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Donnerstag, 17.51 Uhr

»Wie geht’s deiner Mutter?«, fragt Diego.

Vic zieht die Schultern hoch. Seufzt.

»Sie ist erleichtert und … aggressiv.«

Das erstaunt Diego nicht. Er weiß, dass Monas Mutter nur der Hass auf ihn aufrecht hält. Er ist bereit, die Rolle als ihr Hassobjekt anzunehmen.

»Fahr jetzt lieber nach Hause«, sagt er. »Wegen dir soll sie sich nicht auch noch Sorgen machen müssen.«

»Ja, schon klar«, antwortet Vic. »Sie hat mich angefleht heimzukommen. Und hat mir damit gedroht, die Meldung, dass ich entführt worden bin, nicht öffentlich zu dementieren. Nicht, wenn ich nicht sofort nach Hause komme.«

»Und?«

»Sie wird die Meldung dementieren. Aber ich mach’s auch. Das ist sicherer.«

Vic sucht kurz nach dem besten Blickwinkel, dann hält sie am ausgestreckten Arm ihr Handy vor sich hin, räuspert sich und drückt den Aufnahmeknopf.

»Guten Tag, ich heiße Vic Goverts. Ich bin die Schwester von Mona Goverts. Wir haben heute den 16. September. Es ist 17.54 Uhr. Ich bin in Freiheit und bei bester Gesundheit. Meine Entführung war ein böswilliges Gerücht, es handelt sich um Fake News! Ich bin keine einzige Sekunde meiner Freiheit beraubt worden. Ich wiederhole: Niemand hat versucht, mich zu entführen. Niemand! Diego Abrio war der Fahrer, als damals der Unfall passierte, bei dem meine Schwester ums Leben gekommen ist. Mona fehlt mir fürchterlich und meine Trauer ist riesengroß. Nichts kann mir meine Schwester wiedergeben. Aber ich bin überzeugt davon, dass er sie geliebt hat. Er liebt sie immer noch. Ich verzeihe ihm. Das ist meine Botschaft an alle. Rache führt zu nichts. Deshalb fordere ich hiermit alle auf: Bitte beendet die Jagd auf ihn!«

Diego fühlt sich benommen, als würde auf einmal alles Blut aus seinen Gliedern und aus seinem Kopf weichen. Alles zieht sich in seinem Herz zusammen, das zum Zerspringen klopft. Vics Worte haben ihn umgehauen. Sie bringen alle Mauern ins Wanken, die er während der drei Jahre im Gefängnis innerlich errichtet hat, um sich zu schützen. Er sieht ihr zu, wie sie das Video online stellt. Er hätte gerne, dass sich ihre Blicke jetzt kreuzen. Möchte ihr dankbar zunicken. Aber sie schaut nicht auf, konzentriert sich ganz auf das, was sie gerade tut. Als sie den Kopf hebt, steht er direkt vor ihr. Er weint. Er legt seine Arme um sie und drückt sie fest an sich. Er hat Angst, lebt im ständigen Horror. Aber für einen Moment möchte er das alles weit von sich wegschieben, sich eine Minute Frieden erlauben, eine kurze Pause. Er weiß, dass die Schuld an Monas Tod für immer an ihm nagen wird, mit der Gefräßigkeit von Tausenden von Würmern im Innern eines abgestorbenen Baumstamms. Aber hat er nicht trotzdem ein Recht darauf, weiterzuleben?

Seit dem Unfall hat er kaum noch Empfindungen und Gefühle. In seinem Innern ist nur noch eine große Leere. Heiterkeit. Vergnügen. Freude. Sorglosigkeit. Fröhlichkeit. Begeisterung. Euphorie. Zärtlichkeit. Ruhe. Frieden. Lust. Für jedes dieser Wörter muss er nach Erinnerungen suchen. Er empfindet nichts mehr davon. Alles ist unwiderruflich verloren. Die Szenen und Bilder, die er aufruft, gehören alle zu seiner Vergangenheit mit Mona: ihr verrücktes gemeinsames Lachen im dunklen Kino, die geflüsterten Geständnisse beim ersten Knutschen, das Ich-liebe-dich jedes Mal, nachdem sie Sex miteinander hatten. Diego versucht einen Moment lang, sich neue Szenen und Bilder auszumalen, in der Zukunft, und sei sie auch noch so fern. Aber er stößt sofort gegen eine Mauer. Gegen das Nichts. Er ist schuldig und wird es für immer bleiben. Seine Tränen verdoppeln sich. Strömen ihm übers Gesicht. Vic löst sich aus der Umarmung. Er kann ihrem Blick nicht standhalten und schlägt die Augen nieder. Ihr schweigendes Miteinander dauert einen unendlichen Augenblick. Schließlich nimmt sie seine Hand und lässt sie nicht mehr los. Danach checkt sie ihr Handy.

Sie stößt ein lautes Scheiße, Scheiße, Scheiße aus.

»Die sind wirklich krass unmenschlich drauf!«

Vic reicht ihm ihr Handy. Die ersten Kommentare sind noch erleichtert, dass sie nicht entführt worden ist, unterstützen ihre Haltung. Aber danach fangen die Leute an, zu bezweifeln, dass das Video wirklich echt ist. Sie beschimpfen Vic, bezeichnen sie als Lügnerin und Verräterin. Andere vermuten, dass sie von ihrem Entführer erpresst wird.

Hastig sucht Vic nach einer offiziellen Erklärung ihrer Mutter. Findet schließlich eine Mitteilung, dass Vic keineswegs Opfer einer Entführung sei.

»Geht das schon wieder los«, murmelt sie und schüttelt verzweifelt den Kopf.

»Schon wieder? Was denn?«, fragt Diego.

Vic verzieht das Gesicht zu einer Grimasse und wirft einen angewiderten Blick auf das Display, legt das Handy dann auf dem Sitz des Rollers ab. Lässt den Blick unruhig in alle Himmelsrichtungen schweifen, fährt sich mit der Hand durch die Haare.

»Mona ist nach ihrem Tod in den sozialen Medien total runtergemacht worden.«

Diego fühlt sich, als hätte man ihm ins Gesicht geschlagen. Hat er richtig gehört?

»Wie? Was? Von wem?«

»Alles anonym. Leute, die sie noch nie mochten. Andere waren wohl eifersüchtig auf ihren Erfolg.«

Wut packt ihn.

»Was haben sie ihr denn vorgeworfen?«

Diego weiß, dass er die Frage besser nicht stellen sollte. Dass Vics Antworten ihn zerreißen werden. Aber er muss es tun, für sich selbst, aber auch für Mona, deren Andenken er damals nicht verteidigen konnte.

»Alles, was du dir vorstellen kannst. Dass sie nur bekommen hat, was sie verdiente. Dass sie bestimmt genauso sturzbesoffen war wie der erbärmliche Fahrer des Autos. Dass man sich nicht wundern müsse, schließlich habe sie ja für jeden die Beine breit gemacht. Ich erspar dir die weiteren Beschimpfungen und Beleidigungen. Es war der Horror, total eklig und widerlich. Monatelang ging das so. Ich hab getan, was ich konnte, damit meine Eltern davon so wenig wie möglich mitbekommen haben. Ich habe sogar falsche Accounts angelegt, um positive Kommentare über meine Schwester zu posten und dieser ganzen Scheiße etwas entgegenzusetzen. Die positivsten Äußerungen habe ich dann ausgedruckt und ihnen gezeigt. Alles andere habe ich ihnen verschwiegen. Sie hätten es nicht verkraftet.«

»Und du?«

Mit einem traurigen, bitteren Lächeln dreht sie sich zu ihm.

»Was soll ich dazu sagen? Schwer auszuhalten, wenn all so was über einen Menschen ausgekübelt wird, den man geliebt hat und der sich nicht mehr wehren kann. Am Anfang bin ich gar nicht mehr aus dem Haus gegangen, ich hab’s einfach nicht geschafft. In allen Menschen, denen ich auf der Straße begegnet bin, hab ich nur eines dieser Arschlöcher gesehen, die meine tote Schwester so wüst beschimpften und beleidigten. Wenn ich mit jemandem geredet oder jemanden angelächelt habe, hatte ich das Gefühl, Mona zu verraten. Ich hätte ihnen am liebsten allen den Kopf abgerissen.«

Sie blickt wieder auf das Display ihres Handys. Es folgt ein langer, tiefer Seufzer.

»Da! Was hab ich dir gesagt?«

Sie hält Diego das Handy hin.

Schwarze_Sonne

Dieses Mädchen sollte sich was schämen! Den Mörder ihrer Schwester verteidigen! Was sie tut, ist widerwärtig.

Sie hat ihre Schwester ein zweites Mal getötet.

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Diego verzichtet darauf, die weiteren Kommentare zu lesen. Er hat plötzlich einen unerträglich bitteren Geschmack im Mund.

»Du musst jetzt nach Hause fahren«, sagt er langsam.

Er wartet auf eine Antwort von Vic, die aber nicht kommt. Mit dem Daumen scrollt sie sich durch die Nachrichten auf ihrem Display.

»Hör auf, das alles zu lesen, Vic. Das tut dir doch nur weh. Total sinnlos und überflüssig. Das sind alles Irre. Durchgeknallte Arschlöcher, die überhaupt nichts begriffen haben.«

Sie macht weiter, als ob sie ihn nicht hören würde.

Auf der Straße fahren die Autos an ihnen vorbei. Niemand scheint sie zu bemerken, keiner fragt sich, warum sie da am Seitenstreifen stehen. Als wären sie in einer Blase, die sie unsichtbar macht. Diego zögert einen Moment, ob er darauf beharren soll, dass Vic jetzt sofort zu ihren Eltern fährt. Das wachsende Einverständnis zwischen ihnen gibt ihm Kraft, aber seine Vernunft ist stärker.

»Du musst zurück zu deinen Eltern und deinem Bruder. Wenn du bei mir bleibst, geht das für dich nicht gut aus.«

»Und für dich wird es sehr schnell sehr schlecht ausgehen, wenn wir jetzt nichts unternehmen.«

Diego sieht sie fragend an. Sie schaut ihm direkt in die Augen.

»Die Jagd auf dich wird von denen jetzt genau geplant!«, ruft sie und hält ihm das Handy hin. »Die Lynchjäger geben ihre Positionen durch, um sich über die ganze Stadt und die Umgebung zu verteilen. Sie wollen überall einsatzfähig sein, sobald dein Standort mitgeteilt wird. In weniger als einer Minute wollen sie sich auf dich stürzen können, egal wo du dich aufhältst.«