwester, Diego bekommt mit, wie die anderen ihm auf den Rücken klopfen, bevor sie die Halle verlassen. Die Meute steigt wieder in die Autos. Motorenlärm. Hupen. Knirschender Kies. Danach breitet sich Stille aus. Noch ganz benommen von der unmittelbaren Gefahr, der sie gerade entronnen sind, bleiben Diego und Vic eine ganze Weile nebeneinander liegen. Ohne sich zu rühren oder auch nur ein Wort zu sagen. Sie zittern am ganzen Körper. Erst allmählich ist die Erleichterung zu spüren.
Diego befürchtet, dass ein paar der Verfolger als Späher zurückgeblieben sein könnten. Aber wie sollen sie herausfinden, ob er damit recht hat? Er hört, wie sein Handy zu vibrieren beginnt. Nicht weit von ihm entfernt. Als er näher herankriecht, bricht die beschädigte Decke vor ihm endgültig durch. Ein großes Loch trennt ihn von seinem Handy. Das Vibrieren hört auf, beginnt von Neuem, hört wieder auf. Helena muss ungeduldig geworden sein. Versteht vermutlich nicht, was los ist. Diego kriecht vorsichtig ein Stück zurück, hebt eine Deckenplatte heraus und späht nach unten. Er lauscht lange, ohne das geringste Geräusch zu hören. Er lässt seinen Körper in den dunklen, leeren Raum unter sich gleiten, hängt zwei, drei Sekunden in der Luft, dann lässt er sich fallen. Geschmeidig wie eine Katze landet er auf allen vieren. Bei einem Blick nach oben versucht er einzuschätzen, wo sein Handy liegt. Über dem angrenzenden Treppenhaus. Unerreichbar.
»Hilfst du mir?«, ruft Vic.
Diego stellt sich unter die Öffnung.
»Zuerst mit den Beinen. Stütz dich mit den Füßen auf meinen Schultern ab.«
Kaum spürt er ihr Gewicht auf den Schultern, reckt er seine Hände nach oben. Sie ergreift sie. Eine Sekunde später setzt er Vic auf dem Boden ab.
Was ist mit Helena?
Sie gehen durch die leere Halle ins Freie und wollen gerade den Parkplatz überqueren, als ein Auto von der Straße einbiegt. Hastig versuchen sie, hinter einer Hecke in Deckung zu gehen. Aber der Fahrer hat sie bereits entdeckt und kommt auf sie zugefahren. Sie sprinten los. Das Auto hat sie schon eingeholt.
»Diego? Wir sind von den PFR.«
Diego bleibt stehen. Im Auto sitzen drei Personen.
»Wo ist Helena? Ist sie nicht dabei?«
»Wir sind vom Interventionsteam … Helena macht einen anderen Job.«
Und wenn es sich um eine Falle handelt? Diego schaut in die Gesichter, beschließt, dass er keine andere Wahl hat.
»Wir sind zu zweit«, sagt er zum Fahrer.
Die Antwort kommt prompt.
»Wir haben Anweisung, nur eine Person rauszuholen. Von dem Mädchen war nicht die Rede. Steig ein! Und zwar allein! Oder wir sind gleich wieder weg.«
Eine klare Ansage.
»Bitte, steig ein!«, fleht ihn Vic an. »Sie können jeden Augenblick zurückkommen.«