Gwildors Held
Tom lenkte Storm auf dem gleichen Weg zurück, den sie gekommen waren.
„Wieso reiten wir zurück?“, fragte Elenna. „Sollten wir nicht einen Blick auf die Karte werfen?“
„Wir müssen den Ladenbesitzer noch für den Spiegel bezahlen“, erinnerte Tom Elenna. Er brachte seinen Hengst am Rande der Stadt zum Stehen und band ihn an einem Pfosten fest. Silver ließ sich neben Storm nieder und legte den Kopf auf die Vorderpfoten.
Elenna lachte. „Du hast schon recht“, sagte sie zu ihrem Wolf. „Ruh dich aus, solange es noch geht.“ Tom und sie liefen zu dem Gemischtwarenladen, in dem Tom das letzte Schatzstück gefunden hatte. Mit dem Spiegel hatte er gegen Paragor, den Teufelswurm, gekämpft. Der kleine Spiegel war mit Diamanten verziert und steckte mit den anderen magischen Gegenständen in seinem Lederbeutel – mit der Perle, dem Ring, den Handschuhen und der Waage.
„Wie willst du dem Ladenbesitzer erklären, dass du den Spiegel nicht zurückgeben kannst?“, fragte Elenna. „Was, wenn er Storm behalten will?“
„Wenn er den Diamanten aus der Mine sieht, wird er alles andere vergessen“, beruhigte Tom sie. Tom hatte Storm als Pfand bei dem Ladenbesitzer lassen müssen, da er kein Geld besaß. Doch nun wollte er seine Schulden begleichen. Er klopfte auf seine Tasche und versicherte sich, dass der Edelstein noch da war.
Elenna drehte sich zu ein paar Leuten um, die an einer Straßenecke standen und Tom und sie beobachteten. Ihre Münder standen staunend offen. Ein Mann deutete mit zitterndem Finger auf sie und flüsterte seinem Nachbarn etwas zu.
„Warum starren uns alle an?“, wisperte Elenna. „Das letzte Mal, als wir hier waren, hat uns niemand beachtet.“
„Ich weiß es nicht“, antwortete Tom. Er sah eine Frau an einem Fenster, die sie ebenfalls anstarrte.
„Er ist es!“, rief sie. „Er ist es wirklich!“ Ihr Kopf verschwand und das Fenster schlug zu. Einen Moment später kam sie aus der Haustür gestürmt. Drei Kinder folgten ihr jubelnd.
Die Frau packte Tom an den Armen und blickte ihm ins Gesicht. Ihre Augen huschten über seine Gesichtszüge. Vorsichtig machte sich Tom aus dem Griff der Frau los.
„Ich glaube, Sie verwechseln mich mit jemandem“, sagte er. Er ging schnell weiter und blickte irritiert über die Schulter zurück. Noch mehr Menschen waren auf die Straße gekommen und starrten ihn an.
„Komm“, sagte Elenna und rannte los in Richtung Laden. Tom spürte, dass die Leute nicht böse waren, aber er folgte seiner Freundin trotzdem.
„Je schneller wir diese Mission hinter uns bringen, desto besser“, murmelte er.
Ein helles Glöckchen bimmelte über ihren Köpfen, als Tom und Elenna das Geschäft betraten. Überall standen und lagen unzählige Sachen herum. Wie bei ihrem letzten Besuch saß der Ladenbesitzer auf einem kleinen Hocker. In den Händen hielt er ein in Leder gebundenes Buch. Als der alte Mann Tom und Elenna erblickte, stand er eilig auf und humpelte auf sie zu. Auf seinem Gesicht breitete sich ein freundliches Grinsen aus.
„Willkommen! Willkommen!“, rief er. Er wischte über eine Sitzbank und klopfte einladend darauf. Zögernd setzten sie sich.
„Es ist mir eine große Ehre, euch in meinem bescheidenen Laden willkommen zu heißen“, sagte der Ladenbesitzer. „Ich hatte schon Angst, dass ihr nicht zurückkehren würdet.“
„Es tut mir leid, dass mein Pferd ausgebüxt ist“, meinte Tom. „Aber ich habe etwas für Sie. Etwas Wertvolles.“ Er zog den Diamanten aus der Tasche. Er war fast so groß wie seine Faust und glitzerte strahlend hell. Tom wartete auf die Antwort des alten Mannes, aber der schob Toms Hand ungeduldig zur Seite und hob stattdessen das Buch hoch.
„Seht, was ich gefunden habe. Das seid ihr, nicht wahr?“, fragte er und öffnete das Buch.
Tom betrachtete die vergilbte Seite. Das Buch war sehr alt und die Schrift verschmiert und unleserlich. Aber Tom konnte ein Bild erkennen: zwei Reisende, ein Mädchen und ein Junge. Das Mädchen hatte dunkles kurzes Haar. Der Junge hielt in der linken Hand ein Schwert und trug einen mit Juwelen besetzten Gürtel.
„Tom … das sind wir“, wisperte Elenna entgeistert und starrte auf die aufgeschlagene Seite. Tom nahm dem alten Mann schweigend das Buch aus der Hand und ging damit zum Fenster. Er hielt es ins Licht und betrachtete das Bild genauer. Im Hintergrund war ein Pferd zu sehen und … war das ein Wolf? Storm und Silver?
Tom schüttelte ungläubig den Kopf. Es war schon das zweite Mal, dass er in Gwildor ein Bild von einem Jungen sah, der ihm zum Verwechseln ähnelte. In einem Bauerndorf hatte ihm eine alte Frau ein Gemälde mit diesem Jungen darauf gezeigt.
Die Frau war ganz aufgeregt gewesen und hatte ihn bei einem seltsamen Namen genannt: „Sohn Gwildors“.
Der Ladenbesitzer starrte Tom aus weit aufgerissenen Augen an.
Tom schüttelte bestimmt den Kopf, um die Bedenken zu vertreiben, und gab ihm das Buch zurück. Er legte dem alten Mann den Diamanten in die freie Hand. „Ich bin nicht …“, begann Tom. Aber dann begriff er, dass er es doch war. „Ich bin es“, dachte er. „Ich bin ein Sohn Gwildors.“ Wenn Gwildor Freyas Königreich und sie seine Mutter war, dann war es die Wahrheit: Der Junge auf dem Gemälde und in dem Buch war er, Tom.
Er ging zur Ladentür und öffnete sie. An der frischen Luft zu sein tat ihm gut. Eine Menschenmenge hatte sich gegenüber versammelt. Tom rannte an den Leuten vorbei die Straße entlang zu Storm und Silver. Als er Storm losband, holte Elenna ihn ein.
„Tut mir leid“, sagte Tom. „Aber ich musste da weg.“
„Du musst mir nichts erklären“, erwiderte seine Freundin und stieg hinter ihm auf Storms Rücken. Tom lenkte seinen treuen Hengst weg von der Stadt und ihren neugierigen Bewohnern. Vor ihnen lag das Königreich Gwildor. Er musste es vor Velmal retten, denn er war durch sein Blut mit den Menschen hier verbunden.
„Sie sind ein Teil von mir“, dachte er. „Und ich bin ein Teil von ihnen.“
Keine Mission war bisher so wichtig gewesen und er hatte das Gefühl, dass das nächste Biest das schrecklichste von allen sein würde.