Donnerstag, 21.06 Uhr
Vic hat sich dicht neben Diego gesetzt. Sie versucht, ihn aufzumuntern, versichert ihm ununterbrochen, dass ihr Vater sehr bald zurückkommen wird, mit einem Werkzeug, mit dem man alles durchschneiden kann. Dass sie ihrem Vater vollkommen vertraut. Dass er ihn nie verraten würde. Trotzdem ist Diego unruhig: nicht wegen Vics Vater, da macht er sich keine Sorgen. Aber wegen der anderen – Vics Mutter und ihr Bruder –, denen er im Haus oder in der Garage vielleicht über den Weg läuft. Die ihn fragen werden, wo er hinwill, und alles tun werden, um ihn davon abzubringen.
»Du musst dir keine Sorgen machen«, sagt Vic zum x-ten Mal. »Ich bin bei dir. Und solange ich bei dir bin, werden sie nichts unternehmen.«
Diego hält sie für naiv, aber er entgegnet nichts. Die Hoffnung, seine elektronische Fußfessel bald los zu sein, ist im Moment das Einzige, was für ihn zählt.
»Mein Vater ist der beste Handwerker, den ich kenne«, sagt sie. »Du wirst sehen, die Fußfessel ist gleich aufgesprengt.«
Diego tastet in der Tasche nach Monas Seidenschal. Er ist unglaublich müde. Erschöpft. Niedergeschlagen. Er kann nicht mehr. Er will sich nur noch hinlegen und schlafen. Eine ganze Nacht, einen ganzen Tag. Und was ist, wenn während des Tiefschlafs die Fußfessel seine GPS-Daten übermittelt? Wenn man ihn hier schnappt, bevor er auch nur zu fliehen versucht hat? Nein, das darf nicht sein! Er darf nicht aufgeben. Er muss handeln. Diego aktiviert die letzte Energie, zu der er noch fähig ist.
»Warte hier auf mich!«
Wenn Vics Vater ihn verrät, wird der Ort zu einer Falle. Er muss wachsam bleiben. Läuft durch alle alten Büroräume und untersucht die Fenster. Überall liegen Trümmer und Schutt herum, kaputte Möbel, umgestürzte Regale. Hinter einer Tür führt eine Metalltreppe aufs Dach des Gebäudes. Eine weitere Falle. Von dort oben könnte er nicht mehr entkommen. Die Falle wäre zugeschnappt. Er läuft weiter.
An einer Decke bemerkt er eine Klappe, zieht einen Bürotisch unter die Stelle, steigt hinauf und öffnet sie einen Spalt. Es handelt sich um eine Zwischendecke. Mit der Taschenlampe seines Handys späht er hinein. Viel Staub, elektrische Kabel, dickere Schläuche, die wahrscheinlich zur Belüftung dienten. Nichts, was für ihn nützlich sein könnte – außer um eine falsche Spur zu legen. Er trampelt in dem Büro herum, damit seine Fußabdrücke überdeutlich sichtbar sind, lässt die Klappe bewusst etwas offen stehen, damit irgendwelche Verfolger glauben, er habe sich nach dort oben geflüchtet. Ziemlich lächerlich, das weiß er selbst. Diego öffnet mehrere Fenster oder was davon übrig ist. Stellt Stühle davor, damit der Eindruck entsteht, dass er auf diesem Weg geflohen ist. Auch die Tür zur Metalltreppe, die aufs Dach führt, lässt er halb offen. Die Spuren vervielfachen, die Zahl seiner Verfolger aufsplitten … wie viel Hoffnung besteht sonst gegen eine ganze Horde?
Allerdings gehört das Wort Hoffnung schon seit Jahren nicht mehr zu seinem Vokabular. Er schließt die Augen. Wie immer taucht Monas Gesicht vor ihm auf. Inmitten des Chaos aus zerberstendem Metall und zersplitternden Scheiben lächelt sie ihm zu. Öffnet den Mund zu einem stummen Schrei.
Diego muss sich gegen eine Wand lehnen, um nicht umzukippen.
»Mona«, murmelt er.
Er zieht den Seidenschal aus der Tasche, presst ihn gegen sein Gesicht, atmet tief ein. Nichts. Monas Geruch ist verflogen. Was hat er auch erwartet? Er versucht, sich an ihr Parfüm zu erinnern. An den würzigen, fast pfeffrigen Duft. Wie hieß es noch mal? Er weiß es nicht mehr. Ein Abgrund öffnet sich in ihm.
»Mona«, flüstert er noch einmal.
Da ist von draußen ein Motorgeräusch zu hören. Diego läuft zum Fenster. Erkennt die Umrisse eines Motorrads. Wartet noch eine Sekunde, um sicher zu sein, dass es sich auch wirklich um Monas Vater handelt.
Als der Fahrer seinen Helm abnimmt, gibt es keinen Zweifel mehr. Er ist es.
In der nächsten Sekunde ist Diego zurück bei Vic.
»Mein Vater ist wieder da«, verkündet sie.
»Ja.«
Vic nimmt seine Hand.
»Du wirst schon sehen. Er findet eine Lösung.«
Vics Vater zieht eine Rolle mit feinem Draht aus seiner Werkzeugtasche.
»Das ist eine Diamantdrahtsäge«, erklärt er. »Damit kann man Steine schneiden. Aber so einfach ist es hier nicht.«
Er fährt sich mit der Hand über den kahlen Schädel.
»Sobald wir die Fußfessel durchtrennen, wird Diegos Position automatisch gemeldet.«
Stimmt, das hatte der Sicherheitsbeamte, der ihm die Fußfessel angelegt hat, Diego gesagt. Daran erinnert er sich jetzt.
»Ich mache das direkt neben meinem Motorrad. Ich habe zwei Helme dabei. Wir müssen dann sofort losfahren. Auf dieser Maschine kann uns keiner einholen.«
Vic fällt ihrem Vater in die Arme.
»Papa, du bist großartig! Danke!«
Er schiebt sie sanft von sich weg. Hält dabei den Blick auf Diego gerichtet.
»Danach will ich nie mehr etwas mit dir zu tun haben. Verstanden?«
Diego nickt.
Da stellt Monas Vater auf einmal eine unerwartete Frage.
»Was willst du danach eigentlich mit deiner Freiheit anfangen? Was hast du mit deinem Leben vor?«
Eine andere Möglichkeit, die langsam in ihm gewachsen war, drängt sich bei Diego auf einmal in den Vordergrund. Ergreift von ihm Besitz. Er spürt jetzt, dass er schon eine Weile ernsthaft darüber nachgedacht und alles innerlich abgewogen hat. Trotzdem steht ihm jetzt der Schweiß auf der Stirn. Er bekommt kaum Luft. Er hat sich entschieden. Das erste Mal seit Langem weiß er, was er will. Es dauert noch ein paar Sekunden, bis seine Entscheidung ganz in ihm angekommen ist. Ein Teil von ihm geworden ist. Bis er weiß: Das bin ich. Er holt ein paar Mal tief Luft, sucht nach den richtigen Worten.
Dann sagt er: »Diese Freiheit wird es nicht geben. Denn ich lasse mir von Ihnen die Fußfessel nicht abnehmen.«
Vic fährt herum und macht einen Schritt auf Diego zu.
»Was sagst du da?«
Sie glaubt, nicht richtig gehört zu haben.
»Wie könnte ich Mona weiter lieben, wenn ich nicht für den Fehler bezahle, den ich gemacht habe?«
Vic macht noch einen Schritt auf ihn zu.
»Aber … aber … wie kannst du einen solchen Unsinn sagen!«
Sie fährt mit den Armen durch die Luft.
»Willst du dich zu Tode prügeln lassen? Opfer der Lynchjustiz werden? Das kann es doch nicht sein … Davon bekommen wir Mona auch nicht zurück. Was du machen willst, ist total sinnlos!«
Diego hebt abwehrend die Hand.
»Nein, so ist es nicht. Ich will nicht sterben. Darum geht es nicht. Ich habe darüber nachgedacht. Ich will meine Strafe abbüßen. In einem der Untergrundgefängnisse der Partisanen für mehr Rechtsgerechtigkeit.«
»Keiner weiß, ob es diese Gefängnisse überhaupt gibt!«
»Doch, es gibt sie«, sagt er ruhig. »Ich habe ein Mitglied der PFR getroffen. Sie heißt Helena. Sie hat mir alles erklärt.«
Vic dreht sich zu ihrem Vater.
»Papa, sag etwas!«
Ihr Vater schweigt. Steht reglos da. Sein Gesicht nimmt einen weicheren Ausdruck an. Diego glaubt, die Andeutung eines Lächelns zu erkennen. Ein Lächeln der Dankbarkeit und wahrscheinlich auch der Erleichterung darüber, den Mörder seiner Tochter nicht befreien zu müssen.
Seine Reaktion bestätigt Diego, dass er die richtige Entscheidung getroffen hat. Auch Vic hat inzwischen verstanden. Ihr Vater legt ihr den Arm um die Schultern.
Mit klopfendem Herzen wählt er auf seinem Handy die Nummer, die Helena ihm gegeben hat. Er hört es am anderen Ende klingeln. Mit jedem Ton geht sein Atem schneller. Diego macht sich bereits darauf gefasst, auf der Mailbox zu landen, als Helena endlich drangeht.
»Hallo?«
»Hier ist Diego … Diego Abrio.«
»Hallo, Diego. Worum geht’s?«
Ihre Stimme klingt nicht im Geringsten überrascht.
»Ich habe über deinen Vorschlag nachgedacht. Ich will meine Strafe in einem der Gefängnisse der PFR absitzen.«
Nervös wartet er auf die Antwort.
»Sehr gut. Hast du vorher noch gemacht, was du machen wolltest?«
»Ja.«
»Okay. Willst du es dir noch einmal überlegen oder bist du bereit?«
»Ich bin bereit. Jetzt.«
Sein Herz fängt noch stärker zu schlagen an. Kaum schneller. Aber er hat das Gefühl, dass mehr Blut durch seine Adern gepumpt wird. Ihm ist leicht schwindlig.
»Schick mir deine genaue Position. Wir kommen und holen dich ab.«
»Wann?«
»Ziemlich bald, in einer halben Stunde, höchstens einer Stunde. Ich schick dir vorher noch eine Nachricht. Halte dich bis dahin versteckt.«
»Danke.«
Nach dem Gespräch bleibt Diego mit dem Handy in der Hand noch einen Moment reglos stehen. Er denkt an Mona. Ob sie den Schritt wohl gutgeheißen hätte? Er hofft es.
Diego geht zu Vic und ihrem Vater, die sich nicht von der Stelle gerührt haben. Sie umarmen sich.
»Man wird mich hier abholen«, verkündet Diego.
»Wann?«, fragt Vic.
»In einer halben Stunde, höchstens einer Stunde.«
Er spürt ihre Enttäuschung. Als sie auf ihn zugehen will, hält ihr Vater sie zurück. Vic zögert einen Moment, aber sie reißt sich nicht aus der Umarmung los. Diego will ihr gerade sagen, dass es besser so ist. Da bemerkt er, wie sie den Kopf in Richtung Straße dreht und lauscht.
»Da kommt jemand«, flüstert sie.
Diego hält den Atem an. Lauscht ebenfalls. Hört Geräusche. Weiß, dass es nicht Helena sein kann. Dafür ist es zu früh.
Ein schriller, lauter Ruf ist zu hören. Wie ein Fallbeil.
»Papa, ich weiß, dass du da bist. Und Vic wahrscheinlich auch. Ihr müsst schnell weg! Ich habe den anderen geschrieben, dass das Arschloch sich hier aufhält. Sie sind gleich da! Um Mona zu rächen! Mit mir zusammen!«