Dienstag, 7.50 Uhr – Justizpalast
»Stillhalten!«
Der Tonfall ist weder freundlich noch aggressiv, sondern neutral. Wie eine weitere, fast beruhigende Bestätigung für Diego, dass er nichts als eine Nummer ist. Seit seiner Verhaftung, seit dem Prozess und dem Gerichtsurteil hat er seinen Vornamen, seinen Nachnamen und alles verloren, was ihn noch mit seinem Leben davor hätte verbinden können.
Vor ihm kauert ein Sicherheitsbeamter, der an seinem rechten Knöchel eine elektronische Fußfessel anbringt. Als das Schloss zugeschnappt ist, überprüft er, ob die Fessel gut sitzt, und wendet sich dann dem Computer zu, um zu checken, ob die Datenübermittlung funktioniert. Der Polizist arbeitet schnell und konzentriert. Er ist kaum älter als Diego. Aber er befindet sich auf der richtigen Seite.
Nach ein paar Versuchen öffnet sich auf dem Bildschirm seines Computers ein Fenster.
Diego ABRIO Grob fahrlässige Tötung 22 Jahre Gefährlichkeit: 3/10 Puls: 110 Emotionaler Stabilitätsindex: 4/10 |
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Der Sicherheitsbeamte wendet sich zu Diego, mustert ihn, scheint abzuschätzen, ob die angezeigten Werte der Wirklichkeit entsprechen. Dann legt er ihm zwei Finger aufs Handgelenk, richtet den Blick auf die Sekundenanzeige der Uhr, blickt Diego danach forschend in die Augen.
»Nicht weiter erstaunlich, unter diesen Umständen einen so hohen Puls zu haben, auch ohne körperliche Anstrengung. Das gilt auch für deinen ESI.«
»Meinen was?«, fragt Diego.
»Deinen emotionalen Stabilitätsindex. In Anbetracht dessen, was dir bevorsteht, ist es vollkommen normal, dass er so niedrig ist. Ich habe schon Schlimmeres erlebt.«
Diego fragt sich, ob der Sicherheitsbeamte das sagt, um ihn zu beruhigen, ob die Gewohnheit ihn abgestumpft hat oder ob er nicht mehr sagen darf.
»Und wer hat Zugang zu diesen Informationen?«, fragt Diego.
Der Sicherheitsbeamte gibt einen tiefen Seufzer von sich.
»Die Richterin wird dir das alles erklären.«
»Und ein Foto von mir gibt es nicht?«
Der Sicherheitsbeamte schüttelt abwehrend den Kopf.
»Heb dir deine Fragen für die Richterin auf. Sie allein ist berechtigt, dir zu antworten. Ich bin hier nur für die Technik zuständig.«
»Das Kreuz auf dem Stadtplan, was ist das? Bin das ich?«
Der Sicherheitsbeamte tut so, als hätte er die Frage nicht gehört. Ihm ist kein Wort mehr zu entlocken. Mit verschlossener Miene setzt er seine Arbeit fort. In Diegos Kopf beginnt sich alles zu drehen. Tränen brennen ihm in den Augen.
Bevor der Sicherheitsbeamte den Computer ausschaltet, wirft Diego noch einmal einen Blick auf den Bildschirm. Sein Puls ist auf 118 gestiegen und sein ESI liegt nur noch bei 2/10. Er hat das Gefühl, zu ersticken. Aber niemand scheint das zu kümmern. In diesem Moment fehlt ihm Karl. Er würde ihn jetzt gern daherlabern hören. Irgendwas mit ihm reden. Egal was. Wenn er nur nicht diesen Raum verlassen muss.
»Steh auf!«
Diego gehorcht, spürt die elektronische Fußfessel an seinem Knöchel. Ein neues, unangenehmes Gefühl. Ein schweres, kaltes Überwachungsgerät, das von jetzt an sein Feind ist und von dem er nicht loskommen wird.
Im Flur, den sie entlanggehen, gibt es keine anderen Geräusche als die ihrer eigenen in der Leere widerhallenden Schritte. Diego verlangsamt das Tempo, will nicht, dass seine Schritte im selben Rhythmus erklingen wie die seiner Wärter. Die Stille im Justizpalast ist unerträglicher als das Lärmen und Schreien im Gefängnis.
»Mach schneller! Wir haben noch was anderes zu tun heute. Die Richterin erwartet dich.«
Durchs Fenster kann Diego den bewölkten Himmel erkennen. Nieselregen fällt. Alles scheint sich gegen ihn verschworen zu haben. Dumpfe Wut steigt in ihm hoch, doch er weiß nicht, gegen wen oder was er sie richten soll.
Zwei Polizisten in Uniform begegnen ihnen. Der eine flüstert dem anderen etwas zu, starrt dabei Diego an. Diegos Atem geht schneller. Seine Hände ballen sich zu Fäusten. Die Wut steigt in ihm weiter an. Er kann nicht mehr, er hält es nicht länger aus und bittet darum, auf die Toilette gehen zu dürfen. Wenigstens eine kurze Pause. Einer der beiden Sicherheitsbeamten begleitet ihn. Der Toilettenraum ist in einem erbärmlichen Zustand. Das kleine Fenster mit dem dicken Glas lässt keinen Blick ins Freie zu. Er starrt es einen Moment an. Das beruhigt ihn. Er stirbt vor Angst. Dann betritt er eine Kabine, der Sicherheitsbeamte lehnt sich gegen das Waschbecken. Als er wieder aus der Kabine kommt, hat der Sicherheitsbeamte sich keinen Millimeter bewegt. Diego muss ihm ein Zeichen geben, zur Seite zu treten, damit er sich die Hände waschen kann.
Ein Stück weiter den Flur entlang bedeutet man ihm anzuhalten. Der Sicherheitsbeamte klopft zweimal kurz an einer Tür, direkt unter einem Schild, auf dem ein Name und ein Amtstitel stehen. Elsa de Bauller. Richterin der Volksjustiz.
Ohne ein »Herein« abzuwarten, öffnet der Sicherheitsbeamte die Tür und schiebt Diego in den Raum.
Hinter einem Schreibtisch sitzen zwei Frauen. Die Frau in der Mitte des Raums muss die Richterin sein. Sie wirkt strenger als die andere. Ernster. Als er eintritt, überfliegt sie gerade sein Dossier, holt ein paar Mal tief Luft, würdigt ihn keines Blickes. Die andere Frau lächelt ihn unsicher an, mit einer Andeutung von Liebenswürdigkeit oder auch Mitgefühl, als wolle sie sich dafür entschuldigen, nichts für ihn tun zu können. Nach einer Weile hebt die Richterin den Blick und mustert Diego ein paar Sekunden lang. Dann vertieft sie sich wieder in seine Akte.
Minuten vergehen. Diego kommen sie wie Stunden vor, und er fragt sich, ob diese Art von Inszenierung gewollt ist, um seiner Vorführung größere Feierlichkeit zu verleihen. Es erinnert ihn an seinen Prozess, an den Moment der Urteilsverkündung. An das Innehalten zwischen dem Schuldspruch und der Verkündung des Strafmaßes, der Länge seiner Gefängnisstrafe.
»Wenn wir Sie heute entlassen«, setzt die Richterin schließlich mit hartem Tonfall an, »dann deshalb, weil das Volk sich in vollem Bewusstsein der Straftat, für die Sie verurteilt worden sind, entschlossen hat, dass Ihr Fall Gegenstand einer Sonderbehandlung wird.«
Sie blickt ihn streng an.
»Diego Abrio …«
Es folgen sein Geburtsdatum, eine knappe Wiedergabe der Fakten seines Falls, das Gerichtsurteil. Diego kennt das alles in- und auswendig. Reglos steht er vor der Richterin, während seine Gedanken sich verzweifelt überschlagen und in alle Richtungen zappeln wie ein Hecht am Angelhaken, der gerade aus dem Wasser gezogen wird. Kurz bevor man ihn irgendwohin auf den Boden wirft. Diego fragt sich, was er nach seiner Aussetzung anstellen wird, versucht, seine ersten Schritte vorwegzunehmen. Fliehen. Ja, er wird fortrennen, so schnell er kann, und sich in einem Unterschlupf verstecken. Dort wird er dann nachdenken.
»Hören Sie mir überhaupt zu?«
Die Frage der Richterin unterbricht seine Überlegungen. Er nickt, um sie zu beschwichtigen. Sie blickt ihn schon nicht mehr an.
»Ich werde Ihnen jetzt den Ablauf erklären. Sobald ich Ihre Entlassungsurkunde unterzeichnet habe, werden Sicherheitsbeamte Sie in den Keller des Justizpalastes führen. Dort wartet ein Kleintransporter auf Sie, der Sie an einen geheimen Ort bringen wird. Um zwölf Uhr mittags werden Sie freigelassen und sind von da an ganz auf sich selbst gestellt. Jede Bürgerin und jeder Bürger unseres Landes hat von da an die Erlaubnis, mit Ihnen zu verfahren, wie es ihm oder ihr gefällt. Es gilt hierfür das Prinzip der absoluten Straffreiheit.«
Die letzten Worte rufen bei Diego Übelkeit hervor. Visionen unvorstellbarer Grausamkeiten durchfluten ihn: Schläge, die auf ihn niederprasseln, das Geräusch zermalmter Knochen – seiner Knochen –, das Gebrüll einer auf ihn einstürmenden, entfesselten Meute, Schreie, die jede hoffnungslose Bitte um Milde und Gnade ersticken.
»Hat man Ihnen erklärt, wie die elektronische Fußfessel funktioniert?«
»Nein, man hat mir gesagt, dass Sie …«
Sie unterbricht ihn.
»Jeden Tag um Punkt 19 Uhr wird eine Reihe Sie betreffender Daten an eine elektronische Plattform übermittelt, die von allen aufgerufen werden kann, die sich die App Guilty heruntergeladen haben. Zu diesen Daten zählen Ihr Puls und Ihr emotionaler Stabilitätsindex, aber auch Ihre GPS-Daten, allerdings nur zu genau diesem Zeitpunkt. Haben Sie dazu Fragen?«
Diego hätte dazu tausend Fragen, aber er befürchtet, dass die Antworten der Richterin ihn nur noch stärker aufregen würden. Er schweigt. Das ist vielleicht besser so.
Sie wartet zwei Sekunden, dann fährt sie fort: »Ich komme zum Schluss. Gemäß gesetzlicher Vorschrift setze ich Sie hiermit über folgende Statistik in Kenntnis: Von den 237 im Rahmen der Sonderbehandlung entlassenen Straftäterinnen und Straftätern fanden 175 durch Vollstreckung der Lynchjustiz im Namen des Volkes den Tod. Neun Personen ist es gelungen, Beweise für ihre Unschuld zu sammeln. Ihre Verfahren wurden neu aufgerollt und endeten mit Freispruch. Die 53 restlichen Männer und Frauen sind verschwunden, ohne dass Kenntnis über ihr weiteres Verbleiben besteht.«
Automatisch stellt Diego im Kopf eine Berechnung an. 53 von 237, das macht etwas mehr als 20 Prozent. Diese Perspektive verleiht ihm wieder Hoffnung und Energie.
Die Richterin überreicht dem Sicherheitsbeamten ein Papier.
»Sie können ihn wegführen.«